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News zur Bundesregierung

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Kritik von Arbeitgebern und Gewerkschaften: „Ein Teil der Ampel schlafwandelt durch die Krise“

Uneinig: Finanzminister Lindner und Familienministerin Paus

Uneinig: Finanzminister Lindner und Familienministerin Paus© Picture Alliance

Vor der Kabinettsklausur auf Schloss Meseberg in Brandenburg haben Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände die Regierung zur Geschlossenheit aufgerufen. Das Treffen am Dienstag und Mittwoch biete die Chance für einen wirtschaftspolitischen Kurswechsel, sagte Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger der Nachrichtenagentur dpa. „Es muss jetzt im gesamten politischen Handeln die strategische Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes in den Mittelpunkt gestellt werden. Ein Teil der Ampel versteht das nicht - und schlafwandelt durch die Krise.“

Die Regierung drohe den wirtschaftspolitischen Neustart zu Beginn der zweiten Regierungshalbzeit zu verstolpern, sagte Dulger als Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). „Je länger die Politik wartet, desto härter trifft es den Standort - und desto größer ist der Wohlstandsverlust. Meseberg ist eine Chance für einen Kurswechsel.“ Deutschland sei in einer schwierigen Lage, Unternehmen müssten bei Lohnzusatzkosten und bei der Bürokratie entlastet werden.

Die Unternehmen und die „hart arbeitende Mitte“ der Bevölkerung müssten im Mittelpunkt der politischen Debatte stehen, sagte Dulger. „Stattdessen bekommen die Wähler erzählt, die Industrie sei schlecht für unsere Umwelt. Dass unser Wohlstand ebenso erwirtschaftet werden muss wie das Geld für soziale Wohltaten, wird oft verschwiegen. Da passt etwas nicht zusammen.“

„Die Ampel muss Probleme lösen, statt selbst eines zu sein“

„Es braucht mehr Zusammenhalt in der Ampel für mehr Zusammenhalt in der Gesellschaft“, sagte der Chef der IG Metall, Jörg Hofmann, dem „Tagesspiegel“. Meseberg müsse zum „Zeichen der Geschlossenheit“ werden.

Gesetzesvorhaben wie das Wachstumschancengesetz und die Kindergrundsicherung, wichtige Themen und auch Streitpunkte müssten „konstruktiv und ohne Lautstärke bearbeitet und abgearbeitet“ werden, forderte Hofmann. Schwerpunktthemen bei der Klausurtagung sind unter anderem die Wirtschaftslage, die Digitalisierung und die Verwaltungsmodernisierung.

Bundesfinanzminister Christian Lindner hält das Festhalten an der Schuldenbremse und einen Verzicht auf Steuererhöhungen für elementar für den Bestand der Ampel-Koalition. „Wenn wir gezwungen werden würden, die Schuldenbremse auszusetzen oder die Steuern zu erhöhen, dann würde sich die Koalitionsfrage stellen. Aber niemand tut das“, sagte der FDP-Chef am Sonntag im ZDF-„Sommerinterview“ in Berlin.

Auf die Frage, ob beide Punkte für ihn eine rote Linie seien, antwortet Lindner: „Das steht im Koalitionsvertrag. Und es wäre angesichts der wirtschaftlichen Entwicklung jetzt doch wirklich unklug, wir würden noch die Steuerlast erhöhen.“ Die Betriebe litten unter den hohen Energiepreisen, die müssten runter. Er selbst sei beispielsweise offen für eine Senkung der Stromsteuer. „Aber statt dass wir da Fortschritte machen, diskutieren wir über Steuererhöhungen. Das wäre mit der FDP nicht zu machen.“

Bekämpfung der Inflation als derzeit größte Gefahr

Er sagte aber mit Blick auf Steuererhöhungen und Schuldenbremse: „Niemand beabsichtigt das tatsächlich.“ Es gebe hier zwar öffentliche Äußerungen von SPD und Grünen. „Aber ich kann nicht erkennen, dass es ernsthafte Versuche gibt, hier von unseren Festlegungen im Koalitionsvertrag abzuweichen. Also insofern Theorie“, unterstrich der FDP-Vorsitzende.

Die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse sieht vor, dass die Haushalte von Bund und Ländern grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen sind. Es gibt allerdings einen Spielraum, der für den Bund höchstens 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts beträgt. Bei Naturkatastrophen oder andere Notsituationen kann die Schuldenbremse ausgesetzt werden, was 2020 und 2021 wegen der Corona-Pandemie geschehen ist.

Der richtige Weg sei für ihn die Bekämpfung der Inflation als derzeit größte Gefahr. Wenn die Europäische Zentralbank in diesem Zusammenhang die Zinsen anziehe, „wäre es töricht, ökonomisch falsch, wir würden mit Politik auf Pump dagegen Subventionen setzen“. Dies würde die Bekämpfung der Inflation verlängern und verteuern, „der Schaden wäre viel größer“.

„Wir werden rasch eine grundlegende Einigung haben“

Zugleich sprach sich der FDP-Chef für einen radikalen Verzicht auf immer mehr bürokratische Gesetze aus. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass, bevor die deutsche Wirtschaft Fahrt aufgenommen hat, wir noch irgendwelche zusätzlichen bürokratischen oder finanziellen Verpflichtungen beschließen“, sagte er. In diesem Zusammenhang gebe es „Teile des Koalitionsvertrages, die sind tatsächlich aus der Zeit gefallen“. Hier müssten „alle ein Einsehen haben, dass wir erst wieder wirtschaftlich gewissermaßen Traktion aufnehmen können, bevor es neue Belastungen geben kann“.

Zuletzt gab es vor allem Streit um die Finanzierung der Kindergrundsicherung. Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) hatte deshalb kürzlich ihr Veto gegen den Entwurf für das Wachstumschancengesetz von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) eingelegt. Lindner geht nach eigenen Angaben nun von einer schnellen Einigung im Streit über die Kindergrundsicherung aus. „Ich rechne damit, dass wir sehr kurzfristig eine Einigung über die Eckpunkte haben, was getan werden soll“, sagte der FDP-Chef.

Auf die Nachfrage der Moderatorin Shakuntala Banerjee, ob dies bis zur Kabinettsklausur an diesem Dienstag und Mittwoch geschehen werde, ergänzte Lindner: „Ich will jetzt nicht selber Termine nennen, sondern ich sage: sehr rasch. Aber danach gibt es ja auch sehr viel technisch, was noch geklärt werden muss.“ Dann würden Verbände und Länder beteiligt, und erst dann werde es einen fertigen Gesetzentwurf geben, der an den Bundestag gehe. „Wir werden rasch eine grundlegende Einigung und Verständigung auf die Eckpunkte haben. Das gesamte Verfahren wird noch etwas brauchen“, betonte der Finanzminister.

„Das Hickhack der vergangenen Monate muss nun endlich ein Ende haben. Die Ampel muss Probleme lösen, statt selbst eines zu sein“, sagte indes der Hauptgeschäftsführer des Verbands der Chemischen Industrie (VCI), Wolfgang Große Entrup, dem „Tagesspiegel“. Nötig sei eine aktive Industriepolitik, die Unternehmen am Standort Deutschland neue Zuversicht gebe. Dazu gehöre auch der Industriestrompreis.

Mit ähnlichen Forderungen kam der Maschinenverband VDMA. „Die wirtschaftlichen Herausforderungen sind zu bedeutend, um wichtige Reformen aufzuhalten oder im Stillstand zu verharren“, sagte Hauptgeschäftsführer Thilo Brodtmann. Mit Blick auf das Wachstumschancengesetz und das Bürokratieentlastungsgesetz forderte er, „dass die Koalitionäre ihrem eigenen Anspruch gerecht werden und den Fortschritt wagen“.

