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Babyboomer gehen in Rente: Sozialversicherungsbeiträge steigen drastisch

Ohne Reformen würden die Beitragssätze zur Sozialversicherung in Deutschland demnach von heute 39,8 Prozent der beitragspflichtigen Einkommen auf 47,9 Prozent im Jahr 2035 steigen. Kommen derzeit in etwa 35 Ruheständler auf 100 Erwerbstätige, werden es dann bereits 48 sein. Dadurch droht laut Analyse auch ein Teufelskreis aus Arbeitslosigkeit und sinkenden Einnahmen für Sozialversicherungen und Staat. Grund sind die steigenden Abgaben.

Nach den Simulationsberechnungen des Bochumer Sozialpolitikexperten Martin Werding dürften höhere Abgaben zu steigenden Bruttolöhnen führen und die Arbeitskosten insgesamt erhöhen. Das wiederum birgt das Risiko, dass sich die Nachfrage nach Arbeitskräften trotz des zunehmenden Fachkräftemangels verringert und die Arbeitslosigkeit zunimmt. Demnach dürfte die Arbeitslosenquote binnen 15 Jahren auf acht Prozent steigen, aktuell sind es etwas mehr als fünf Prozent.

Die Folge wären sinkende Einnahmen für die Sozialversicherungen und negative Auswirkungen auf die öffentlichen Haushalte. Laut Analyse wäre dann auch an eine Verringerung der jüngst im Kampf gegen die Corona-Pandemie stark angestiegenen Staatsverschuldung nicht zu denken. Von heute 66,7 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts (BIP) dürfte sie bis 2035 auf voraussichtlich 71,5 Prozent steigen.

Bertelsmann-Wirtschaftsexperte Andreas Esche warnte angesichts der Ergebnisse der Untersuchung vor einer „gefährlichen Belastungsprobe für Staatsfinanzen und Sozialsysteme“ durch den demografischen Wandel. Erschwerend hinzu komme, dass die Veränderungen schleichend erfolgten und den Zeitdruck für notwendige Reformen „verschleiern“.

Abwenden ließe sich die Entwicklung nach Angaben der Stiftung nur durch ein Paket an breitgefächerten Reformen in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Dazu zählen die „Steigerung von Beschäftigung und Wachstum“ durch verstärkte Zuwanderung und schnellere Integration von Fachkräften aus dem Ausland sowie einen weiter erleichterter Zugang für Frauen zum Arbeitsmarkt. „Derzeit stecken Mütter zu oft in der Zweitverdienerinnenfalle, weil die Betreuungsmöglichkeiten für Kinder noch immer nicht ausreichen“, erklärte die Stiftung dazu.

Damit kombiniert werden sollte der Analyse zufolge unter anderem auch eine Anhebung des Renteneintrittsalters. Konkret empfiehlt die Stiftung, eine nach 2030 erwartete Steigerung der Lebenserwartung um ein Jahr aufzuteilen, wobei zwei Drittel des dadurch „gewonnenen Jahres“ der Arbeitszeit und ein Drittel dem Rentenbezug zugeschlagen werden sollten. Dadurch bliebe das Verhältnis insgesamt etwa gleich.

Zugleich ließe sich der Beitragssatz demnach bei etwa 24 Prozent stabilisieren, während das Rentenniveau bis nach 2060 bei über 45 Prozent gehalten werden könnte. Die Renten wären dabei laut Analyse bei „stabiler und positiver Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Produktivität“ absolut gesehen außerdem „deutlich höher“ als heute.

Dagegen sei der Status quo im deutschen Rentensystem, der das Rentenniveau bis 2025 auf mindestens 48 Prozent festlegt und den Beitragssatz zugleich bei maximal 20 Prozent deckelt, „nicht nachhaltig“. Bliebe diese Regelung dauerhaft in Kraft, müsste der Bund für massive Fehlbeträge in der gesetzlichen Rentenversicherung einstehen, erklärte die Stiftung. Bis 2035 wären dafür jährlich rund fünf Prozent des BIP oder knapp 181 Milliarden Euro einzuplanen.

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Diese deutschen Städte haben die jüngste Bevölkerung

Der Stadtkreis Heidelberg hat mit einem Durchschnittsalter von 40,7 Jahren die jüngste Bevölkerung in Deutschland. Das Durchschnittsalter der deutschen Bevölkerung lag im Vergleich dazu 2020 bei 44,6 Jahren, wie das Statistische Landesamt Baden-Württemberg am Dienstag in Stuttgart mitteilte.

Die thüringische Stadt Suhl habe mit 51 Jahren das höchste Durchschnittsalter. Die Statistischen Ämter des Bundes und der Länder haben die Daten auf dem Statistikportal „Stadt.Land.Zahl“ veröffentlicht, mit dem Kreise und kreisfreie Städte deutschlandweit verglichen werden können.

Auf Platz zwei der „jüngsten“ Städte liegen Freiburg und Offenbach mit einem Altersdurchschnitt von 40,8 Jahren. Es folgen Frankfurt am Main (40,9 Jahre), Cloppenburg und Darmstadt (jeweils 41,0 Jahre).

Es gebe mehr junge Städte im Süden und Westen Deutschlands, hieß es weiter. In den östlichen Bundesländern habe Leipzig mit einem Durchschnitt von 42,3 Jahren die jüngste Bevölkerung. Mit je 44,6 Jahren liegen der Enzkreis, Göppingen und Heidenheim genau im Bundesdurchschnitt.

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„Lage ist extrem angespannt“ – Zwei Millionen Deutsche gehen zur Tafel

Immer mehr Menschen kaufen gebrauchte Kleidung, nicht etwa aus Nachhaltigkeitsgründen, sondern weil sie keine andere Wahl haben: Das Geld ist zu knapp. Bei der Kleiderkammer in Mülheim an der Ruhr ist man bereits besorgt, ob die Winterkleidung reichen wird. Quelle: WELT / Viktoria Schulte

Immer mehr Menschen kaufen gebrauchte Kleidung, nicht etwa aus Nachhaltigkeitsgründen, sondern weil sie keine andere Wahl haben: Das Geld ist zu knapp. Bei der Kleiderkammer in Mülheim an der Ruhr ist man bereits besorgt, ob die Winterkleidung reichen wird. Quelle: WELT / Viktoria Schulte© WELT / Viktoria Schulte

Mehr als eine Million Menschen in Deutschland versorgen sich nach einer Umfrage auch an Tafeln mit Lebensmitteln. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) bezifferte die Zahl am Mittwoch auf knapp 1,1 Millionen und bezog sich auf eine Umfrage aus dem Jahr 2020.

Die Tafeln selbst gehen von deutlich höheren Zahlen aus. „Die Lage ist bei allen Tafeln extrem angespannt“, sagte eine Sprecherin des Dachverbands Tafel Deutschland. Der Dachverband geht inzwischen von deutlich mehr als zwei Millionen Kundinnen und Kunden, mehr als je zuvor. Hintergrund sind der Krieg in der Ukraine und steigende Preise. „Es kommen auch mehr Menschen, die einen Job haben.“

Die bundesweit rund 960 Tafeln verteilen an Bedürftige Lebensmittel, die nicht mehr verkauft werden können. Immer wieder aber schlugen lokale Verbände Alarm: Gleichzeitig werde die Versorgung schwierig, weil die Lebensmittelgeschäfte weniger Lebensmittel verschwenden, die sonst an die Tafeln gegangen wären. Beispiele sind Angebote mit „geretteten Lebensmitteln“ im Ladenregal. Sogar Zukäufe aus Spendenmitteln standen zuletzt im Raum, um die Bedürftigen zu unterstützen.

Das DIW hat die Teilnehmer seiner Umfrage-Serie Sozio-oekonomisches Panel 2020 gefragt, ob aus ihrem Haushalt im Vorjahr jemand bei einer Tafel war. Es kommt so auf knapp 1,1 Millionen Menschen, die von den Angeboten profitierten.

Leute, die es früher geschafft haben

„Natürlich wirkt sich auch die derzeit hohe Inflation auf die TafelbesucherInnen aus“, erklärte DIW-Forscher Markus Grabka zur aktuellen Lage. Hohe Energie-Vorauszahlungen führten auch Menschen mit nicht ganz geringem Einkommen in die Einrichtungen. Hinzu kämen viele Flüchtlinge aus der Ukraine.

Nach Angaben der Tafeln sind die Besucherzahlen seit Jahresbeginn bundesweit etwa um die Hälfte gestiegen. In Berlin, wo auch viele ukrainische Flüchtlinge zuerst eintreffen, sind es noch mehr. Anfang des Jahres kamen pro Monat noch etwa 40.000 Menschen zu den 47 Berliner Tafeln, nun sind es deutlich über 70.000, wie Leiterin Antje Trölsch sagte. Viele davon seien vor dem Krieg aus der Ukraine geflüchtet. Hinzu kämen Deutsche, die die starken Preissteigerungen nicht mehr verkraften. „Leute, die es vorher irgendwie geschafft haben, kommen jetzt auch zu uns.“

Drei Viertel der Menschen, die Tafeln 2019 nutzten, lebten von Grundsicherung, wie das DIW herausfand. Viele seien von Armut bedroht und gesundheitlich beeinträchtigt. Besonders häufig nutzen Alleinerziehende und Paare mit Kindern die Tafeln. Ein Viertel der Menschen, die von den Tafeln profitierten, seien Kinder.

