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News zur Bundesregierung

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Industrieverband: "Deutschland fällt zurück"

Der Präsident des Bundesverband der Deutschen Industrie, Siegfried Russwurm, fordert einen schnelleren Ausbau sicherer Infrastruktur auch durch den Staat. Auch der Ausbau der erneuerbaren Energien müsse schneller gehen.

Siegfried Russwurm, Chef des Industrieverbandes BDI (hier Anfang Januar 2023)

Siegfried Russwurm, Chef des Industrieverbandes BDI (hier Anfang Januar 2023)© Jörg Carstensen/dpa/picture alliance

Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit bröckelt nach Einschätzung des Industrieverbandes BDI immer mehr. In diesem Jahr werde die hiesige Wirtschaft nur stagnieren, weltweit aber zumindest um 2,7 Prozent zulegen, was aber auch ein Punkt weniger sei als im Schnitt der vergangenen 20 Jahre, teilte der BDI am Montag mit. "Deutschland fällt zurück", sagte BDI-Präsident Siegfried Russwurm zu Beginn einer zweitätigen Branchenkonferenz in Berlin. Das Investitionsverhalten zeige klar nach unten. Dabei sei Deutschland bereits in einer Rezession. Die Bedingungen blieben schwierig. Bestenfalls im Laufe des Jahres 2024 werde sich eine Besserung einstellen. Die Bundesregierung müsse jetzt Strukturreformen systematisch angehen.

Russwurm forderte zügig ein langfristig tragfähiges Konzept, um die Industrie sicher mit international wettbewerbsfähigen Strompreisen zu versorgen. Eine Lösung für einige Jahre reiche nicht aus. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) habe im Wahlkampf von einem Strompreis in Höhe von vier Cent gesprochen, wovon man nun meilenweit entfernt sei. "Die vielen staatlich induzierten Belastungen wie Steuern, Umlagen und Netzentgelte müssen reduziert werden, um Strom attraktiver zu machen als fossile Energieträger."

Immer mehr Unternehmen bis weit in den Mittelstand beschäftigten sich damit, Teile ihrer Aktivitäten aus Deutschland abzuziehen, ergänzte Russwurm. "Wir brauchen bessere steuerliche Rahmenbedingungen für Investitionen am Standort - und zwar jetzt und nicht irgendwann." Planungs- und Genehmigungsverfahren müssten zudem schneller und die Infrastruktur verbessert werden, außerdem seien mehr Fachkräfte nötig, auch aus dem Ausland. "Statt pro Tag vier bis fünf Windräder zu installieren, wie es auch in den Augen des Bundeskanzlers ab sofort nötig wäre, war es im ersten Halbjahr dieses Jahres gerade mal ein Windrad pro Tag."

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Die Industrie droht mit Abwanderung – der Kanzler hört nur ein leichtes Knirschen

Auf dem Tag Industrie gibt es nur ein kurzes höfliches Lob für Olaf Scholz. Dann bricht der Ärger der Branche über ihn herein. Statt des angekündigten Wirtschaftswunders lähme die Politik den Standort Deutschland. Der Kanzler zeichnet die Lage deutlich positiver.

Schätzen Deutschlands aktuelle Lage ziemlich unterschiedlich ein: Bundeskanzler Olaf Scholz (l, SPD) und Siegfried Russwurm, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie picture alliance/dpa

Schätzen Deutschlands aktuelle Lage ziemlich unterschiedlich ein: Bundeskanzler Olaf Scholz (l, SPD) und Siegfried Russwurm, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie picture alliance/dpa© Bereitgestellt von WELT

Dass es kein Heimspiel werden würde für Olaf Scholz beim Tag der Industrie, hatte der Kanzler wohl schon vor seinem Auftritt geahnt. Seit Monaten wird in der deutschen Industrie über die immer größeren Standortnachteile wie die hohen Energiepreise geklagt, viele Unternehmen drohen offen mit Abwanderung oder zumindest damit, künftig neue Fabriken nur noch im Ausland eröffnen zu wollen.

Entsprechend fiel das höfliche Lob des Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Siegfried Russwurm, zu Beginn seiner Rede kurz aus: Man unterstütze die Bundesregierung bei ihrer Hilfe für die Ukraine und begrüße auch, dass sich die Regierung gegen eine komplette Abkopplung von China entschieden habe. Dennoch rücke der „Systemwettbewerb zwischen China und demokratischen Staaten“ immer mehr in den Fokus.