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Der Absturz ins Bodenlose

 

Die Ampel tagt in Schloss Meseberg und sucht nach Lösungen für ihre vielen Konflikte. Diese gehen vor allem zulasten einer Partei, deren Lage ausweglos ist.

Es gibt Leute, auf deren Urteil man etwas gibt, auf deren Kritik auch. Bei mir zählt Uwe Vorkötter zu dieser Gruppe. Der frühere Chefredakteur der "Stuttgarter Zeitung", der "Berliner Zeitung" und der "Frankfurter Rundschau" reagierte vergangene Woche mit Unverständnis bis Entsetzen auf meine Kolumne, in der ich angesichts des Desasters der Ampel und wegen der Unvereinbarkeit von Liberalen und Grünen für einen Regierungswechsel aus vollem Lauf und eine sofortige Große Koalition plädiert habe.

"Eine GroKo unter Scholz?", fragte Vorkötter bei LinkedIn. Und fügte hinzu: "OMG". Auf Deutsch: Um Gottes willen! Wie wär's, fuhr der politikerfahrene Kollege fort, "wenn die Liberalen demnächst das Weite suchten? Ein Kubicki-Papier mit unerfüllbaren wirtschaftspolitischen Forderungen – wie einst bei Lambsdorff? Könnte den Weg zu Neuwahlen freimachen. Und die FDP vor dem Absturz ins Bodenlose schützen."

Okay. Halten wir erstens fest: Vorkötter stimmt zu, dass es so nicht mehr weitergehen kann. Will aber keinen Olaf Scholz mehr als Regierungschef, dem er nicht ohne Grund offenbar eine Mitschuld bis Hauptverantwortung für die Misere in der Ampel zuspricht.

Und: okay, denken wir zweitens seinen Gedanken konsequent zu Ende.

Die FDP ist die Partei, die sich in dieser Koalition am meisten fehl am Platze fühlt und vom Kanzler im Zweifel im Stich gelassen wird gegenüber den Grünen, bei jedem Streit zwischen Grün und Gelb aufs Neue. Und das, obwohl Christian Lindner und seine Parteifreunde nicht zu Unrecht das Gefühl haben, dass Scholz eigentlich mehr ihren Positionen zuneigt.

Das stimmt zwar, bringt ihnen aber keinen Pfifferling, weil die SPD wiederum in ihrer Mehrheit Richtung Grün tendiert und Scholz das nicht ausblenden kann. Deshalb eiert der Kanzler und lässt die FDP wider eigene Überzeugung aus deren Sicht alleine. Was die FDP dann jeweils wie die Opposition in der Regierung aussehen lässt und obendrein ihre eigene Klientel enttäuscht, weil sie den Kürzesten zieht in dieser Koalition. Das ist mit dem Absturz ins Bodenlose gemeint.

Eine ähnliche Situation wie 1982

Die Anspielung auf das Lambsdorff-Papier bezieht sich auf eine ähnliche Situation wie 1982. Auch damals fühlten sich die Liberalen (in einem Zweierbündnis) mit der SPD unter einem Kanzler Helmut Schmidt nicht mehr wohl. Auch damals waren, wie jetzt, die Wirtschaftspolitik und die damit zusammenhängende Haushaltspolitik der Knackpunkt.

Daher schrieb der damalige Wirtschaftsminister und FDP-Parteichef Otto Graf Lambsdorff ein wirtschaftspolitisches Thesenpapier, das zur Scheidungsurkunde der sozialliberalen Koalition wurde. Über ein konstruktives Misstrauensvotum liefen die Liberalen in der laufenden Legislaturperiode zur Union über und stiegen in ein Kabinett unter Helmut Kohl ein. Der leitete über eine fingierte und verlorene Vertrauensfrage vorgezogene Neuwahlen ein, die Schwarz-Gelb durch ein Wählervotum bestätigte.

Christoph Schwennicke

ist Geschäftsführer der Verwertungsgesellschaft Corint Media. Er arbeitet seit mehr als 25 Jahren als politischer Journalist, unter anderem für die "Süddeutsche Zeitung" und den "Spiegel". Zuletzt war er Chefredakteur und Verleger des Politmagazins "Cicero". Ab 1. September wird er Mitglied der Chefredaktion von t-online und übernimmt die Leitung des Exklusivbereichs. Hierzu gehören das Hauptstadtbüro, die investigative Recherche, das Büro in Washington und Zeitgeschichte.

Soweit zu Vorkötters Vorlage. Jetzt zu den Punkten, an denen die Parallelen jäh enden und dieser Plan deshalb nicht aufgehen kann. Punkt eins: Beim Wechsel hin zur Union reichte es prozentual im Anschluss an das verlorene Misstrauensvotum von Schmidt sofort für eine neue Regierung aus Union und FDP. Das wäre jetzt nicht der Fall. Man müsste sich irgendwie und unmittelbar mit einer Vertrauensfrage zu vorgezogenen Neuwahlen hangeln.

Punkt zwei: Selbst unter den Umständen damals ginge die FDP bei diesem fliegenden Wechsel ein hohes Risiko ein. Wie valide die Gründe auch immer sein mögen: Der Verräter, in dem Fall der Aufkündiger einer Koalition, wird vom Wähler bestraft. Das war seinerzeit auch so, als die Liberalen nach dem Regierungswechsel in den Umfragen teilweise unter drei Prozent rutschten – bei weniger Konkurrenz an Parteien. Sie konnten nur mit Helmut Kohl weiterregieren nach 1983, weil sie sich in der Wählergunst bis dahin wieder berappelt hatten.

Sie liefen Gefahr, Schwarz-Grün herbeizuführen

Diesmal stünde die Stunde der Wahrheit bei Neuwahlen unmittelbar an – und ob die FDP dann als Helden dastünden und mit einem guten Ergebnis belohnt würden, ist mindestens offen. Ganz davon abgesehen, dass sie Gefahr liefen, Schwarz-Grün herbeizuführen, oder sich in einer Jamaika-Koalition abermals an der Seite der ungeliebten Grünen zu finden.

Allein das schon verbietet und verbaut der FDP den Weg von 1982. Dazu kommt, dass Parteichef Christian Lindner den dafür nötigen Joker schon eingesetzt hat, als er (Zitat: "Lieber nicht regieren, als falsch regieren“), nach den vorletzten Bundestagswahlen Jamaika bleiben ließ. Ein zweites Mal kann man diesen Schachzug politisch nicht bringen.

Was die FDP aus der Situation Anfang der Achtzigerjahre allerdings hätte lernen können: Sie hätte sich wie damals das Wirtschaftsministerium sichern müssen, dann gäbe es viele der Konflikte mit den Grünen und in Person mit Wirtschaftsminister Robert Habeck nicht.

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Wachstumschancengesetz: Regierung will Wirtschaft stärker entlasten als zuletzt geplant

Lisa Paus erhält trotz angespannter Haushaltslage mehr Geld für die Kinder – nun soll auch Christian Lindner ein größeres Paket für die Wirtschaft schnüren dürfen. Ökonomen halten das für richtig, aber »viel zu klein«.