„Wir schicken jede Woche Leute nach Hause“

Pro Monat und Kopf gaben Tafelnutzer laut DIW etwa 210 Euro für Lebensmittel aus – 30 Euro weniger als Nicht-Tafelbesucher. Gemessen am Nettoeinkommen war es jedoch nahezu doppelt so viel. Tafeln würden also vor allem genutzt, um unzureichendes Einkommen zu kompensieren, folgern die Forscher.

Und das Einkommen reiche wegen der steigenden Preise bei immer weniger Menschen, heißt es bei den Tafeln. „Wir schicken jede Woche Leute nach Hause“, berichtete kürzlich die Potsdamer Einrichtung angesichts des gestiegenen Andrangs. Bundesweit hat laut Dachverband bis zum Sommer jede dritte Tafel einen Aufnahmestopp eingeführt, weil Lebensmittel oder Helfer fehlten.

Berlin konnte eine Aufnahmestopp bislang verhindern. Dort sind zusätzliche Ausgabestellen eröffnet worden, wo Menschen sich Lebensmitteltüten abholen können.

Ehrenamtliche Helfer würden aber gebraucht. „Wir suchen immer Menschen, die uns unterstützen – beim Fahren der Touren, beim Tütenpacken und beim Verteilen“, sagte Trölsch.

Tafeln könnten staatliche Armutsbekämpfung nicht ersetzen, meint DIW-Forscher Jürgen Schupp. „Dass vor allem Familien Tafeln nutzen müssen, wirft kein gutes Licht auf die soziale Absicherung von Kindern“, so Schupp. „Die Ampelkoalition muss jetzt zügig die Kindergrundsicherung auf den Weg bringen.“

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„Das Bürgergeld sendet ein grundfalsches Signal“

Deutschland schlittert in eine Rezession – doch der Arbeitsmarkt bleibt Prognosen zufolge relativ stabil. Ökonom Holger Schäfer erklärt die Gründe und legt dar, warum er das neue Bürgergeld für kontraproduktiv hält und in welchem Dilemma Geringverdiener stecken.

Mit dem Bürgergeld will die Ampelkoalition zum 1. Januar 2023 das Hartz-IV-System ablösen. Das Bürgergeld soll dafür sorgen, dass Betroffene „ermutigt und befähigt werden“, so Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD). Die Opposition wirft der Regierung vor, falsche Signale zu senden. Quelle: WELT / Alina Quast

Mit dem Bürgergeld will die Ampelkoalition zum 1. Januar 2023 das Hartz-IV-System ablösen. Das Bürgergeld soll dafür sorgen, dass Betroffene „ermutigt und befähigt werden“, so Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD). Die Opposition wirft der Regierung vor, falsche Signale zu senden. Quelle: WELT / Alina Quast© WELT / Alina Quast

Bisherige Krisen gingen oft mit einer rasant steigenden Zahl an Arbeitslosen einher. Dieses Mal könnte es anders kommen – zumindest in Deutschland. Die eigentliche Ursache hierfür ist aber auch eines der größten Probleme für Arbeitsmarkt und Wirtschaft: der immer größer werdende Fachkräftemangel nämlich. Beinahe zwei Millionen Stellen sind derzeit offen, so viele wie noch nie.

Nach Berechnungen der Unternehmensberatung Boston Consulting Group kostet das jährlich 86 Milliarden Euro an verlorener Wirtschaftsleistung. Um gegenzusteuern, will die Ampel-Koalition das Einwanderungsrecht reformieren. Denn die Zahl der Fachkräfte, die aus dem Ausland gezielt in Jobs finden, liegt bislang weit unter Plan. Arbeitsmarktexperte Holger Schäfer vom Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) spricht im Interview mit WELT darüber, warum das Land sich dabei selbst ausbremst.

WELT: Herr Schäfer, ist es angesichts des riesigen Arbeitskräftemangels bald der Normalfall, dass manche Branchen unterbesetzt bleiben, der Service im Restaurant etwa?

Holger Schäfer: Ja, damit müssen wir uns leider anfreunden. Aber auch Behörden werden ihren Service einschränken, ihn teilweise nur an einzelnen Tagen anbieten. Diese Einschränkungen werden weiter zunehmen, weil die Menge an verfügbaren Arbeitskräften abnimmt. Momentan sieht es nicht so aus, als gelänge es, das zu kompensieren.

WELT: Also noch längere Wartezeiten und schleppendere Bürokratie als ohnehin schon.

Schäfer: Darauf kann man sich einstellen. Lange Wartezeiten sind einige ja schon gewohnt, etwa in Berlin. Es gibt aber ernstere Fälle. Handwerker beispielsweise werden noch schwieriger zu bekommen sein. Auch bei der ärztlichen Betreuung ist mit längeren Wartezeiten zu rechnen.

WELT: Steuert der öffentliche Dienst auf einen Kollaps zu?

Schäfer: Das ist auch eine Frage der Effizienz. Die Politik muss sich schon fragen: Ist jede Aufgabe, die dort erledigt werden soll, wirklich nötig oder verzichtbar? Die Personalaufstockung ist manchen Bereichen sinnvoll, etwa bei der Kinderbetreuung, Bildung oder der Polizei. Die Priorisierung von Aufgaben wird aber eine zentrale Frage sein.

WELT: Also braucht es besseres Management.

Schäfer: Ja, und nicht nur das. Die Politik muss genau prüfen, ob es nicht Abläufe gibt, die verzichtbar sind und damit Bürokratie abbauen. Eine Stadt muss sich beispielsweise gut überlegen, ob sie wirklich jemanden braucht, der das Heizpilzverbot kontrolliert.

WELT: Andererseits gibt es ja die Klagen, der öffentliche Dienst sei kaputtgespart worden in den vergangenen Jahren.

Schäfer: Das ist ein Märchen. Mancherorts gibt es sicherlich Mangel und Überlastung. Aber die Beschäftigung ist zehn Jahre lang gestiegen. Von Kaputtsparen kann keine Rede sein. Immer weitere Menschen einzustellen, kann jedenfalls nicht der einzige Weg sein.

WELT: Blicken wir auf die aktuelle Krise. Müsste nicht die Zahl der Arbeitslosen nach oben schnellen?

Schäfer: Das könnte man erwarten. Aber die Nachfrage der Betriebe nach Arbeitskräften ist relativ stabil. Sie sind bemüht, mit Blick auf die vielen Beschäftigten, die in den nächsten Jahren in Rente gehen, ihre Fachkräftebasis strategisch zu sichern. Keiner will sich jetzt leichtfertig von Beschäftigten trennen, mit Stellenabbau sind viele daher vorsichtig. Denn Firmen wissen genau: Es wird künftig immer schwieriger, neues Personal zu rekrutieren.

WELT: Vor der Energiekrise hieß es oft, Arbeitnehmer hätten wegen des großen Mangels eine riesige Auswahl und könnten sich das beste Angebot rauspicken. War das ein kurzlebiger Trend, der nun vorüber ist?

Schäfer: In der Krise gehen die Einstellungen üblicherweise zurück. Das war auch zu Beginn der Coronakrise so. Mit einer Verzögerung wird sich das in den Arbeitslosenzahlen bemerkbar machen. Die werden leicht ansteigen, aber eben nicht extrem. Ich rechne mit einem Zuwachs von 100.000 bis 200.000 Personen. Denn der Bestand der offenen Stellen ist so hoch, dass noch weiter eingestellt wird, dazu kommen die Renteneintritte. Bedingung für diese Entwicklung ist allerdings, dass keine Gasmangellage eintritt.

WELT: Und das Kurzarbeitergeld muss Teil der Rechnung sein.

Schäfer: Davon gehe ich aus, auch diese Zahlen werden steigen.

WELT: Die neue Chefin der Bundesagentur für Arbeit, Andrea Nahles, findet aber leere Kassen vor – gerade, weil das Kurzarbeitergeld so viele Milliarden gekostet hat.

Schäfer: Die Rücklage von über 20 Milliarden Euro, die es vor Corona gab, ist jedenfalls weg. Kommt eine neue Welle der Kurzarbeiter-Zahlen, stehen die Jobcenter vor einem Problem des zusätzlichen Workload. Alles, was die BA für andere Aufgaben ausgeben will oder muss, kann dann nur der Bund zusteuern.

WELT: Mit neuen Milliarden-Darlehen.

Schäfer: Ja, wobei die Politik eine Zusage geben sollte: Neue Defizite werden als Zuschuss zur Verfügung gestellt und nicht als Darlehen. Denn das würde dazu führen, dass die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung weiter steigen – was die Überwindung der Krise noch schwieriger macht.