Doch dann kam Russwurm zur Sache: Deutschland sei im Vergleich mit anderen Wirtschaftsregionen weiter zurückgefallen, konstatierte der Chef der Industrie-Lobby. „Der Blick auf die Realitäten gibt Anlass zu vielen Sorgen“, sagte Russwurm. „Wir sehen das Land aktuell vor einem Berg wachsender Herausforderungen.“ Zwar habe der Bundeskanzler ein neues Wirtschaftswunder angekündigt, doch in zwei der drei Regierungsparteien würde stattdessen über Steuer- und Abgabenerhöhungen diskutiert.

Das Motiv der Rede des obersten Industrievertreters ist klar: Deutschland muss schnell handeln, aber die Regierung rede bislang vor allem. Statt der benötigten fünf neuen Windräder sei in den vergangenen Monaten durchschnittlich eben nur eines gebaut worden. „Das Delta zwischen Ambition und Umsetzungspraxis wird täglich größer“, kritisierte Russwurm.

Er stimme der Analyse des Kanzlers zu, wenn er sage, Deutschland habe sich „mit Vorschriften eingemauert“, aber nun müsse eben auch die Umsetzung der angekündigten Gegenmaßnahmen folgen. „Vieles von dem, was Sie sagen, findet sich nicht im Handeln der Bundesregierung wieder“, stellte Russwurm fest.

Auch wenn es einigen Unternehmen in der Industrie noch immer gut gehe, nehme die Investitionszurückhaltung in Deutschland zu. „Momentan beschäftigen sich immer mehr Unternehmen bis weit in den Mittelstand damit, einen Teil ihrer Wertschöpfung aus Deutschland weg zu verlagern“, sagt der BDI-Präsident. Man sei sich zwar im Ziel einig, dass man die Industrie auf eine klimaneutrale Produktion umstellen wolle, trotzdem müsse die Regierung schnell die Voraussetzungen schaffen, dass die Unternehmen zu wettbewerbsfähigen Preisen mit Energie versorgt werden. „Der Strom muss 24 Stunden am Tag fließen – auch bei Dunkelflaute“, mahnte Russwurm.

Dafür müssten schnell nicht nur Stromnetze ausgebaut werden, sondern auch neue Kraftwerke geplant und gebaut werden. Das gehe viel zu langsam voran. „Mit Luftschlössern und Powerpointfolien können wir die Energiewende nicht schultern“, sagte Russwurm.

Gleichzeitig müsse man dafür klare Prioritäten setzen. „Unser Land hat eine lange Agenda, es gibt viel mehr Nachholbedarf als Möglichkeiten und Ressourcen“, sagte der BDI-Präsident. Das Prinzip „Mit dem Kopf durch die Wand“ führe „zu nichts Gutem“. „Wir müssen priorisieren, was dringend ist und was zurückgestellt werden kann, was wir uns leisten können und auf was wir verzichten müssen“, so Russwurm.

Zumindest in diesem Punkt war sich der Industriepräsident mit dem Bundeskanzler einig. Doch Scholz wollte die Verantwortung für die lange Liste der aufgestauten Aufgaben nicht allein auf der Regierung sitzen lassen.

Zwar stelle sich die Frage, „warum so vieles liegengeblieben ist“, gab der Kanzler zu. Aber auch die Wirtschaft habe eben lange nicht auf die nötigen Veränderungen gedrängt: „Der Status quo war bei vielen Unternehmen ziemlich populär“, erinnerte Scholz Russwurm von der Bühne.

Man befinde sich inzwischen in „außerordentlich stürmischen und herausfordernden Zeiten“, nachdem es vorher eine Phase ziemlich bequemer Rahmenbedingungen gegeben habe, Geld habe lange nichts gekostet, die Inflation war niedrig. „Dass eine solche Ausnahmezeit nicht ewig währen würde, war eigentlich klar“, sagte der Kanzler.

Doch inzwischen sei man „vom Reden ins Handeln gekommen“, außerdem habe man „alle Horrorszenarien vermieden, von denen im vergangenen Jahr die Rede war“, sagte Scholz. Es sei eben nicht zu einer Gasmangellage gekommen, eine tiefe Rezession sei vermieden worden.