Wachstumschancengesetz: Regierung will Wirtschaft stärker entlasten als zuletzt geplant

Wachstumschancengesetz: Regierung will Wirtschaft stärker entlasten als zuletzt geplant© Kay Nietfeld / dpa

Die Konjunktur in Deutschland schwächelt, die Stimmung der Unternehmen ist mies. Die Bundesregierung will nun mit zusätzlichen steuerlichen Anreize für neue Investitionen schaffen – und die sollen stärker ausfallen als bislang geplant. Das geht aus dem Zehn-Punkte-Papier zur Stärkung des Wirtschaftsstandorts Deutschland hervor, das auf der Kabinettsklausur am Dienstag in Meseberg beschlossen wurde.

Ein wesentlicher Punkt ist das geplante Wachstumschancengesetz, dessen jährliches Entlastungsvolumen auf 7,035 Milliarden Euro für den Zeitraum bis 2028 aufgestockt werden soll. Ursprünglich war das Entlastungsvolumen des Wachstumschancengesetzes aus Lindners Haus mit rund 6,6 Milliarden Euro beziffert worden. Der Gesetzentwurf soll am Mittwoch formell vom Kabinett beschlossen werden.

Die Erhöhung ist insofern bemerkenswert, als dass die grüne Bundesfamilienministerin Lisa Paus das Gesetz zunächst in seiner ursprünglichen Fassung blockiert hatte – um ihrerseits mehr Geld für die Kindergrundsicherung herauszuholen. Nun soll es trotz angespannter Haushaltslage also für beide Vorhaben etwas obendrauf geben.

Die beschlossenen Maßnahmen sollten »das Wachstum in Deutschland voranbringen, damit wir die Chancen, die wir haben, auch nutzen können«, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) sagte, die Konjunktur müsse »jetzt möglichst kurzfristig angeheizt werden, weil das Umfeld anspruchsvoll ist«.

Bundesfinanzminister Christian Lindner, der sich in der Koalition besonders für das Wachstumschancengesetz stark gemacht hat, zeigte sich ebenfalls zufrieden. Der FDP-Politiker sagte: »Wir nehmen ernst, dass Deutschland weniger dynamisch wächst als andere.« Die zweiwöchige Verzögerung durch Paus' Blockade sei genutzt worden, um das Gesetz »durch unterschiedliche Justierungen« noch besser zu machen, sagte er in Meseberg.

Neue Abschreibemöglichkeit für Wohngebäude

Konkret soll die steuerliche Anrechnung von Verlusten dem Papier zufolge noch einmal leicht ausgeweitet werden. So sollen künftig nicht mehr 60, sondern 80 Prozent der Verluste innerhalb von vier Jahren steuerlich absetzbar sein. Dies sei »in der Wirkung eine direkte Steuersatzsenkung für bestimmte Betriebe«, sagte Lindner.

Neu in das Gesetz aufgenommen wurde zudem die befristete Einführung einer degressiven Abschreibung für Wohngebäude. Sie soll für Gebäude gelten, mit deren Bau nach dem 30. September 2023 und vor dem 1. Oktober 2029 begonnen wird. Das Gesetz enthält noch zahlreiche weitere Entlastungen im Unternehmensbereich, darunter eine Investitionsprämie »zur Beförderung der Transformation der Wirtschaft in Richtung von insbesondere mehr Klimaschutz«.

Vizekanzler Habeck verwies darauf, dass die schlechte wirtschaftliche Lage ein Eingreifen der Politik erforderlich mache. Die Lage sei so, »dass man nicht sagen kann: Wirtschaft macht Wirtschaft, und die Politik hält sich raus«. Mit dem Wachstumspaket sollten »die Signale gesetzt werden, dass es sich lohnt, in diesem Land zu investieren«.

Ökonomen zufolge weist das von der Bundesregierung beschlossene sogenannte Wachstumschancengesetz in die richtige Richtung, reicht aber für einen kräftigen Konjunkturschub nicht aus. »Das neue Paket macht vieles richtig, es ist halt nur viel zu klein«, sagte ING-Chefvolkswirt Carsten Brzeski. Der Umfang von sieben Milliarden Euro sei »viel zu wenig« – vor allem im Vergleich zu den gerade erst vergebenen Milliarden-Subventionen für Chiphersteller wie Intel. »Eine Volkswirtschaft von knapp 4000 Milliarden Euro werde ich wohl kaum mit sieben Milliarden strukturell umbauen können.«

Ähnlich äußerte sich Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer. »Die berechtigten Sorgen der Unternehmen um den Wirtschaftsstandort Deutschland scheinen allmählich Gehör zu finden«, sagte er. Allerdings bleibe noch viel zu tun, um den Unternehmen und ihren Beschäftigten wieder die Rahmenbedingungen zu geben, die sie verdienten. Dabei gehe es um bessere Straßen, Brücken, Eisenbahnverbindungen und Schulen sowie um weniger Bürokratie, schnelle Genehmigungsverfahren, eine bessere digitale Infrastruktur und um wettbewerbsfähige Unternehmenssteuern.

»Mir fehlt auch noch der Industriestrompreis«, ergänzte ING-Chefökonom Brzeski. »So etwas ergibt Sinn, da er über mehrere Jahre gelten soll und damit Unternehmen die lang vermisste Planungssicherheit geben kann.«

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Ampelhandwerker möchte man lieber nicht im Haus haben

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), zwischen Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) und, rechts, Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne)

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), zwischen Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) und, rechts, Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne)© dpa

Erinnert sich noch jemand an die Fanfaren, die im Bundestagswahlkampf geblasen wurden? Entfesselung! Aufbruch! Befreiung! Was ist davon übrig geblieben? Meseberg.

Über die vornehmlich steuerrechtlichen Maßnahmen zur Wirtschaftsförderung muss man froh sein, weil sie überhaupt zustande kamen. Auf eine Steuerreform wartet Deutschland vergeblich.

Weiter Stillstand in der Verwaltung

Konkrete Beschlüsse zum Bürokratieabbau müssen zwar noch abgewartet werden. Aber was nun als Filetstück angepriesen wurde, ist der Rede nicht wert. Die Wirtschaft dadurch entlasten, dass in Hotels keine Meldezettel mehr ausgefüllt werden müssen? Das ist lachhaft angesichts des Eifers, mit dem die Bundesregierung die Betriebe in einen Lieferketten-Taxonomie-Morast schicken will.

Digitalisierung? Ein neuer Anlauf im Gesundheitswesen, aber weiter Stillstand in der Verwaltung. Die lange angekündigte Planungsbeschleunigung? Liegt seit Monaten auf Eis.

Der Klotz am Bein bleibt

Aber auch der Klotz am Bein der deutschen Haushalte und Industrie, die hohen Energiepreise, bleibt den Deutschen wohl auf absehbare Zeit erhalten. Ideen sind nicht in Sicht, die das Übel an der Wurzel packen wollen. Politik neigt zur Subvention, weil der Rest so bleiben kann, wie er ist. Den hohen Strompreis durch staatliche Zuschüsse zu kompensieren erspart der Koalition, sich Gedanken über die Senkung des Strompreises (für alle) zu machen.

Da ihre Klimapolitik, statt Kräfte freizusetzen, Kräfte bindet, treibt Deutschland nicht nur der großen Transformation, sondern auch einer großen Sklerose entgegen. Im Ampeljargon nennt sie sich dann „Übergangsperiode“.

Weder Mittelstand noch Industrie werden daraus Mut schöpfen. Die Koalition stößt an ihre Grenzen. Ihr Fortschrittsglaube hofiert eine missionarische Sozial-, Gesellschafts- und Klimapolitik. Aber wie sie erwirtschaftet wird, das Brett ist für diesen Glauben zu hart.

Es wird „gehämmert und geschraubt“ wie doll in der Regierung, da hat Christian Lindner wohl recht. Handwerker wie diese möchte man aber lieber nicht im Haus haben.