WELT: Die Ampel will nun das Einwanderungsgesetz reformieren. Helfen „Chancenkarte“ und Co. wirklich, mehr ausländische Fachkräfte gezielt in Jobs zu bekommen?

Schäfer: Unser Zuwanderungsrecht ist schon sehr liberal. Wer eine Qualifikation auf dem Niveau einer Berufsausbildung hat, bekommt in vielen Fällen einen Aufenthaltstitel. Woran es mangelt, sind die Verfahren. Teilweise warten die Menschen ein Jahr oder länger auf ein Visum – das ist eine riesige Hürde. Auch die Berufsanerkennung läuft schleppend. Dass die Qualität geprüft wird, ist verständlich – schließlich sprechen wir ja von „Fachkräften“. Aber beides dauert zu lange. Und das wirkt nicht gerade attraktiv auf Talente. Deutschland konkurriert ja mit einer Reihe anderer Länder um sie.

WELT: Hohe Strompreise, hohe Steuern, die lahme Verwaltung. All das lockt sie nicht gerade an.

Schäfer: Ja, auch die deutsche Sprache ist relativ schwierig. Anglophone Länder sind da attraktiver. Und durch die angesprochenen Restriktionen machen wir es uns selbst schwer.

WELT: Die Konkurrenz läuft Deutschland den Rang ab?

Schäfer: Das hat sie schon längst. Deutschland läuft schon jetzt unter „ferner liefen“. Um attraktiver zu werden, müssen die Defizite beseitigt werden. Auch bei der Rekrutierung agieren wir kurzsichtig, indem beispielsweise die Zeitarbeit ausgeschlossen wird. Das ist Unsinn. Die Rekrutierung von Fachkräften ist die DNA dieser Branche, viele Unternehmen haben Büros im Ausland. Eine vergebene Chance.

WELT: Hubertus Heil, der Arbeitsminister, sagt, das öffnet die Tür für Ausbeutung. Die Menschen könnten in prekärer Beschäftigung landen.

Schäfer: Zeitarbeit ist keine prekäre Beschäftigung, es wird auch keiner ausgebeutet. Es handelt sich um reguläre Arbeitgeber, die Tarifabdeckung ist fast 100 Prozent. Für diese Unterstellung gibt es keinen Anlass.

WELT: Der Arbeitsmarkt steht zudem vor der Großreform des neuen Bürgergeldes. Derzeit kursieren einige Rechenbeispiele, wonach es sich kaum noch lohnt zu arbeiten, weil das, was netto übrigbleibt, quasi dem Bürgergeld plus Zuschüssen entspricht. Wo liegt die Grenze?

Schäfer: Grundsätzlich gilt: Wenn die Grundsicherung steigt, wie es der Fall sein wird, nimmt der Abstand ab – und damit der Anreiz, Arbeit anzunehmen. Das Gesetz stellt aber sicher, dass jeder, der arbeitet – egal, wie wenig er verdient – mehr hat, als derjenige, der nicht arbeitet. Das regelt im Sozialgesetzbuch der Erwerbsfreibetrag. Die andere Frage ist, ob das ausreicht, was man an zusätzlichem verfügbarem Einkommen hat im Verhältnis zu den zusätzlichen Stunden Arbeit, die dafür aufgewendet werden.

WELT: Durch die gestiegenen Energiekosten nähert sich das, was Netto übrigbleibt, bei vielen aber der Grenze des Bürgergeldes eben immer weiter an.

Schäfer: Ja, aber es wird nie gleich sein. Derjenige, der arbeitet, wird immer mehr Geld zur Verfügung haben. Nehmen wir ein Beispiel, bei dem die Heizkosten stark steigen. Wer arbeitet und Geringverdiener ist, hatte bisher keinen Anspruch auf Sozialleistungen. Durch die Kostenexplosion kann aber ein Anspruch entstehen, beispielsweise auf Wohngeld oder ergänzendes Arbeitslosengeld II. Das Gesetz stellt also sicher, dass ein gewisser Abstand immer gewahrt ist. Ob der groß genug ist, dahinter kann man ein Fragezeichen setzen.

WELT: Aber es kann Fälle geben, in denen es sich „mehr lohnt“ nicht zu arbeiten, anstatt zu arbeiten?

Schäfer: Ja, aber nur, wenn die ergänzende Sozialleistung nicht beantragt wird. Darum muss sich jeder selbst kümmern. Eine gewisse Hemmschwelle ist sicherlich dabei, wenn man plötzlich als Vollzeit-Beschäftigter im Jobcenter Hilfe beantragen muss. Theoretisch führt das dazu, dass einige den Anspruch hätten, ihn aber gar nicht wahrnehmen – und dann weniger haben als mit Bürgergeld.

WELT: Wie viel mehr sind durch Zuschüsse drin?

Schäfer: Der Erwerbsfreibetrag beträgt im neuen Bürgergeld im Höchstfall 348 Euro. Das ist das, was jemand im besten Falle mehr verdient, wenn er arbeiten geht.

WELT: Sie halten das Bürgergeld für kontraproduktiv.

Schäfer: Ja, aber aus anderen Gründen. Die Vertrauenszeit bei den Sanktionen ist mein Hauptkritikpunkt. Das widerspricht allem, was wir über die Integration in Arbeit wissen. Die Sanktionen werden nicht komplett abgeschafft, aber doch stark abgeschliffen. Da ist die Balance gestört. Es gibt viele Studien, die belegen, dass Sanktionen wirken. Sie haben auch Nebenwirkungen, ganz klar. Aber der Integrationseffekt ist da. Der wird nun verschenkt, gerade in den ersten sechs Monaten. Das Bürgergeld sendet durch die Karenzzeiten das falsche Signal, auch bei der Anrechnung des Vermögens und den Kosten der Unterkunft.

WELT: Welches Signal wird denn ausgesendet?

Schäfer: Dass diejenigen, die neu in den Bezug kommen, sich erstmals Zeit lassen können. Sie können sich im System in aller Ruhe einrichten und es wird nicht viel verlangt. Das ist aber falsch. Denn oft geht es um Menschen, die schon lange arbeitslos sind. Bei ihnen kommt es auf jeden Tag an, der außerhalb des Arbeitsmarktes verbracht wird. Je länger man in Arbeitslosigkeit verbringt, desto mehr erodieren die Fähigkeiten, im schlimmsten Fall auch die sozialen. Etwa morgens aufzustehen und pünktlich zur Arbeit zu kommen. Das Signal „lasst euch erstmal Zeit“, halte ich daher für grundfalsch.

WELT: Eine Studie des Vereins „Sanktionsfrei“ hingegen sagt aus, Sanktionen würden kontraproduktiv wirken.

Schäfer: Die Ergebnisse stehen im eklatanten Widerspruch zu allen anderen Studien in Deutschland und international. Auch die Bundesagentur für Arbeit sagt aus Erfahrung dasselbe.

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Ist das Bürgergeld ungerecht?

 

Ist das Bürgergeld ungerecht?

Ist das Bürgergeld ungerecht?© Bereitgestellt von SZ - Sächsische Zeitung

Ist das Bürgergeld ungerecht?

Die Ampel-Koalition ist sauer – aber diesmal auf die Union. CDU und CSU wollen die Koalition zu Änderungen an der für den 1. Januar 2023 geplanten Hartz-IV-Reform zwingen. Sonst, so drohen sie, blockieren sie die Einführung des Bürgergelds im Bundesrat. Das Bürgergeld gilt als Herzensprojekt der Sozialdemokraten, die damit das Hartz-Trauma aus den frühen 2000er-Jahren hinter sich lassen wollen. Für die Union also Gelegenheit, sich als Anti-Ampel zu inszenieren. Doch was ist dran an der Bürgergeld-Kritik? Ein Überblick.

Arbeit soll sich lohnen: Was unter dem Namen Lohnabstandsgebot bekannt ist, bedeutet, dass Menschen, die arbeiten, mehr Geld zur Verfügung haben sollen als jene, die das nicht tun. Seit Jahrzehnten gilt dieses Prinzip in der deutschen Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. Mit Einführung des Bürgergelds sollen die Regelsätze steigen: Alleinstehende bekämen pro Monat 502 Euro, gut 50 Euro mehr als mit Arbeitslosengeld II. Die Übernahme von Wohn- und Heizkosten kommt dazu. Stehen sie damit besser da als Berufstätige?

Diese Frage stellt sich nur im Mindestlohnbereich, genau dieser Vergleich wird oft herangezogen. Für zu kurz gedacht hält das Holger Schäfer, Arbeitsmarktökonom beim Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. „Menschen mit so niedrigen Löhnen haben in aller Regel Anspruch auf zusätzliche Leistungen, etwa Wohngeld, Kinderzuschlag oder ergänzendes Bürgergeld. Bezieht man dies in die Berechnung ein, ist ein Lohnabstand gegeben, auch wenn er gegebenenfalls gering ausfällt.“

Zudem weist er darauf hin, der Gesetzgeber habe im Grunde keine Alternative zum Anheben der Regelsätze. Arbeitslosengeld II oder künftig Bürgergeld solle das Existenzminimum sichern. Steigt die Inflation, müssen auch die Sätze rauf. „Der Gesetzgeber kann den Bedürftigen schließlich nicht sagen: Da habt ihr jetzt Pech gehabt“, sagt Schäfer.