Drei Prioritäten im Haushalt, ansonsten wird gespart

Doch das sei eben auch mit großen Hilfspaketen in den vergangenen Krisenjahren erkauft worden. Das sei richtig gewesen, aber: „Genauso richtig ist, dass wir diese Ausnahmesituation nicht zum Normalzustand werden lassen.“ Dass man nun wieder sparen und sich nicht alles leisten könne, sei „nach den Ausnahmejahren vielleicht gewöhnungsbedürftig“, so Scholz.

Er nannte drei Prioritäten, an denen sich der nächste Bundeshaushalt ausrichten werde: die Sicherheit des Landes, die Umstellung auf eine klimaneutrale Industrienation und den Erhalt des sozialen Zusammenhalts in Deutschland.

Diese Prioritätensetzung bedeute aber auch: „Manche Subvention und manches Förderprogramm wird auf dem Prüfstand stehen“, sagte Scholz. Gleichzeitig dürfe man die Zukunft des Landes aber auch nicht zu negativ sehen. So entwickle sich Deutschland gerade zu einem gefragten Standort für die Halbleiterfertigung in Europa. „Es läuft gerade alles auf Deutschland zu, das ist mal eine gute Nachricht“, sagte der Kanzler.

Die Probleme, die insbesondere in den vergangenen Wochen und Monaten die Ampelkoalition von einer Krise in die andere taumeln ließen, sind für Scholz nicht mehr als eine Randnotiz. „Dass das nach Jahren des Stillstands nicht ohne Knirschen abgeht, liegt auf der Hand“, sagte der Kanzler. „Wir haben gerade noch rechtzeitig die Kurve gekriegt und jetzt quietscht es ab und zu, weil die Kurve so scharf ist.“

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Aus Corona-Hilfen wurden Klima-Hilfen – Ist die Schulden-Trickserei verfassungswidrig?

Der Bund häuft immer mehr Schulden an. Doch geht es dabei mit rechten Dingen zu? Experten haben Zweifel, nun wird das Bundesverfassungsgericht die Sache klären. Wertet es das Verhalten der Regierung als „Trickserei“, wäre der aktuelle Haushaltsstreit nichts gegen das, was dann käme.

Es ist das erste Mal, dass sich die Verfassungsrichter mit der 2009 beschlossenen Schuldenbremse beschäftigen Uli Deck/picture alliance/dpa

Es ist das erste Mal, dass sich die Verfassungsrichter mit der 2009 beschlossenen Schuldenbremse beschäftigen Uli Deck/picture alliance/dpa© Bereitgestellt von WELT

Manch Ampel-Politiker wird sich, genervt vom aktuellen Haushaltsstreit, fast schon wehmütig an das Jahr 2021 erinnern. Damals hatte die Corona-Pandemie das Land fest im Griff, was ein Problem war. Aber es musste nicht gespart werden. Wegen der Krise war genug Geld da, die Schuldenbremse ausgehebelt. Kredite in Höhe von bis zu 240 Milliarden Euro durfte die damalige Bundesregierung 2021 aufnehmen, mehr als jede andere zuvor. Am Ende war das mehr Geld, als für Impfstoff, Tests und Unternehmenshilfen überhaupt ausgegeben werden konnte. Statt 240 Milliarden Euro wurden eigentlich nur 155 Milliarden Euro gebraucht.

Eigentlich. Denn statt den gewährten Kreditrahmen einfach nicht auszuschöpfen und weniger neue Schulden zu machen, ließ man sich frühzeitig eine andere Verwendung einfallen. Nach der Bundestagswahl, gerade versuchte der damalige Noch-Finanzminister Olaf Scholz (SPD), eine Koalition mit Grünen und FDP zu formen, suchten dessen Etat-Experten um den mächtigen Haushaltsstaatssekretär Werner Gatzer einen Weg, wie zumindest ein Teil der Kreditzusagen für 2021 in die Regierungszeit des künftigen Kanzlers Scholz gerettet werden konnte.

Die gefundene Lösung: Mittels eines Nachtragshaushalts wurden 60 Milliarden Euro in den Energie- und Klimafonds verschoben, der heute Klima- und Transformationsfonds heißt, kurz KTF. Aus Corona-Hilfen wurden Klima-Hilfen. Die Kreditzusagen waren so auf Jahre hinaus gesichert, der künftige grüne Klimaminister Robert Habeck zufrieden und der liberale Finanzminister in spe, Christian Lindner, nahm es hin – inklusive Vorwürfen der Trickserei.