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„Eine Art Abteilungsleiterin von Habeck“: Unionsfraktionsvize übt scharfe Kritik an Kompetenzen der Bauministerin

CSU-Politiker Ulrich Lange fordert mehr Befugnisse für Bauministerin Geywitz. Zudem müsse das sogenannte Heizungsgesetz der Ampel dringend reformiert werden.

Wirtschaftsminister Robert Habeck und Bauministerin Klara Geywitz bei einer gemeinsamen Pressekonferenz (Archivbild)

Wirtschaftsminister Robert Habeck und Bauministerin Klara Geywitz bei einer gemeinsamen Pressekonferenz (Archivbild)© Foto: AFP/JOHN MACDOUGALL

Unionsfraktionsvize Ulrich Lange (CSU) hat scharfe Kritik an der Wohnungs- und Energiepolitik der Bundesregierung geübt. „Eine Bauministerin braucht zwingend die Kompetenz für die Förderung des Wohnungsbaus und damit den Einfluss auf die dafür notwendigen Gelder“, sagte Lange den Zeitungen der Mediengruppe Bayern mit Blick auf Bauministerin Klara Geywitz (SPD).

„Doch hier hat Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) den Hut auf. Die gesamte Neubau- und Bestandsförderung erfolgt über sein Haus. Geywitz ist hier nur eine Art Abteilungsleiterin von Habeck, die tun muss, was ihr Chef vorgibt.“ Auch von Finanzminister Christian Lindner (FDP) sei Geywitz abhängig, weil er für die Bundesanstalt für Immobilienangelegenheiten zuständig ist.

Die bisherigen Kreditförderprogramme des Bauministeriums seien gefloppt, behauptete Lange. „Familien in den Einkommensklassen, über die wir bei dem Geywitz-Programm reden – also bis 60.000 Euro pro Jahr – brauchen Zuschüsse und keine Kredite.“

Das ist reine Klientelpolitik der FDP. Es gibt da 10.000 Euro für die oberen 10.000.

Unionsfraktionsvize Ulrich Lange (CSU) kritisiert Wissings geplante Förderungen für E-Auto-Ladestationen.

Lange sprach sich auch für eine Reform der Grunderwerbsteuer und der Erbschaftssteuer aus. Pläne der SPD für einen stärkere Kappung von Mieterhöhungen lehnte er hingegen ab: „Wer soll investieren, wenn er keinen realistischen Mietzins erlangen kann?“

Lange sagte den Zeitungen, das auch als Heizungsgesetz bekannte Gebäudeenergiegesetz (GEG) sei in der jetzigen Fassung nicht umsetzbar. „Deshalb erwarte ich noch in diesem Jahr ein Reparaturgesetz, nämlich dann, wenn das Gesetz zur kommunalen Wärmeplanung kommt. Zuerst hätte die Wärmeplanung kommen müssen und dann das GEG.“

Für wenig effektiv hält der CSU-Politiker den Plan von Verkehrsminister Volker Wissing (FDP), ein Paket aus Photovoltaik-Anlage, Batteriespeicher und Ladestation für ein E-Auto zu fördern. „Das ist reine Klientelpolitik der FDP. Es gibt da 10.000 Euro für die oberen 10.000“, meinte Lange. „Es ist ein Programm für eine ganz kleine Gruppe, die dieses Geld wahrscheinlich nicht mal bräuchte.“

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Bund der Steuerzahler fordert Nachbesserungen am Bundeshaushalt

Am Dienstag berät der Bundestag den Haushalt für 2024. Reiner Holznagel, Präsident des Bundes der Steuerzahler, fordert eine Streichung von Subventionen und eine geringere Neuverschuldung. Zwar wird die Schuldenbremse eingehalten, doch viele Ausgaben seien in Sondervermögen versteckt.

Die Schuldenuhr des Bundes der Steuerzahler in Berlin. Mehr als 30.000 Euro pro Kopf beträgt die Staatsverschuldung – zu viel, findet der Verein dpa/Jörg Carstensen

Die Schuldenuhr des Bundes der Steuerzahler in Berlin. Mehr als 30.000 Euro pro Kopf beträgt die Staatsverschuldung – zu viel, findet der Verein dpa/Jörg Carstensen© Bereitgestellt von WELT

Der Bund der Steuerzahler hat grundlegende Nachbesserungen am Entwurf des Bundeshaushalts 2024 gefordert. Der Wirtschaftsstandort Deutschland stecke tief in der Krise – das Gleiche gelte für den Bundeshaushalt, kritisierte der Präsident des Bundes der Steuerzahler, Reiner Holznagel. Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) bringt den Etat am Dienstag in den Bundestag ein, danach folgen parlamentarische Beratungen.

„Statt immer neue Subventionen zu beschließen, muss die Ampel ein umfangreiches Aktionsprogramm bieten, das solide Perspektiven für den Staatshaushalt sowie Betriebe und Bürger aufzeigt“, mahnte Holznagel. Die Schuldenbremse müsse dauerhaft eingehalten werden, forderte er mit Blick auf bereits rund 40 Milliarden Euro Zinsausgaben, die der Bund jedes Jahr finanzieren müsse. „Deshalb ist es falsch, ständig neue Wege zu suchen, die Schuldenbremse zu umgehen.“

Die Neuverschuldung soll laut Entwurf des Haushalts im kommenden Jahr bei 16,6 Milliarden Euro liegen, das rund 30 Milliarden weniger als in diesem Jahr. Damit soll die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse eingehalten werden, die nur in sehr begrenztem Umfang neue Schulden vorsieht.

Holznagel sagte aber, die Netto-Kreditaufnahme des Bundes werde 2024 deutlich darüber hinausgehen. In Sondervermögen seien weitere Schulden und milliardenschwere Ausgabenprogramme versteckt. Er verwies etwa auf das Sondervermögen Bundeswehr. Zudem würden Klimaprojekte aus dem Klima- und Transformationsfonds und andere Schattenhaushalte zum Großteil über Schulden finanziert.

Insgesamt habe die Haushaltspolitik der Ampel-Koalition zu wenig Weitblick, bemängelte Holznagel. „Wegen teurer Beschlüsse der Ampel-Regierung ist der Haushaltsentwurf 2024 schon vor der ersten Bundestagsdebatte Makulatur.“ Die Abgeordneten müssten nachlegen, den Etat kürzen und neu sortieren.

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"Wir sind total überfordert mit der Regierung"

In einer Sondersendung wurde Robert Habeck mit den Bürgern konfrontiert. Die gingen den Minister hart an. Der Grünen-Politiker räumte zahlreiche Missstände ein.

Drei gegen einen. Das hätte das Motto der Diskussion von Bürgern mit Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck sein können, die in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch vom Sender RTL ausgestrahlt wurde. Der Sender nennt das Format "Am Tisch mit Robert Habeck". Doch das Tischtuch zwischen den Bürgern und dem Spitzenpolitiker war in der knapp 60-minütigen Runde schnell zerschnitten.

Die Gäste

  • Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen), Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz
  • Max Jankowsky, Präsident der Industrie- und Handelskammer Chemnitz
  • Engin Kelik, Metallarbeiter aus Melle und Vater von zwei Töchtern
  • Anna Böck, Pfarrerin und Ex-Grünen-Mitglied, jetzt bei der Letzten Generation

Er sei bitter enttäuscht von Habeck, sagte etwa Familienvater Engin Kelik gleich zu Beginn der Runde und warf dem Minister vor, in seinem Amt versagt zu haben. Der 40-Jährige wollte vom Grünen-Politiker wissen, was er zu tun gedenke, damit "die einfachen Bürger langsam aber sicher mal wieder über die Runden kommen können".