Peter Haan, Leiter der Abteilung Staat beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, sieht ein Problem vor allem bei den Zuverdienstmöglichkeiten. Wer aufstockt, darf beim Bürgergeld etwas mehr vom Verdienst behalten als beim Arbeitslosengeld II, der Unterschied ist aber überschaubar. „Da hätte es eine echte Reform geben sollen“, sagt Haan, „denn genau in diesem Bereich entsteht ein echter Anreiz zur Arbeitsaufnahme.“

„Bei Geringverdienern kann es sein, dass sie in einen Bereich reinrutschen, der dem Bürgergeld gleichkommt“, sagt Bettina Kohlrausch, wissenschaftliche Direktorin beim gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung. „Das heißt dann aber, dass sie zu einem Lohn arbeiten, der sie nicht vor Armut schützt.“ Ihr Urteil ist einhellig: Eine Verletzung des Lohnabstandsgebots sei nicht kritikwürdig.

IW-Ökonom Schäfer hält das Zurückfahren der Sanktionsmöglichkeiten für den problematischsten Punkt im Gesetzentwurf. Zu Beginn soll es eine sechsmonatige Vertrauenszeit geben, in der beispielsweise die Weigerung, an einer Fortbildung teilzunehmen, nicht sanktioniert werden kann. „Das ist noch kein bedingungsloses Grundeinkommen“, sagt Schäfer: „Aber eine bedingungsarme Grundsicherung.“ Die Arbeitsmarktforschung belege eindeutig, dass Sanktionen eine Wirkung haben – sowohl als Abschreckung als auch, wenn sie tatsächlich verhängt werden. „Weniger Sanktionen werden bedeuten, dass es weniger Übergänge vom Leistungsbezug in die Erwerbstätigkeit geben wird“, so Schäfer. Das Signal an die Leistungsbezieher: „Lasst euch Zeit.“ Das sei „grundfalsch“.

Anders sieht das DIW-Experte Haan. Sanktionen könnten dazu führen, dass Menschen schlecht bezahlte Jobs annehmen, in denen sie nicht lange bleiben. Sozialmissbrauch lasse sich nie vollständig verhindern. Aus seiner Sicht überwiegen die Vorteile eines Verzichts auf Sanktionen. Ein solcher Schritt könne dazu beitragen, das Bürgergeld zu entstigmatisieren. „Im bisherigen Arbeitslosengeld II nehmen ungefähr 50 Prozent der Menschen ihren Anspruch überhaupt nicht wahr. Die Leute verhungern nicht, aber sie schränken sich extrem ein. Das hat einerseits damit zu tun, dass das System kompliziert ist, aber auch damit, dass Menschen sich stigmatisiert fühlen.“ Ähnlich sieht das Soziologin Kohlrausch: „Gerade jetzt angesichts des Fachkräftemangels sind die Jobcenter so vielfältig gefordert, dass es ein sehr sinnvoller Schritt ist, sie beim Thema Sanktionen von viel Aufwand zu entlasten – zumal diese stigmatisierend wirken.“

Wohneigentum, Autos, Ersparnisse für die Altersvorsorge: Sowohl in den ersten beiden Jahren des Leistungsbezugs als auch danach können Menschen, die Bürgergeld beziehen, Vermögen in einem Umfang behalten, den viele Menschen mit geringen Einkommen wohl nie erreichen werden. In den ersten beiden Jahren gibt es keine Obergrenze für die Wohnfläche. Danach gelten 140 Quadratmeter für Häuser und 130 Quadratmeter für Eigentumswohnungen als Obergrenze. Ab fünf Personen steigen die Grenzen nochmals. Ein Ehepaar, dessen Kind ausgezogen ist, könnte also in seiner 120-Quadratmeter-Wohnung bleiben. Das ist nach den noch geltenden Hartz-IV-Regeln anders.

Auch weiteres Vermögen wird geschont. Ersparnisse für die Altersvorsorge werden grundsätzlich nicht berücksichtigt, wenn es darum geht, ob Bürgergeld bezogen werden kann. Auch ein Auto pro erwerbsfähige Person in der Bedarfsgemeinschaft ist gestattet. Nur bei weiterem Vermögen kommt es darauf an, ob dieses die vorgesehenen Freigrenzen überschreitet.

In den ersten beiden Jahren sind 60.000 Euro für eine Person sowie 30.000 Euro für jede weitere Person einer Bedarfsgemeinschaft frei. Ein Elternpaar mit drei Kindern darf also 180.000 Euro auf dem Sparbuch haben und trotzdem Bürgergeld beziehen. Ab Jahr drei gilt eine Freigrenze von 15.000 Euro pro Person, wobei die Freibeträge innerhalb der Bedarfsgemeinschaft übertragen werden dürfen. Die fünf Personen zählende Familie dürfte also immer noch 60.000 Euro behalten – zusätzlich zu Autos, Wohneigentum und Altersvorsorge.

Der Gesetzentwurf der Ampel setzt auf Vertrauen: Vertrauen darin, dass die Angaben der Menschen, die Bürgergeld beantragen, schon stimmen werden. Zum Beispiel bei der Vermögensprüfung: Sie ist erst nach Ablauf von zwei Jahren vorgesehen. Bis dahin gilt laut Gesetzentwurf: „Es wird vermutet, dass kein erhebliches Vermögen vorhanden ist, wenn die Antragstellerin oder der Antragsteller dies im Antrag erklärt.“ Ähnlich ist es beim Wert eines Autos: „Die Angemessenheit wird vermutet, wenn die Antragstellerin oder der Antragsteller dies im Antrag erklärt.“ Eine Gerechtigkeitslücke, dafür aber auch einen großen Effizienzgewinn sieht DIW-Ökonom Haan bei den Freibeträgen. Er verweist darauf, wie aufwendig es ist, Vermögen zu berechnen und zu überprüfen. Für den Staat sei es unterm Strich besser, großzügige Freigrenzen zu setzen und so den Verwaltungsaufwand drastisch zu reduzieren. Die Anhebung der Schonvermögen sieht Ökonom Schäfer hingegen kritisch. „Schon im geltenden Recht sind die Schonvermögen zum Teil so hoch wie die Durchschnittsvermögen. Warum man da noch etwas drauflegt, verstehe ich nicht.“ Das Bürgergeld drohe daher für manche Menschen die Einladung zum vorgezogenen Ruhestand zu werden.

Geplant ist, dass in den ersten beiden Jahren des Bezugs die tatsächlich anfallenden Kosten für Wohnen und Heizung komplett übernommen werden. Das heißt: Es gibt trotz sehr hoher Energiepreise keinen Anreiz, weniger zu heizen. Das ist bei Hartz-IV anders: Die Heizkosten müssen angemessen sein, was im Einzelfall zu kompliziertem Streit führen kann. Auch die Größe einer Mietwohnung spielt zu Beginn keine Rolle. „Ich finde es schwierig, den Steuerzahlenden die größere Wohnung seines Nachbarn zahlen zu lassen, der vom Bürgergeld lebt. Das ist nicht nachvollziehbar und daher auch nicht vermittelbar“, sagt Schäfer.

DIW-Experte Haan dagegen sagt: Die Notwendigkeit, eine neue Wohnung zu suchen, binde enorm viele Ressourcen, etwa wenn Menschen ihren Kindern das soziale Umfeld erhalten möchten. „Es ist sinnvoller, wenn die Menschen in den ersten beiden Jahren den Kopf frei haben, um in den Arbeitsmarkt zurückzukehren“, sagt Haan.

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Analyse von Hugo Müller-Vogg - Beim Bürgergeld ignoriert unsere Regierung ein entscheidendes Detail

Politik ist, wie Bismarck schon sagte, die Kunst des Möglichen. Beim Bürgergeld versucht die Ampel-Koalition indes das Unmögliche: Sie will es gegen die CDU/CSU durchsetzen.

Union droht mit Blockade des Bürgergelds im Bundesrat picture alliance / dpa

Union droht mit Blockade des Bürgergelds im Bundesrat picture alliance / dpa© picture alliance / dpa

Jedoch bekommt die rot-grün-gelbe Regierung im Bundesrat ohne die Länder, in denen die Union mitregiert, keine Mehrheit zustande. Das sind immerhin acht von sechzehn Ländern.

Das Bürgergeld ist ein Prestigeprojekt von Arbeitsminister Hubertus Heil und seiner SPD. Vordergründig geht es darum, den Beziehern von Grundsicherung mehr Geld zukommen zu lassen. Im Kern geht es um etwas ganz anderes: Die SPD will endlich Schluss machen mit Hartz-IV und damit mit dem Grundsatz des Forderns und Förderns.