Dass die Sache rechtlich heikel war, das wussten die Beamten im Finanzministerium von Anfang an. Sie waren sich sicher, dass jemand juristisch dagegen vorgehen würde. Es sollte nicht lange dauern. Die CDU/CSU-Fraktion im Bundestag tat es im Frühjahr 2022. Nun beschäftigt sich der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit dem 60-Milliarden-Euro-Manöver.

Im Zentrum steht die Frage: Wie haltlos darf in Notsituationen regiert werden? Je nachdem, zu welchem Urteil die Richter kommen, könnte der aktuelle Spardruck noch gewaltig steigen. Es ist das erste Mal, dass sich die obersten deutschen Verfassungsrichter mit der nach der Finanzkrise 2009 beschlossenen Schuldenbremse beschäftigen.

Ihr Urteil, das noch eine Zeit auf sich warten lassen wird, kann nicht nur die Haushaltssorgen von SPD, Grünen und FDP in den nächsten Jahren deutlich verschärfen. Es wird auf Jahre hinaus den Umgang mit der Schuldenbremse bestimmen – in die eine oder die andere Richtung. Entweder im Sinne all jener, die einen laxen Umgang unterstützen und am liebsten noch mehr Schulden machen würden. Oder im Sinne derer, die in der Schuldenbremse ein unerlässliches Instrument zur Disziplinierung der Politik sehen – angesichts der nach oben geschossenen Staatsverschuldung mehr denn je.

Haushaltsstreit in der Ampel droht zu eskalieren

„Wenn die Schuldenbremse im Grundgesetz effektiv eine Funktion haben soll, dann muss sie auch tatsächlich irgendeine Bremswirkung entfalten“, sagt Mathias Middelberg, stellvertretender Fraktionschef der Union und zuständig für Haushaltsthemen. Die Kreditermächtigungen aus dem Jahr 2021 müssten für den konkreten Fall einer „außergewöhnlichen Notsituation“ im Sinne des Artikels 115 Abs. 2 Satz 6 des Grundgesetzes genutzt werden. Der Notfall sei die Corona-Pandemie gewesen, nicht der Klimawandel.

Das von der Ampel-Koalition angeführte Argument, die 60 Milliarden Euro würden für nachzuholende Corona-Investitionen gebraucht, hält Middelberg für ein „Schein-Argument“. Zumal auch der zeitliche Bezug fehle. Die 60 Milliarden Euro seien 2021, als die Schuldenbremse ausgesetzt war, verbucht worden, würden aber erst in den kommenden Jahren ausgegeben.

„Kommt der Bundesfinanzminister mit dieser neuen Buchungssystematik durch, ist die Schuldenbremse des Grundgesetzes faktisch erledigt“, sagt er. Dann könnten in Notlagenjahren wie zuletzt willkürlich Milliardensummen auf Vorrat aufgenommen werden, um damit Ausgabenwünsche in den Nicht-Notlagenjahren zu finanzieren.

Die Bundesregierung sieht das anders. Es gebe sehr wohl einen direkten Zusammenhang zur Corona-Pandemie, verteidigt sie das Manöver. Denn ihretwegen seien in den Jahren 2020 und 2021 rund 53 Milliarden Euro weniger investiert worden als noch 2019 erwartet. „Insofern erweisen sich die für mehrere Jahre vorgesehenen 60 Milliarden Euro keinesfalls als außer Verhältnis zu den Krisenfolgen“, heißt es in der 72 Seiten umfassenden Stellungnahme der Bundesregierung aus dem Mai vergangenen Jahres.

Es gelte, die krisenbedingt eingebrochene Investitionstätigkeit zu beleben und die notwendige Transformation zu einer klimaneutralen Volkswirtschaft zu befördern. Verfasst wurde die Stellungnahme von den beiden Rechtsprofessoren Alexander Thiele von der Business & Law School in Berlin und Joachim Wieland von der Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer.

Wie viele von den 60 Milliarden Euro bislang ausgegeben wurden und damit zur Stabilisierung der Wirtschaft nach der Pandemie beigetragen haben, vermag das Bundesfinanzministerium nicht zu sagen. Ein Blick auf den Füllstand des KTF weckt Zweifel, dass es um einen größeren Betrag geht. Denn der Pegel sank zuletzt nicht, er stieg sogar. Nach Zahlen des Ministeriums waren Ende vergangenen Jahres knapp 91 Milliarden Euro in dem Sondertopf – fünf Milliarden Euro mehr als Anfang 2022.