Habeck zeigte Verständnis für Keliks Nöte, der klagte, dass er seinen zwei Töchtern kaum noch etwas bieten könne. Den Kinderzuschlag gebe es für ihn auch nicht mehr, seit seine Frau wieder arbeite. Die Angst vor dem sozialen Abstieg konnte Habeck dem Metallarbeiter aus Melle aber nicht nehmen.

"Was haben sie für mich, damit ich am Montag wieder motiviert zur Arbeit gehe?", fragte Kelik in Richtung des Wirtschaftsministers. Habeck geriet bei dieser direkten Ansprache zunächst ins Schleudern. "Das ist schwierig für mich,", sagte er, "ich kenne sie nicht und weiß nicht, wie ich sie motivieren kann, wenn sie nicht motiviert sind."

Jedoch räumte er ein, dass die Transferentzugsrate, also das, was vom Lohn abgezogen werde, in Deutschland "sehr, sehr hoch" sei und die aktuelle Bundesregierung daran "höchstens homöopathisch" etwas geändert habe. "Der Anreiz für Arbeit ist sehr gering. Das wäre sicherlich eine Aufgabe für die Zukunft", gab Habeck zu.

Habeck zur AfD: "Hat nichts mit den Grünen zu tun"

Doch Kelik ließ nicht locker. Er konfrontierte den Vizekanzler mit dem Verdruss, den Teile der Gesellschaft angesichts der Spitzenpolitik entwickelt haben. So warf er Habeck vor, das Menschen wie er nicht länger zur Mitte der Gesellschaft zählten, sondern in die Armut rutschen würden. Auch diese Diagnose bestätigte Habeck: "Ich finde schon, dass die Mitte der Gesellschaft sehr unter Druck steht, wegen des Auseinanderklaffens der Vermögen und des Ärmerwerdens, aber auch mit einer Sprache, die uns auseinderreißt. Wir laufen auf ein polarisiertes Land zu", so Habeck. "Ich finde das brandgefährlich."

"Und davon profitiert die AfD?", ging Moderatorin Pinar Atalay dazwischen. Habeck widersprach: "Was heißt profitiert? Die AfD macht die Polarisierung."

"Was sagen Sie dazu, dass die Grünen mitverantwortlich für den Erfolg der AfD gemacht werden?", hakte Atalay nach. "Es zeugt von einer politischen Verwirrung, die gar nichts mit den Grünen zu tun hat", erwiderte Habeck. Seine Partei stehe mit Themen wie Klimaschutz und Asyl fest in der Mitte der Gesellschaft.

Vizekanzler attestiert eine "große intellektuelle Konfusion"

Das Bild von den Grünen als Gegenpol zur AfD sei völlig falsch, betonte Habeck. "Es ist sozusagen strategisch gewählt, um nicht die unangenehm schwierigen Debatten führen zu müssen. Man lagert sie wieder aus. Das ist eine große politische Schwäche." Er forderte eine anständige Debattenkultur, um politische Lösungen zu finden "und nicht ein Land zu spalten und uns zu beschimpfen, weil wir anderer Meinung sind. Ich erwarte null, dass alle meiner Meinung sind".

Allerdings hielt Habeck in der Sondersendung nicht mit Kritik an seinen Kritikern zurück. Denen attestierte der Vizekanzler unter anderem eine "große intellektuelle Konfusion". Das Motto "je weniger wir verändern, desto besser für die Volkswirtschaft" gehe schlicht nicht auf. "Das Problem ist nicht die Transformation, sondern die hohe Abhängigkeit von fossilen Energien", unterstrich der Klimaschutzminister.

Hier will Habeck unter anderem mit dem umstrittenen Gebäudeenergiegesetz gegensteuern. Er rechne für die Abstimmung am Freitag im Bundestag fest mit dem Nein der Union. Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU) habe in einem "erstaunlichen Anfall der Verkennung der Realität" gesagt, mit den Grünen gehe gar nichts mehr. "Das heißt ja, dass er Gesetze aus meinem Haus prinzipiell ablehnt", hielt Habeck fest. Anstatt gemeinsame Lösungen zu finden, habe sich die Union "für einen anderen Kurs entschieden, nämlich anti zu sein".

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„Deindustrialisierung Made in Germany“

Die EU will die Emissionen bei der Speiseöl-Herstellung senken. Doch die Bundesregierung plant einen zweiten Grenzwert. Noch sei Deutschland laut zuständigem Verband größter Ölmühlen-Standort Europas. Doch mit dem jetzigen Alleingang nehme die Politik Abwanderungen in Kauf.

Der Verband OVID sieht die Existenz hiesiger Ölmühlen in Gefahr Getty Images/Jason Dean

Der Verband OVID sieht die Existenz hiesiger Ölmühlen in Gefahr Getty Images/Jason Dean© Bereitgestellt von WELT

Deutschlands Ölmühlen sorgen sich aufgrund einer geplanten Doppelregulierung um ihre Wettbewerbsfähigkeit. Auslöser ist die bevorstehende Novellierung der 31. Bundes-Immissionsschutz-Verordnung, die auf die Industrieemissionsrichtlinie der EU zurückgeht. Vorgesehen ist darin unter anderem eine Halbierung der Emissionen von Lösungsmitteln bei der Speiseölherstellung.

„Das wird eine enorme Herausforderung und erfordert signifikante Investitionen“, sagt Jaana Kleinschmit von Lengefeld, die Präsidentin des Verbands der ölsaatenverarbeitenden Industrie in Deutschland (OVID). „Dennoch bekennen wir uns ausdrücklich dazu.“ Kein Verständnis hat sie indes für einen zweiten Grenzwert, den EU-weit alleine Deutschland anwendet.

Ergänzend zu den Vorgaben für die Gesamtemissionen plant das Bundesumweltministerium (BMUV) auch einen allgemeinen Emissionsgrenzwert, der auf die Abluft der Ölmühlen abzielt. Den gibt es zwar auch schon in der bislang geltenden Verordnung. Er wird aber nicht umgesetzt, weil die Unternehmen Ausnahmegenehmigungen von den jeweils zuständigen Umweltbehörden bekommen haben. „In der neuen Verordnung ist von der Möglichkeit einer branchenspezifischen Ausnahme keine Rede mehr. Damit würde der Grenzwert nun zur Anwendung kommen“, sagt OVID-Geschäftsführer Gerhard Brankatschk zu WELT.

Die Folge: Um das zusätzliche Limit in Höhe von 20 Milligramm pro Kubikmeter sicher einhalten zu können, müssten nach Angaben von OVID große Luftströme verbrannt werden. Und das führe zu höheren CO₂-Emissionen, vermindere die Energieeffizienz der Anlagen und bedrohe am Ende die Existenz deutscher Ölmühlen.

„Das ist der klassische deutsche Alleingang“, kritisiert Kleinschmit von Lengefeld. In anderen EU-Mitgliedsstaaten gebe es weder einen solchen Emissionsgrenzwert noch Diskussionen darüber. Die Unternehmerin findet daher klare Worte: „Er schadet dem Klima und ist Deindustrialisierung Made in Germany.“

Lösungsmittel zentraler Bestandteil der Speiseölherstellung

Die Ölmühlen verwenden Lösungsmittel zur Extraktion von Pflanzenöl, konkret sogenanntes Ölmühlenhexan. Im ersten Schritt werden Saaten wie zum Beispiel Sonnenblumenkerne, Leinsamen oder Rapskerne mechanisch gepresst. Übrig bleibt ein sogenannter Presskuchen, in dem aber noch immer reichlich Ölreste stecken.