So soll vor allem im Verhältnis zu den DGB-Gewerkschaften, die Hartz-IV immer bekämpft haben, ein neues Kapitel aufgeschlagen werden. Auf dass die angebliche „Einheitsgewerkschaft“ sich noch klarer an die Seite der SPD stellt.

Zwischen den Ampel-Parteien und der Union ist eines unstrittig: Die Erhöhung der Bezüge zum 1. Januar um 12 Prozent. Ein Alleinstehender bekommt dann 502 (449) Euro im Monat, ein Paar 954 (853) Euro. Bei einer Familie mit zwei Kindern werden, je nach Alter, bis zu 768 (687) Euro zusätzlich fällig. Macht zusammen 1722 Euro.

Dazu übernimmt das Jobcenter die komplette Miete samt Nebenkosten plus die Kosten fürs Heizen. In Großstädten mit hohen Mieten kommen da schnell nochmals 1000 Euro zusammen.

Arbeitgeberpräsident Dugler: Bürgergeld droht Gesellschaft zu spalten

Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger sieht im geplanten Bürgergeld das Potenzial zur Spaltung der Gesellschaft: „Es kann nicht sein, dass ein Teil der Menschen, der morgens zur Arbeit geht, nur wenig mehr Geld zur Verfügung hat als jemand, der morgens nicht zur Arbeit geht.“

Die CDU/CSU ist dagegen bereit, diese Erhöhung mitzutragen. Zu Recht befürchtet die Opposition, eine Ablehnung dieser Erhöhung würde angesichts von Inflation und steigenden Energiepreisen als soziale Kälte ausgelegt.

Nicht mitmachen kann die Union bei der vorgesehenen sechsmonatigen Vertrauenszeit, wenn die Partei Ludwig Erhards ihren Anspruch als marktwirtschaftliche Kraft nicht völlig aufgeben will. Vertrauenszeit heißt: In dieser Zeit haben Bürgergeld-Empfänger so gut wie nicht mit Sanktionen zu rechnen, falls sie nicht bereit sind, angebotene Jobs anzunehmen.

Der Staat gibt Bürgergeld-Empfängern also einen Blanko-Scheck, „vertraut“ darauf, dass sie so schnell wie möglich wieder arbeiten wollen und deshalb aus ihrer Sicht auch weniger attraktive Jobs annehmen. Dabei wird unterstellt, der Mensch sei grundsätzlich „edel, hilfreich und gut“, was schön wäre, aber leider nicht so ist.

Wer erst einmal sechs Monate lang Geld bekommt, ohne sich ernsthaft um Arbeit bemühen zu müssen, der freundet sich schnell mit dem Gedanken an, der Staat erwarte von ihm gar keine Gegenleistung für die Unterstützung.

Sechs Monate Bürgergeld ohne Sanktionsmöglichkeiten ist „Grundeinkommen light“

SPD und Grüne werden hier kaum zu Abstrichen bereit sein. Denn sie wollen das einst von Rot-Grün eingeführte Prinzip des Forderns und Förderns durch „Fördern first“ ersetzen. Ohnehin liebäugeln viele Grüne und nicht wenige Sozialdemokraten mit einem bedingungslosen Grundeinkommen, das es jedem freistellt, ob er arbeiten möchte oder nicht. So gesehen ist das sechs Monate lang sanktionsfreie Bürgergeld ein „Grundeinkommen light“.

Ein Kompromiss ließe sich wohl beim sogenannten Schonvermögen finden. Nach geltendem Recht erwartet der Staat, dass Antragsteller für Hartz-IV-Leistungen zunächst ihre eigenen Reserven antasten, ehe sie Geld vom Amt bekommen. Dieses Geldvermögen durfte bisher maximal 10.000 Euro betragen (ohne Geld für die Altersvorsorge). Künftig soll eine vierköpfige Familie in den ersten zwei Jahren des Bürgergeldbezugs 150.000 Euro auf der hohen Kante haben dürfen, dazu ein Eigenheim, zwei Autos und weitere Ersparnisse fürs Alter.

Nun dürfte es eine sehr überschaubare Zahl von potentiellen Bürgergeldbeziehern geben, die über ein überdurchschnittlich hohes Vermögen verfügen, von hohen Erbschaften einmal abgesehen. Sechsstellige Vermögen dürfen eher in Clan-Familien vorzufinden sein, deren Mitglieder schon heute bisweilen in Luxuskarossen beim Amt vorfahren, um sich um ihre „Stütze“ zu kümmern.

Eine Lösung könnte sein, sich genauer anzuschauen, wie diese Vermögen zustande gekommen sind. In jedem Fall dürfte es auch Sozialdemokraten schwerfallen, den Finanziers des Sozialstaats, also den Arbeitnehmern, klarzumachen, warum so wohlhabende Familien auf Kosten der Allgemeinheit zwei Jahre vom Bürgergeld leben können.

Kompromiss im Vermittlungsausschuss würde Bürgergeld-Einführung verzögern

Auf Granit dürfte die Ampel bei der Union beim Thema Mieten stoßen. Bei Hartz-IV werden Miete und Heizkosten nur für Wohnungen bis zu einer bestimmten Größe übernommen. Beim Bürgergeld soll der Staat zwei Jahre lang alles bezahlen, ganz gleich, wie groß und wie gut ausgestattet die Wohnung ist.

Auch das geht in die Richtung Grundeinkommen, also einer staatlich garantierten Leistung unabhängig von der jeweiligen Lebensführung und Einstellung zur Arbeit. Da sind die Möglichkeiten zum Kompromiss beschränkt.

Es spricht alles dafür, dass das Bürgergeld im Bundesrat keine Mehrheit finden wird, weil die Landesregierungen unter Führung oder mit Beteiligung der Union sich enthalten werden. Dann geht die Sache in den Vermittlungsausschuss. Ein dort ausgehandelter Kompromiss müsste dann erneut von Bundestag und Bundesrat beschlossen werden. Das bedeutete: Das Bürgergeld könnte nicht, wie geplant, zum 1. Januar 2023 eingeführt werden. Das bedeutete gleichzeitig: Die derzeitigen Hartz-IV-Empfänger müssten weiterhin mit den niedrigeren Sätzen auskommen – trotz hoher Inflation.

Die naheliegende Lösung bestünde darin, die Anhebung der Regelsätze von den anderen Änderungen abzutrennen. CDU und CSU haben bereits angekündigt, dabei mitzumachen. Die Ampel und vor allem SPD und Grüne müssen jetzt klarstellen, was ihnen wichtiger: Das Durchsetzen eines links-grünen Prestigeprojekts oder von Januar an mehr Geld für die, die es besonders nötig haben.

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Abschied von Hartz IV: Vom Bürgergeld und dem Lohn der Arbeit

Der Bundestag stimmt über die wichtigste Sozialreform der Ampel ab, die Union geht auf die Barrikaden. Worum wird gestritten und was sagen betroffene Bürger dazu?

Wie die Bedingungen für Arbeitslose sich ändern sollen, darüber streiten Regierung und Union.

Wie die Bedingungen für Arbeitslose sich ändern sollen, darüber streiten Regierung und Union.© Hauke-Christian Dittrich/dpa

Vom Bürgergeld und dem Lohn der Arbeit

An diesem Donnerstag wird es im Bundestag hoch hergehen: Bundesregierung und Union streiten über das Bürgergeld, das Hartz IV zum 1. Januar ablösen soll. Im Raum stehen Fake-News-Vorwürfe und die Sorge, ob sich Arbeiten künftig überhaupt noch lohnt. Die wichtigsten Fragen und Antworten:

Wie unterscheidet sich das Bürgergeld von Hartz IV?

Mit dem Bürgergeld will der Staat ein freundlicheres Gesicht zeigen und Ersparnisse stärker schonen. Insbesondere die Kanzlerpartei SPD will so das Erbe der Agenda 2010 hinter sich lassen, das ihr nach Ansicht weiter Teile der Partei geschadet hat. Im Vergleich zu Hartz IV soll es für die Leistungsbezieher künftig mehr Geld geben, der Regelsatz soll von 449 auf 502 Euro steigen, also um etwa elf Prozent.

In der sogenannten Karenzzeit, den ersten zwei Jahren, in denen man Bürgergeld bezieht, übernimmt der Staat die Kaltmiete oder Raten für das Eigenheim künftig in unbegrenzter Höhe sowie grundsätzlich auch die Heizkosten. Wer ins Bürgergeld rutscht, wird dann zumindest anfangs nicht mehr zu einem Umzug gezwungen, egal wie groß und teuer die Wohnung ist. Die Idee dahinter: Die Menschen sollen sich auf ihre Jobsuche konzentrieren können, statt sich mit der Wohnungssuche herumzuschlagen.