Die werden dann im zweiten Schritt mithilfe des Lösungsmittels aus dem Presskuchen herausgespült, denn das zugeführte Mittel verbindet sich mit dem in den Schalen verbliebenen Öl. Anschließend trennt man beide Substanzen wieder, indem das Lösungsmittel bei 65 Grad verdampft wird. Sobald es abkühlt, verflüssigt es sich, wird aufgefangen und dem Prozess von Neuem zugeführt.

Gleichwohl gibt es in diesem Kreislauf Mengenverluste beim Lösungsmittel, weil zum Beispiel noch Reste im Presskuchen stecken oder beim Verdampfen über die Abluft entweichen. Bei der Verarbeitung von Sonnenblumenkernen etwa geht pro 1000 Kilogramm Saaten rund ein Kilogramm Lösungsmittel verloren, ebenso beim Raps. Bei Soja wiederum liegt der Verlust bei 0,8 Kilogramm pro 1000 Kilo. Die geplante Gesetzesänderung soll diese Emissionen nun jeweils auf die Hälfte begrenzen. Und das ist über neue Anlagentechnik auch möglich, wie OVID-Präsidentin Kleinschmit von Lengefeld versichert.

Dass darüber hinaus trotzdem auch die Abluft extra reguliert werden soll, konterkariert aus ihrer Sicht jegliche Umweltschutzbemühungen. Denn für die nötige Nachverbrennung werde fossile Energie genutzt, konkret Erdgas, und dementsprechend CO₂ freigesetzt. „Die Industrie in Deutschland ist angehalten, weniger Treibhausgase zu verursachen. Und dann kommt eine Initiative des Bundesumweltministeriums, die das genaue Gegenteil bewirkt“, wundert sich OVID-Geschäftsführer Brankatschk.

„McDonald’s wird kein Öl kaufen, das die eigenen Umweltziele belastet“

Ein verschlechterter CO₂-Fußabdruck habe aber noch weitere Folgen für die Branche: „Wir verlieren Kunden an die Konkurrenz im europäischen Ausland, die diese Zusatzbelastung nicht haben.“ Denn Ökobilanzen seien zunehmend wichtig für die Kunden. „McDonald’s wird kein Öl kaufen, das die eigenen Umweltziele belastet.“

Gleichzeitig steigen auch die Kosten für die deutschen Ölmühlen – zum einen durch den notwendigen Kauf von Erdgas und zum anderen über steigende CO₂-Preise für die anschließende Verbrennung. Brankatschk fürchtet daher Abwanderungen. „Wir sehen schon seit Jahren, dass aufgrund der schlechten Rahmenbedingungen mit hohen Energiepreisen und stetig steigender Bürokratie Mühlen-Kapazitäten in Deutschland abgebaut werden und Investitionen im Ausland stattfinden. Das könnte sich nun weiter beschleunigen.“

Aktuell ist Deutschland nach Angaben von OVID der größte Ölmühlen-Standort in Europa. In 15 Extraktionsmühlen werden jährlich rund zehn Millionen Tonnen Ölsaaten verarbeitet, daraus entstehen grob gerechnet vier Millionen Tonnen Pflanzenöle und sechs Millionen Tonnen Ölschrote für die Tierfutterproduktion. „Mit der Doppelregulierung wird nun ohne Not die Wettbewerbsfähigkeit der Speiseölproduktion hierzulande aufs Spiel gesetzt“, beklagt Verbandsvertreter Brankatschk.

Begründet werden die EU-weit strengsten Auflagen vom Bundesumweltministerium mit Gesundheitsgefahren für die Bevölkerung. Das zeigen entsprechende Bundestagsunterlagen von Anfang Juli. Und das bestätigt das Ministerium auch auf WELT-Anfrage.

„Generell verfolgt das Immissionsschutzrecht aus Gründen des vorsorgenden Gesundheitsschutzes den Ansatz, dass der Ausstoß von Stoffen begrenzt werden muss, für die ein spezifisches Schadpotenzial nachgewiesen ist oder für die ein wissenschaftlich begründeter Verdacht auf ein solches Schadpotenzial besteht“, sagt eine Sprecherin.

Und der im Ölmühlenhexan enthaltene Stoff n-Hexan werde gemäß der europäischen Verordnung über die Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen mit „kann vermutlich die Fruchtbarkeit beeinträchtigen“ klassifiziert.

OVID: „Wissenschaftlich nicht haltbare Behauptungen“

Die Industrie sieht darin aber ein „verzerrtes Informationsbild“ und verweist auf einen Evaluationsbericht der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin sowie auf ein umweltmedizinisch-toxikologisches Gutachten von Professor Ulrich Ewers, einem Sachverständigen für Toxikologie und Umwelthygiene aus Essen. Danach gehen von den Emissionen der Lösungsmittel keinerlei Gesundheitsrisiken aus, da in der Umgebung von Ölmühlen der Vorsorgewert unterschritten wird. Zudem gebe es auch keine Hinweise auf erbgutverändernde oder krebserzeugende Eigenschaften.

„Deutschland schlittert zunehmend in die Rezession und das Bundesumweltministerium katapultiert heimische Speiseölhersteller ohne Not und mit wissenschaftlich nicht haltbaren Behauptungen ins Abseits“, echauffiert sich OVID-Präsidentin Kleinschmit von Lengefeld, die im Hauptberuf Vorstandschefin der ADM Hamburg Aktiengesellschaft ist, der größten Ölmühle in Europa.

Ihr Verband hat sich nun in einem Brief an Hamburgs Ersten Bürgermeister Peter Tschentscher gewandt, der aktuell Präsident des Bundesrates ist. Ende September wird in der Länderkammer über die Novelle der Bundes-Immissionsschutz-Verordnung abgestimmt. Und zuvor beraten am 11. und am 14. September der Agrar- und Verbraucherschutzausschuss sowie der Wirtschafts- und der Umweltausschuss über das Thema. „Der getroffene Bundestagsbeschluss gründet auf fehlerhaften Informationen“, heißt es in dem vierseitigen Schreiben, das WELT vorliegt.

In der irrtümlichen Erwartung einer Verbesserung der Verbrauchergesundheit habe der Bundestag mithin mehrere Nachteile gebilligt. „Unter dem Druck zunehmend unsicherer Märkte und in der Rückbesinnung auf heimische Wirtschaftskreisläufe müssen die Länder im Bundesrat den Bundestagsbeschluss dringend korrigieren“, fordert Kleinschmit von Lengefeld.

Das BMUV weist die Vorwürfe der Falschinformation zurück. Zwar habe es im parlamentarischen Verfahren Rückfragen zur Risikobewertung gegeben. Die Mitglieder des Bundestages seien daraufhin aber sachgerecht und umfassend informiert worden. Von einer fehlerhaften Information könne also keine Rede sein. Auch werde sichergestellt, dass die Aufwendungen für die Abgasreinigung in einem angemessenen Verhältnis zum Nutzen für den vorsorgenden Gesundheitsschutz stehen.

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Gastbeitrag von Gabor Steingart - Lautlos wird der Staat immer umtriebiger - das kostet uns Geld und Freiheit

Ronald Reagan und Maggie Thatcher The Pioneer

Ronald Reagan und Maggie Thatcher The Pioneer© The Pioneer

Reagan und Thatcher: Symbole einer Ära mit weniger staatlichen Eingriffen. Doch ihre Geister verlassen uns wieder, während die Welt erneut in eine Ära des „Big Government“ eintritt. Wer zahlt den Preis für diese neu entfachte Staatstätigkeit?

Ronald Reagan und Maggie Thatcher sterben in diesen Tagen ein zweites Mal. Nach seiner offiziellen Beisetzung am 11. Juni 2004 in Washington vor 2100 geladenen Trauergästen und ihrer feierlichen Beerdigung am 17. April 2013 in London wird nun auch der Geist jener Ära zu Grabe getragen.

Es war eine Zeit, in der die Staaten sich zurückgezogen hatten aus dem Leben ihrer Bürger. Wirtschaft fand in der Wirtschaft statt, nicht im Planungsstab eines Ministeriums. „Schlachtet nicht die Gans, die das goldene Ei legt“, rief Thatcher den Wählern zu. Und die folgten ihr.

„Es ist nicht die Aufgabe eines Politikers, allen zu gefallen“

Thatcher wurde von den Linken gehasst, von den Gewerkschaften bekämpft, aber von den bürgerlichen Wählern für ihre Steuersenkungen und ihre Privatisierungspolitik reich belohnt. Bei ihrer Wiederwahl am 9. Juni 1983 holte sie mit 42,4 Prozent einen bis heute ungeschlagenen Rekord in Großbritannien. Ihr Credo: „Es ist nicht die Aufgabe eines Politikers, allen zu gefallen.“

Ronald Reagan war aus ähnlich hartem Holz geschnitzt. Zur Amtseinführung am 20. Januar 1981 sagte er: „Die Regierung ist nicht die Lösung unseres Problems. Sie ist das Problem.“ Die Wirtschaft wurde dereguliert, die Steuern gesenkt, der Sozialstaat zurechtgestutzt. Ronald Reagan rangiert bis heute im Beliebtheitsranking des Gallup-Instituts vor Bill Clinton, Donald Trump und Joe Biden.

Wir haben erneut ein Zeitalter von „Big Government“ betreten

Doch der Geist jener Zeit ist zurück in der Flasche. Wir haben erneut ein Zeitalter von „Big Government“ betreten, das die Welt zuletzt zu Zeiten von Weltwirtschaftskrise und Weltkrieg und später dann, fast zeitgleich mit Reagan und Thatcher, in Frankreich unter François Mitterand erlebte. Seine „Planification“, die mit der Verstaatlichung der französischen Schlüsselindustrien endete, gilt bis heute als kostspieligste Verirrung der französischen Nachkriegsgeschichte.

 

Die heutige Phase von Planification ist eine weltweite, aber sie kommt geschmeidiger daher. Die Regierungen, weder die von Joe Biden noch die von Olaf Scholz, sind keine ideologischen Überzeugungstäter. Aber sie sind die Kinder ihrer Zeit. Global kommt es zu einer gewaltigen Verschiebung von Macht und Ressourcen; die Spielräume der Privatwirtschaft und der Bürger werden verengt, um die des Staates zu erweitern – finanziell und regulatorisch.

Die aggressivsten Treiber dieser Entwicklung sind auf folgenden Feldern zu besichtigen:

1. Die Aufrüstung Chinas und der Krieg Russlands haben dem Militär und dem militärisch-industriellen Komplex überall im Westen eine neue Bedeutung verliehen. In den USA wird der Rüstungsetat 2024 mit rund 842 Milliarden eine historisch nie gesehene Größenordnung aufweisen. Das entspricht dem operativen Gewinn der acht gewinnstärksten Unternehmen der Welt 2022 – zu denen unter anderem Saudi Aramco, Apple, Microsoft, Alphabet, ExxonMobil und Shell gehören.

In Deutschland hat Olaf Scholz ein 100 Milliarden Aufrüstungsprogramm gestartet, das es in dieser Massivität seit der Wiederbewaffnung der Bundeswehr nicht gegeben hat. Und in Japan, wo man sich durch China in besonderer Weise bedroht fühlt, steigt der Verteidigungshaushalt im kommenden Jahr um 57 Prozent.

2. Der politische Wille, den menschengemachten Klimawandel zu verlangsamen, hat in allen westlichen Staaten den Retterstaat auf den Plan gerufen. Mit gigantischen Geldsummen – McKinsey schätzt, dass für die grüne Transformation insgesamt 9,2 Billionen US-Dollar pro Jahr aufgewandt werden müssen – und einer hohen Regelungsdichte für den Verkehrssektor, den Hausbau und die industrielle Fertigung reagiert die Politik auf diese Herausforderung. Auch in den urkapitalistischen USA. Die Financial Times bilanziert kühl:

„Die derzeitige US-Regierung greift so stark in die Wirtschaft ein wie seit den 1930er Jahren nicht mehr.“

Ob es tatsächlich gelingt, die Welttemperatur wie eine Klimaanlage herunter zu pegeln, ist offen. Fest steht aber: Der Staat greift in seinem ökologischen Eifer tief in die unternehmerischen Entscheidungen und auch in das Privatleben seiner Bürger ein. Dafür allerdings, das darf nicht verschwiegen werden, besitzt er in den westlichen Demokratien das Mandat seiner Wähler.

3. Der Geburtenrückgang in vielen westlichen Staaten weist dem Sozialstaat eine größere Rolle zu. Es kommt zu einer ständigen Expansion des Wohlfahrtsstaates, der 1970 erst 20 Prozent des Bundeshaushaltes ausmachte, 2022 waren es bereits 36 Prozent. Allein die gesetzliche Rentenversicherung muss mit über 100 Milliarden Euro subventioniert werden, damit die den Bürgern gemachten Zusagen erfüllt werden können.

Deutschland ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Die Ausgaben für das Gesundheitswesen und die Renten werden weiterhin stark ansteigen. Der demografisch bedingte Belastungsquotient – berechnet als Anteil der über 65-Jährigen im Vergleich zur Zahl der 20- bis 64-Jährigen – wird in der gesamten OECD von 33 Prozent im Jahr 2023 auf 36 Prozent im Jahr 2027 ansteigen, bevor er bis zum Jahr 2050 um etwa einen Prozentpunkt pro Jahr auf 52 Prozent ansteigt.

Studierende, Erwerbstätige, Unternehmer zahlen dafür mit ihrem Geld

Fazit: Über die Schattenseiten dieser erweiterten Staatstätigkeit wäre mit den Bürgern zu sprechen. Denn die Aktiven, das heißt die Studierenden, die Erwerbstätigen und die Unternehmer, zahlen dafür mit ihrem Geld und der Einschränkung ihrer individuellen Freiheit. Doch dieses Gespräch – das auch ein Gespräch über Alternativen sein müsste – wird derzeit verweigert.

Die neuen Interventionisten sind Leisetreter. Sie exekutieren den Zeitgeist auf lautlose Weise. Der Mut zur Wahrheit ist bei ihnen nicht sehr ausgeprägt. Maggie Thatcher wäre damit nicht einverstanden:

„Wenn ich etwas in der Politik verabscheue, dann den Typ des Aals, der sich vor lauter Geschmeidigkeit am liebsten selbst in sein Hinterteil beißen möchte.“

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Ampel vor dem Abpfiff

für Fußballer gibt es in der Halbzeit Pausentee und eine Ansage des Trainers: Führt die Mannschaft, spornt er sie an. Liegt sie hinten, setzt es eine Standpauke. Damit die Spieler in der zweiten Hälfte Gas geben und das Spiel noch drehen.