Außerdem dürfen Bürgergeldempfänger deutlich mehr Vermögen behalten: In der Karenzzeit sind es 60 000 Euro, für jede weitere Person im Haushalt sind 30 000 Euro erlaubt. Einen dritten Unterschied gibt es bei den Sanktionen. In den ersten sechs Monaten - der sogenannten Vertrauenszeit - kann Empfängern bis zu zehn Prozent des Bürgergelds gekürzt werden, etwa, wenn sie wiederholt Termine beim Jobcenter verpassen. Nach den sechs Monaten kann es dann zum Beispiel Kürzungen von 20 oder 30 Prozent geben, wenn jemand eine zumutbare Stelle nicht antritt. Die Sanktionsregeln bei Hartz IV sind schärfer.

Zudem will die Koalition Bürgergeldbeziehern häufiger eine Aus- oder Weiterbildung ermöglichen, statt die Menschen möglichst rasch auf Stellen zu vermitteln, die oft Aushilfsjobs sind. Für Fortbildung soll es einen monatlichen Bonus geben. Zudem sollen Bürgergeldbezieher mehr von dem Geld behalten dürfen, das sie sich dazuverdienen, etwa durch einen Minijob. Bisher müssen sie bis zu 80 Prozent von jedem zusätzlich verdienten Euro abgeben.

Was sind die Streitpunkte zwischen Ampel und Union?

CDU und CSU kritisieren vor allem die Karenzzeit und die Vertrauenszeit. Durch die Vertrauenszeit würden Menschen nicht mehr angemessen gefordert und sechs Monate lang zu sehr geschont, argumentieren Unionspolitiker. Durch die Karenzzeit würden zu hohe Vermögen zu lange nicht herangezogen, so der zweite Kritikpunkt. Damit würden Menschen mit niedrigem Einkommen Arbeitslose finanzieren, die mitunter über ein sechsstelliges Barvermögen verfügten - das sie nicht antasten müssten. Außerdem führt die Union ins Feld, dass sich Arbeiten im Bürgergeld nicht mehr lohne.

Hat man als Bürgergeld-Empfänger mehr als jemand, der arbeiten geht?

Das kommt darauf an. Berechnungen des DGB und auch von Wirtschaftsforschungsinstituten kommen zum Ergebnis: In der Regel hat man mehr, wenn man arbeitet. Die Rechenmodelle sind kompliziert, die Ergebnisse individuell, weil viele Elemente berücksichtigt werden müssen, etwa zusätzliche Leistungen für Kinder, das neue Wohngeld oder auch die Miete. Diese kann in München sehr viel höher sein als etwa in Görlitz. Gerade bei Eltern mit mehreren Kindern, sagen Fachleute, kann Arbeiten rein finanziell gesehen wenig attraktiv sein. Viele Menschen gingen aber trotzdem arbeiten, weil sie dadurch eine Aufgabe haben - auch jenseits der Familie.

Wie wahrscheinlich ist es, dass sich die Reform verzögert?

Derzeit sieht es sehr danach aus. Die Ampelkoalition und die Union haben sich in einem Streit zu den genannten Punkten verhakt. Die Fraktionen der Regierungsparteien im Bundestag haben an dem Gesetzentwurf von Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) bereits Änderungen vorgenommen und sind damit der Union entgegengekommen. So werden Heizkosten in der Karenzzeit zum Beispiel nicht mehr automatisch vom Jobcenter übernommen, sondern nur noch, wenn sie "angemessen" sind. Wer zu viel heizt, muss also Mehrkosten selbst tragen.

CDU und CSU reichen diese Änderungen jedoch nicht. Sie haben angekündigt, das Bürgergeldgesetz im Bundesrat abzulehnen und damit aufzuhalten, denn dort müssten auch Bundesländer zustimmen, in denen CDU oder CSU mitregieren. In diesem Fall müsste weiter verhandelt werden.

Die Ampelparteien werfen der Union vor, mit falschen Zahlen Fake News zu verbreiten. Stimmt das?

Die CSU hatte Beispielrechnungen unter Berufung auf Focus Online in sozialen Medien verbreitet, die offenbar irreführend sind. Demnach hätte eine Familie mit zwei Kindern und einem Alleinverdiener, der Vollzeit zum Mindestlohn arbeitet, 783 Euro weniger als die gleiche Familie, die Bürgergeld erhält.

Doch dabei sind wichtige Sozialleistungen für die Familie mit Arbeitseinkommen wie Kinderzuschuss und das Wohngeld nicht berücksichtigt. Das Wohngeld soll kräftig erhöht werden. Der Deutsche Gewerkschaftsbund erstellte eine Gegenrechnung, die solche Elemente berücksichtigt. Demnach hat die Familie mit Verdiener am Ende 731 Euro mehr in der Tasche als diejenigen im Bürgergeld.

Was sagen künftige Bürgergeld-Bezieher zu der Reform?

Zum Beispiel Thomas Wasilewski aus Mönchengladbach, 59 Jahre alt, wird künftig Bürgergeld erhalten. Wegen eines Herzleidens ist er berufsunfähig, die fünfköpfige Familie lebt von Hartz IV. "Der Streit zwischen Bundesregierung und Union lenkt vom Wesentlichen ab", sagt er. Die allermeisten Bezieher hätten wie er kein Schonvermögen und seien auch nicht von Sanktionen betroffen. "Das wesentliche Problem ist die Erhöhung um nur etwa 50 Euro", sagt Wasilewski. "Das ist einfach zu wenig."

Lebensmittel zum Beispiel seien nicht um zehn, sondern um bis zu 30 Prozent teurer geworden. Oder die Stromkosten: Die Sätze sähen für seine Familie 120 Euro monatlich dafür vor, sagt Wasilewski. Bis Anfang des Jahres habe das funktioniert. "Jetzt sparen wir monatlich ein Zehntel unseres Stromverbrauchs ein. Trotzdem zahlen wir 194 Euro - und müssen uns die Differenz vom Mund absparen." Er sieht es wie die Sozialverbände: Die fordern, der Regelsatz müsse um 200 Euro steigen.

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Analyse von Ulrich Reitz - Bürgergeld birgt aus zwei Gründen sozialen Sprengstoff für Deutschland

Aus Hartz Vier wird „Bürgergeld“. Es ist viel mehr als eine Sozialreform: die SPD befreit sich aus einem langjährigen Trauma. Es gibt zwei Gründe, weshalb diese Reform sozialen Sprengstoff hat.

Bundeskanzler Olaf Scholz mit Finanzminister Christian Lindner und Wirtschaftsminister Robert Habeck im Rahmen einer Kabinettssitzung. Michael Kappeler/dpa

Bundeskanzler Olaf Scholz mit Finanzminister Christian Lindner und Wirtschaftsminister Robert Habeck im Rahmen einer Kabinettssitzung. Michael Kappeler/dpa© Michael Kappeler/dpa

Der Arbeitsminister hat Recht: die Einführung des Bürgergelds ist die größte Reform des Sozialstaats seit 20 Jahren. Was Hubertus Heil nicht sagt: Hartz Vier wird abgeschafft, und das ist die größte Reform der SPD seit 20 Jahren. Preisfrage: Stiftet die Reform der Ampel-Koalition sozialen Frieden und ist sie sozialer Sprengstoff?

Zunächst: Vor 20 Jahren setzte die Bundesregierung unter dem Bundeskanzler Gerhard Schröder die Hartz-Kommission ein. Sie wurde benannt nach dem Arbeitsdirektor von VW, Peter Hartz. Auslöser dafür war nicht nur ein Vermittlungsskandal der Bundesanstalt für Arbeit, die, so lautete der Vorwurf, in großem Umfang angebliche Erfolge bei der Vermittlung von Arbeitslosen in Jobs gefälscht hatte.

Mindestens ebenso wichtig wie die Lage von Prekären am Arbeitsmarkt war die prekäre Lage der Bundesregierung: Die Sozialkassen waren damals leer, was im Auftrag von Schröder dessen Kanzleramtsminister Frank Walter Steinmeier in einem erschütternden Bericht den Kabinettsmitgliedern zu erzählen hatte. Und es herrschte Massenarbeitslosigkeit.

Das Bürgergeld ist sozialdemokratische Geschichtsbewältigung

Die Arbeitslosigkeit sollte nicht länger teuer, weil unwirksam verwaltet werden, sondern Arbeitslose sollten in Arbeit gebracht werden, zur Not mit Zwang. Für die SPD hatte dies fatale Folgen: In Deutschland konnte sich die Linkspartei etablieren, die SPD schrumpfte dauerhaft. Für sie entwickelte sich „Hartz Vier“ zum Partei-Trauma.

Was heute Morgen im Bundestag stattfand, war also nicht nur eine Sozialstaatsreform, sondern: sozialdemokratische Geschichtsbewältigung. Als erste hatte die damalige SPD-Vorsitzende Andrea Nahles das Hartz-System infrage gestellt. Das war vor vier Jahren. Nun hat die Ampel das System beerdigt. Aus dem hässlichen Hartz Vier wird das empathische „Bürgergeld“. Eine Drohung soll zur Verheißung werden. Ein Fall von sprachlichem „Red-Washing“, wenn man so will.