Können die Ampelkoalitionäre ihr Spiel noch drehen? Zwei Jahre ist die Bundestagswahl morgen her, SPD, Grüne und FDP bildeten ein Team, das sie hochtrabend "Fortschrittsbündnis" nannten. Von Grund auf erneuern wollten sie das Land nach den zähen Merkel-Jahren und der Corona-Weltkrise. Stattdessen eiert die rot-grün-gelbe Regierungsmannschaft zur Halbzeit der Legislaturperiode angeschlagen über den Platz. Nach politischen Kriterien bemessen liegt das Team von Bundestrainer … pardon -kanzler Olaf Scholz mit 2:6 Toren hinten. Auf den erfolgreichen Beginn folgte der Absturz. So fielen die Tore:

1:0: In der Sozialpolitik erhöhten die Koalitionäre den Mindestlohn und verwandelten Hartz IV ins Bürgergeld. Das freut viele Geringverdiener.

2:0: Nach Putins Angriff gaben Scholz und sein Team die richtigen Antworten – Schulterschluss mit den USA und den EU-Partnern, Bundeswehr-Aufrüstung, Gas- und Strompreisbremse. Gut gemacht.

Doch dann hagelte es ein Gegentor nach dem anderen:

2:1: Beim Mammutprojekt Klimaschutz braucht das Scholz-Team eigentlich gar keinen Gegner, denn es spielt gegen sich selbst. Riesenzoff ums Heizungsgesetz und Verwässerung der Sektorenziele: ein klassisches Eigentor.

2:2: In der Verkehrspolitik reichte es zwar für das Deutschlandticket – doch beim E-Tankstellennetz, der Bahn-, Autobahn- und Brückensanierung geht es kaum voran. Millionen Pendler ärgern sich jeden Tag darüber.

2:3: Das Einwanderungsrecht haben die Ampelleute zwar erleichtert, auch wurden mehr als eine Million Ukrainer unkompliziert aufgenommen. Doch gegen die irreguläre Migration findet die Regierung bislang kein wirksames Mittel, weder an den nationalen Grenzen noch mit den EU-Partnern. Kein anderes Thema besorgt die Bundesbürger gegenwärtig so sehr wie dieses.

2:4: Für den deutschen Bildungsnotstand werden gern die Bundesländer verantwortlich gemacht – aber nur die Bundesregierung könnte den Gordischen Knoten durchschlagen, indem sie einen nationalen Krisenplan entwirft. Werden die Schulen in der viertgrößten Wirtschaftsnation der Welt endlich zeitgemäß ausgestattet? Fehlanzeige.

2:5: Die Worte Digitalisierung und Deutschland sind mittlerweile Antonyme. Die Misere ist so groß, dass sich kein weiteres Wort darüber lohnt.

Die Quittung für ihren Rückstand und ihren mannschaftsinternen Dauerzoff bekommen die Ampelleute in den Umfragen serviert. Die jüngste stammt vom Wochenende und ist besonders bitter: Auf gerade mal noch 37 Prozent Zustimmung kommen die drei Regierungsparteien – der niedrigste Stand seit der Bundestagswahl. Damals lagen sie bei 52 Prozent. Das Publikum buht und verlässt in Scharen das Stadion.

Doch das Spiel geht weiter – und zack, bekommt das Scholz-Team den nächsten Dämpfer verpasst, schon steht es 2:6: 400.000 neue Wohnungen pro Jahr hatten die Ampelleute versprochen, 100.000 davon sollten Sozialwohnungen sein. So wollten sie den grassierenden Wohnraummangel vor allem in Großstädten bekämpfen. Der Plan ist gescheitert. Zwei Jahre nach dem Ampel-Anpfiff ist das Problem größer als je zuvor.

Bundesweit fehlen mehr als 700.000 Wohnungen – so viele wie seit 20 Jahren nicht mehr. Am stärksten betroffen sind die Metropolen Berlin, Hamburg und Köln, aber auch in 70 weiteren Städten herrscht akute Wohnungsnot. Mieterbund-Präsident Lukas Siebenkotten warnte schon zu Beginn des Jahres vor einem "ungeahnten Desaster auf dem Wohnungsmarkt". Seither hat sich die Situation verschlimmert; in diesem Jahr werden wohl höchstens 200.000 neue Wohnungen entstehen.

Besonders dramatisch ist das Fehlen von Sozialwohnungen: Ende der 1980er-Jahre gab es noch vier Millionen – heute sind es nur noch gut eine Million. Dabei hätten mehr als elf Millionen Haushalte aufgrund niedriger Einkommen Anspruch darauf.

Die Gründe für den Mangel sind vielfältig. Die Bevölkerung wächst. Immer mehr Menschen ziehen in Städte. Bauen wird durch einen Dschungel aus bürokratischen Vorschriften erschwert. Durch die Inflation sind Materialpreise in die Höhe geschossen, die hohen Zinsen tun das ihre. Politische Fehlentscheidungen kommen hinzu: Viele Kommunen haben ihren Wohnbestand in den vergangenen Jahrzehnten privatisiert und Spekulanten Tür und Tor geöffnet. Heute können sich Durchschnittsverdiener eine Wohnung in den Innenstädten von München, Hamburg, Frankfurt oder Düsseldorf kaum noch leisten. Auch der Zuzug der Flüchtlinge hat die Lage verschärft: Vor allem Ukrainer ziehen lieber nach Berlin oder Hannover als nach Schwerin oder Salzgitter, wo es noch freie Wohnungen gibt.

Die meisten dieser Gründe hat die Ampelkoalition nicht zu verantworten. Ankreiden kann man ihr aber, dass sie nicht längst einen Notfallplan erarbeitet hat, um das rasant zunehmende Problem einzudämmen. Bauministerin Klara Geywitz (SPD) hat bis jetzt keinen Fuß auf den Platz bekommen, irrlichtert zwischen Kabine und Tribüne umher, statt in den Strafraum zu stürmen. Gerade einmal 14,5 Milliarden Euro bis zum Jahr 2026 konnte sie Finanzminister Christian Lindner (FDP) für den Bau von Sozialwohnungen abtrotzen. De facto bräuchte es eher 50 Milliarden, wie Mieterverbände vorrechnen.

In ihrer Not greifen viele Städte zu unkonventionellen Mitteln: In Hamburg sollen Bürger leerstehende Wohnungen in einem Petz-Portal melden. Frankfurt und Darmstadt verhängen Bußgelder von bis zu 25.000 Euro, wenn Vermieter ihre Objekte nur als Ferienwohnungen anbieten, statt Leute dauerhaft einziehen zu lassen.

Kann die Ampelkoalition ihren politischen Rückstand noch aufholen? Heute hat sie die Chance, wenigstens mal ein Tor zu schießen: Olaf Scholz lädt am Vormittag zum Wohnungsbaugipfel ins Kanzleramt. Gemeinsam mit seinen wichtigsten Ministern und der Wohnungswirtschaft will der Chef des Dreierteams "schnell mehr bezahlbaren Wohnraum" ermöglichen. Es heißt, dabei sollten auch unkonventionelle Ideen auf den Tisch kommen. Gestern Abend berichtete der "Spiegel" zudem, die Bundesregierung habe ein Maßnahmenpaket beschlossen, um die kriselnde Baukonjunktur anzukurbeln. Dringend notwendig wäre es. Sonst wird der Rückstand der Ampel-Mannschaft bald zweistellig. Oder das rot-grün-gelbe Spiel wird noch vor dem Ende der zweiten Halbzeit abgepfiffen.

Innenministerin Faeser, Kanzler Scholz: Freude am Regieren sieht anders aus.