Deutschlands Lage hat sich geändert

Der Architekt 2002 war Peter Hartz, der Hartz-Manager war Wolfgang Clement, Schröder Superminister für Wirtschaft und Arbeit. Kurz vor seinem Tod wurde Clement gefragt, was er von einer derartigen Abschaffung der Hartz-Reformen halte. Er benötigte für seine Antwort nur ein Wort: „Verrückt“.

Allerdings: Die Lage in Deutschland hat sich grundlegend geändert. Denn erstens herrscht keine Massenarbeitslosigkeit mehr, sondern Arbeitskräftemangel. Es gibt 860000 offene Stellen, und der volkswirtschaftliche Verlust als Folge davon geht in die Milliarden. Und zweitens ist derzeit Geld offensichtlich nicht das drängendste Problem der Bundesregierung. Vor allem für die SPD war also die Zeit günstig, endlich ihr Trauma zu bewältigen.

FDP setzte Änderungen durch

Die Grünen waren seit Jahren der Meinung, das Hartz-System sei falsch. Die Liberalen waren es nicht, im Gegenteil – und tatsächlich hatte die Schröder-Reform doch die Arbeitslosigkeit stark verringert, sie galt deshalb auch international als Erfolg einer neuen Sozialpolitik.

Die FDP kann nun beim Bürgergeld mitmachen, weil sie das Prinzip durchsetzen konnte, dass, wer sich ausbilden lässt oder als junger Mensch bis 25 Jahre arbeitet, mehr von seinem Geld behalten darf. Bisher wird das, was junge Menschen aus Hartz-Vier-Familien verdienen, auf die Sozialleistung angerechnet. Dadurch bekommen die Jüngeren eine Perspektive in den Arbeitsmarkt hinein. Zur Erinnerung: Bei der jüngsten Bundestagswahl war die FDP der Shooting-Star bei den Jungwählern.

Wer wissen will, was die neue Perspektive mit den Jungen macht, sollte sich das Neun-Minuten-Video anschauen, dass der Bürgergeld-Sprecher der FDP, Jens Teutrine, gedreht hat. Alex, Zara und Ferhat erzählen dort ungeschminkt und ohne Sozialduselei ihre Geschichte, die auch eine von Integration und Chancen ist.

Förderung statt Forderung

Beim Bürgergeld gilt nun: Mehr fördern, weniger fordern. Das Vermögen von Langzeitarbeitslosen (wer länger als ein Jahr arbeitslos ist, gilt als langzeitarbeitslos) wird länger „geschont“, wer auf Bürgergeld angewiesen ist, soll auch nicht sofort aus einer Wohnung umziehen müssen, die eigentlich zu teuer ist, um „Stütze“ zu bekommen.

Als Opposition bemängelt die Union, so der langjährige Sozialpolitiker und Ex-Gesundheitsminister Hermann Gröhe aus dem katholischen Neuss, das „Schonvermögen“ könne bis zu 150000 Euro betragen.

Die SPD, so Arbeitsminister Heil, nennt derlei „Respekt vor Lebensleistung“. Die Union findet so etwas respektlos gegenüber Geringverdienern, die so gut wie nie auf ein derartiges Vermögen kommen könnten, welches Hilfe-Empfänger erst einmal behalten dürfen.

Linke spricht von „Hartz Fünf“

Gröhe zitiert einen sozialdemokratischen Landrat mit der Aussage, das Bürgergeld erleichtere den Weg in die Arbeitslosigkeit. Norbert Kleinwächter von der AfD kritisiert, jene Langzeitarbeitslosen, die sich nie hätten Weiterqualifizieren wollen, würden mit jenen gleichbehandelt, die es nicht könnten. Die Nicht-Wollenden nannte Norbert Kleinwächter „Couch-potatoes“ – Chips-futternde Sofasitzer.

Originell argumentiert im Bundestag die Linke. Sie hat jahrelang gut gelebt von der Sozial-Konkurrenz mit der SPD, personifiziert durch den langjährigen Vorsitzenden Oskar Lafontaine, der aus Protest über die „neue“ Schröder-SPD zur Linken gewechselt war, um von dort aus seine alte Partei zu quälen. Die Linke will darauf auch weiter nicht verzichten. Statt vom Bürgergeld spricht deren Fraktionschef Dietmar Bartsch von „Hartz Fünf“. Ob sich dieser Sprachgebrauch durchsetzen wird?

Bürgergeld birgt sozialen Sprengstoff

Nun zur Eingangsfrage: Ist das Bürgergeld eine soziale Wohltat oder sozialer Sprengstoff? An zwei Punkten kann es in der künftigen Debatte sogar gefährlich werden.

Erstens: Kein Mensch weiß, wie sich Geringverdienende verhalten werden, die jeden Tag zur Arbeit gehen, wenn sie ihr Einkommen vergleichen mit dem, was Bürgergeld-Empfänger bekommen. Denn der so genannte Lohnabstand sinkt. Die Antwort der SPD, heute im Plenum etwa von der Parteivorsitzenden Saskia Esken, gegeben: die Löhne müssten steigen, die Tarifbindung müsse zunehmen. Esken ignoriert einen feinen Unterschied: Bürgergeld kommt vom Staat, Löhne kommen aus der Wirtschaft.

Zweitens: Viele Langzeitarbeitslose – ob es „die Hälfte“ sind, wie die AfD behauptet, steht dahin – sind Geflüchtete. Bei Afghanen etwa sind es mehr als 40, bei Syrern mehr als 60 Prozent. Thematisiert wird das im Plenum ausschließlich von der AfD, kein Redner der Union kommt darauf zu sprechen. Hauptredner der Union ist Hermann Gröhe, einer der engsten Vertrauten von Ex-Kanzlerin Angela Merkel.

Bürgergeld für ukrainische Geflüchtete

Und: Zu den Profiteuren des im Vergleich zu Hartz Vier um 11,8 Prozent gestiegenen Bürgergelds gehören unmittelbar nach dessen Einführung, angepeilt wird der 1. Januar 2023, ukrainische Geflüchtete. Politisch ist dies gewollt. Nach einer europäischen Vereinbarung fallen vor dem russischen Angriffskrieg aus der Ukraine Geflohene nicht unter das Asylbewerberleistungsgesetz, auch müssen sie in kein Asylverfahren.

Der einzige Vertreter einer demokratischen Partei, der dies als Privilegierung infrage stellt, sitzt nicht im Deutschen Bundestag. Es handelt sich um einen Kommunalpolitiker. Den Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer.

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Das Bürgergeld ist ein Irrweg, die Ampel muss umkehren

„Sich regen bringt Segen.“ Mit diesem Satz sind wir aufgewachsen. Er ist nicht nur Kalenderspruch, sondern skizziert das Aufstiegsversprechen der Bundesrepublik Deutschland. Leistung lohnt sich. Wer sich anstrengt, dem stehen alle Wege offen. Wer sich engagiert, der wird bei Not von der Gemeinschaft aufgefangen. Leistungsgesellschaft und Sozialstaat gehen Hand in Hand.

Die Jobcenter müssen das Bürgergeld umsetzen Quelle: picture alliance / Fotostand

Die Jobcenter müssen das Bürgergeld umsetzen Quelle: picture alliance / Fotostand© picture alliance / Fotostand

Dieses Modell der sozialen Marktwirtschaft begründete eine einzigartige Erfolgsgeschichte – basierend auf dem Prinzip „Fördern und Fordern“. Es machte das deutsche Wirtschaftswunder möglich. Und ist bis heute prägend für die Arbeitsmarktpolitik. Genau dieser Grundsatz wird aber jetzt von der Ampel konterkariert. Aus Hartz IV wird das sogenannte „Bürger“-Geld.

Ohne Frage: Es gibt aktuellen Anpassungsbedarf. Angesichts explodierender Lebensmittelpreise sind die Regelsätze zu niedrig. Die Hinzuverdienstmöglichkeiten für Schüler, Auszubildende und Studierende reichen nicht mehr. Der Bedarf von Alleinerziehenden muss zielgenauer aufgefangen werden.

Aber hier geht es nicht um eine Reform des Sozialgesetzbuchs II. Sonst hätte die Ampel dem Antrag der Union auf Erhöhung der Regelsätze zugestimmt. Es geht um einen Paradigmenwechsel. Mit dem sogenannten „Bürger“-Geld wird der Einstieg ins bedingungslose Grundeinkommen eingeläutet. Wer nicht arbeitet, muss sein Vermögen nicht antasten. Und keine Sanktionen fürchten. Miet- und Heizkosten werden trotzdem übernommen. Damit verabschiedet sich die Ampel von der Idee des Förderns und Forderns.

Dabei hat genau diese Praxis die Massenarbeitslosigkeit in Deutschland beendet. Seit 2006 ist die Zahl der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten im SGB II um mehr als 1,5 Millionen gesunken. Davon profitierten Arbeitslose wie Betriebe. Die einen wurden aktiviert. Und fanden den Weg zurück in den Arbeitsmarkt. Die anderen fanden dringend benötigte Arbeitskräfte.

Der Arbeits- und Fachkräftebedarf ist seitdem noch größer geworden. Knapp zwei Millionen Stellen sind laut Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) unbesetzt. Für 40 Prozent der Familienunternehmen in Deutschland stellt dieser Mangel neben den Energiekosten das größte Problem dar. Jeder erlebt es vor Ort. Ladentheken sind nicht mehr besetzt. Cafés werden geschlossen, Produktionen gedrosselt, Dienstleistungen eingestellt.

Der Arbeits- und Fachkräftemangel wird zum Wohlstandsrisiko und Investitionshemmnis – nicht nur für den einzelnen Betrieb, sondern für den Standort Deutschland. Das sogenannte „Bürger“-Geld wird dieses Problem befeuern. Denn es macht reguläre Arbeit unattraktiver, schafft Mitnahmeeffekte und wird für den Steuerzahler teuer – so der Bundesrechnungshof. Er ist keine NGO oder Opposition, sondern eine oberste Bundesbehörde, die den Bund unabhängig kontrolliert.

Mit diesem vernichtenden Urteil steht der BRH nicht allein. Die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände warnt, dass die Brücken aus der Beschäftigung heraus verstärkt werden, statt Brücken in die Beschäftigung zu bauen. Und das in einer Zeit, in der die Demografie den Arbeitsmarkt ohnehin vor Riesenherausforderungen stellt. In der Anhörung zum Gesetz mahnten aber auch die Kommunen.

Aus kommunalpolitischer Sicht ergibt sich insbesondere ein Problem, dem die Scholz-Regierung fast keine Beachtung schenkt: Alle neuen Vorgaben und Ideen aus dem SPD-geführten Arbeits- und Sozialministerium müssen in der Praxis, in den Jobcentern, umgesetzt werden. Dort arbeiten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die ihr Bestes geben, um Menschen wieder eine berufliche Perspektive zu bieten. Sie müssen schon jetzt eine deutliche Mehrbelastung stemmen. Besonders herausfordernd sind dabei vor allem die Bewältigung der aktuellen Flüchtlingssituation und die Auswirkungen der Energiekrise.

Mit Recht warnen die Spitzenverbände, dass auf kommunaler Ebene am Limit gearbeitet wird. Denn neben der Bundesagentur für Arbeit organisieren bundesweit 104 zugelassene kommunale Träger die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende in den Jobcentern eigenverantwortlich.

Laut Bundesregierung kommen dafür allein 2023 Mehrausgaben auf Länder und Kommunen von 446 Millionen Euro zu. Ausgleich? Fehlanzeige. Die kommunale Seite wird von der Ampel ignoriert. Es muss Schluss damit sein, dass in Berlin hehre Pläne entwickelt werden, deren Umsetzung dann auf die Kommunen abgewälzt wird. Neue Aufgaben dürfen nicht ohne eine „Machbarkeitszusage“ der kommunalen Ebene erfolgen.

Vieles ist nicht zu Ende gedacht – auch beim Wohngeld. Schon heute brauchen manche Wohngeldstellen Monate für die Antragsbearbeitung, selbst für Abschlagszahlungen. Viele Bürgerinnen und Bürger werden so in die Job-Center getrieben, die dafür nicht gerüstet sind.

Die kommunalen Spitzenverbände schlagen Alarm – gemeinsam mit der Bundesagentur für Arbeit unter Leitung der früheren Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles. Aber ihr Nachfolger Hubertus Heil ignoriert das. Die Vergangenheitsbewältigung der Schröderschen Agenda-Politik hat Priorität. Erst die Partei, dann das Land und die Kommunen.

Das Bürgergeld ist ein arbeitsmarkt- und kommunalpolitischer Irrweg. Wenn Leistung sich auch zukünftig noch lohnen soll, muss die Ampel umkehren. Damit Deutschland ein Aufstiegsland bleibt.

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Inflationsprämie: So soll die Auszahlung funktionieren

Inflationsprämie: So soll die Auszahlung funktionieren

Die Bevölkerung soll durch eine angekündigte Inflationsprämie entlastet werden. Bis zu 3000 Euro könnten auf das Konto von Beschäftigten fließen – ohne Steuern.

Berlin – Bürgerinnen und Bürger in Deutschland werden aufgrund des Ukraine-Kriegs derzeit mit hohen und noch weiter steigenden Kosten konfrontiert. Ob für Strom, Gas oder Lebensmittel – die Preise bewegen sich auf einem Rekordniveau. Mit dem dritten Entlastungspaket will die Bundesregierung nun der Bevölkerung erneut entgegenkommen.

Neben einer Strompreisbremse, der Erhöhung des Kindergelds oder einer Einmalzahlung für Rentner:innen, können Unternehmen ihren Beschäftigten eine sogenannte Inflationsprämie zahlen. Dabei handelt es sich um eine steuer- und sozialabgabenfreie Einmalzahlung.

Entlastungen für Beschäftigte: Bis zu 3000 Euro Inflationsprämie

Die Prämie kann pro Arbeitnehmer bis zu 3000 Euro betragen, wie Kanzler Olaf Scholz (SPD) am Sonntag (4. September) bei einer Pressekonferenz mitteilte. Dies sei das Ergebnis einer Gesprächsrunde mit Gewerkschaften und Arbeitgeber:innen gewesen. Der Bund sei in diesem Fall bereit, „bei zusätzlichen Zahlungen der Unternehmen an ihre Beschäftigten einen Betrag von bis zu 3000 Euro von der Steuer und den Sozialversicherungsabgaben zu befreien.“ Aufgrund der kritischen Inflationslage in Deutschland könne eine solche Zahlung viele Bürgerinnen und Bürger enorm entlasten.

Die Auszahlung der Inflationsprämie kann seit dem 26. Oktober 2022 bis zum 31. Dezember 2024 erfolgen – auch gestückelt, teilt die Bundesregierung mit. „Unerheblich ist, ob der Arbeitnehmer in Voll- oder Teilzeit beschäftigt ist oder ob es sich um eine geringfügige Beschäftigung handelt“, sagt Daniela Karbe-Geßler vom Bund der Steuerzahler. Auch die Dauer des Arbeitsverhältnisses spielt keine Rolle. Eine erhaltene Inflationsprämie ist nicht in der Einkommensteuererklärung anzugeben. Sie bleibt somit immer steuerfrei und beeinflusst den Steuersatz nicht.

Inflationsprämie: So soll die Auszahlung funktionieren

Inflationsprämie: So soll die Auszahlung funktionieren© Bereitgestellt von FR

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Inflationsprämie für Beschäftigte: Auszahlung bis zum 31. Dezember 2024 möglich

Grundlage für die Inflationsprämie ist das „Gesetz zur temporären Senkung des Umsatzsteuersatzes auf Gaslieferungen über das Erdgasnetz“. Es wurde am 25. Oktober 2022 im Bundesgesetzblatt verkündet und tritt rückwirkend zum 1. Oktober 2022 in Kraft, teilt die Bundesregierung mit.

Die Voraussetzung für die Steuerbefreiung ist aber, dass die Prämie tatsächlich als Unterstützungsleistung zur Abmilderung der finanziellen Folgen durch die Inflation gezahlt wird. Entsprechend eindeutig muss die Lohnart in der Gehaltsabrechnung deklariert sein. Auch entsprechende Sachleistungen dürfen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erhalten, etwa Gutscheine fürs Tanken, Waren- und Essensgutscheine, berichtet die Tagesschau.

Diese Punkte wurden von den regierenden Parteien SPD, FDP und Grüne außerdem beschlossen:

  • Einmalzahlung für Studierende
  • Erhöhung des Wohngelds für Berechtigte
  • Anhebung der Grenze des Midi-Jobs
  • Einmalzahlung für Rentner:innen
  • Bundesweites Ticket im ÖPNV ab 2023

Inflationsprämie für Beschäftigte: Keine Pflicht für Unternehmen

So gut die Inflationsprämie auch klingt, ist dies lediglich ein Appell der Regierung an die Unternehmen. Das bedeutet, dass es, wie bereits bei der Corona-Prämie, keinen gesetzlichen Anspruch auf die steuerfreie Zahlung gibt. Ob und wie viel die Arbeitgeber:innen letztendlich zahlen, liegt bei ihnen.

Scholz selbst begrüße eine solche Extra-Zahlung und sagte, dass die Politik nun die Weichen dafür stellen wolle. „Wir werden alles dafür tun, dass es tatsächlich auch stattfinden kann.“ Ob nur bestimmte Beschäftigungsverhältnisse davon profitieren, ist nicht bekannt. Es ist möglich, dass neben Vollzeitangestellten sowohl Minijober:innen als auch Teilzeitkräfte die Inflationsprämie erhalten. Im Herbst bekommen alle Beschäftigte zunächst eine Energiepauschale in Höhe von 300 Euro ausgezahlt, die allerdings direkt versteuert wird.

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