Das liegt daran, dass sich der Fonds nicht nur aus Schulden speist, hinzu kommen laufende Einnahmen aus dem Handel mit Emissionsrechten und dem CO₂-Preis. Außerdem brauchen viele Investitionen einen gewissen Vorlauf. Die Mittel können also schon verplant, aber noch nicht abgeflossen sein. Trotz dieser unterschiedlichen, zum Teil gegensätzlichen Effekte lässt sich zumindest sagen: Die Zahlen liefern kaum Argumente dafür, dass das Geld dringend gebraucht wurde, um während der Corona-Krise ausgefallene Investitionen nachzuholen.

Was aber geschieht, wenn die Verfassungsrichter zu dem Schluss kommen sollten, dass die Umwidmung der Kreditermächtigungen von Corona zu Klima verfassungswidrig war? Die Antwort der Rechtsexperten der Bundesregierung klingt lapidar: Dies habe „keine, jedenfalls keine schweren Nachteile“, schreiben sie in ihrer Stellungnahme. Dies kann sich allerdings nur darauf beziehen, wie ein festgestellter Verstoß gegen das Grundgesetz wieder geheilt werden könnte, nicht darauf, welche Mühen das für die künftige Haushaltspolitik mit sich brächte.

Die Richter könnten laut Thiele und Wieland anordnen, dass bereits eingegangene finanzielle Verpflichtungen bei der Schuldenbremse erst dann berücksichtigt werden, wenn die Mittel tatsächlich abfließen. Oder die Richter könnten vorschreiben, dass die unzulässige Verschuldung prioritär abgebaut werden muss. „Damit würden dann zwar andere politische Prioritäten zurückgestellt. Das wäre jedoch eine notwendige Folge der dann verbindlich festgestellten Verfassungswidrigkeit des Zweiten Nachtragshaushalts 2021“, heißt es in der Stellungnahme.

Es gäbe weniger Geld, noch weniger, würde manch Ampel-Politiker sagen. Der aktuelle Haushaltsstreit wäre nichts gegen das, was dann käme.

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Habeck steht wegen Milliarden-Investitionen in der Kritik

9,9 Milliarden Euro

Habeck steht wegen Milliarden-Investitionen in der Kritik

Rund zehn Milliarden Euro Subventionen will die Bundesregierung an den Chiphersteller Intel bezahlen. Für die Förderzusage gibt es viel Zustimmung – aber auch Kritik.

Berlin – Der US-Chiphersteller Intel will für 30 Milliarden Euro Fabriken in Magdeburg bauen. Nach längeren Verhandlungen unterzeichneten die Bundesregierung und der Intel-Konzern am 19. Juni eine entsprechende Absichtserklärung. Demnach plant Intel nach eigenen Angaben Investitionen von mehr als 30 Milliarden Euro in Deutschland. Im Gegenzug soll das Unternehmen dafür 9,9 Milliarden Euro Subventionen von der Bundesregierung erhalten.

Die Ampel-Koalition stockte ihre Förderzusage während der laufenden Verhandlungen von ursprünglich 6,8 Milliarden Euro auf 9,9 Milliarden Euro auf, nachdem Intel die Investitionssumme für das neue Werk von anfänglich 17 Milliarden Euro auf die nun zugesagten mehr als 30 Milliarden Euro erhöht hatte. Noch Ende dieses oder Anfang kommenden Jahres solle der Bau in Magdeburg beginnen.

Über Monate war zuvor in Berlin hinter verschlossenen Türen hart gerungen worden. Intel hatte im März 2022 bekannt gegeben, dass in Sachsen-Anhalts Landeshauptstadt ab 2027 Chips produziert und dafür zwei Halbleiterwerke gebaut werden sollen. Mehrere Tausend Arbeitsplätze sollten entstehen. Und damit die Abhängigkeit von Asien minimiert werden.

Zehn Milliarden Euro für Intel: „Starke Investition in die Zukunft“

In der Bundesregierung hatte sich vor allem Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) für höhere Subventionen eingesetzt, um die Ansiedlung zu ermöglichen. Kritik am Kurs der Bundesregierung in der Industriepolitik wies Habeck zurück. „Wir haben in den vergangenen Wochen intensiv verhandelt und um eine Lösung gerungen, sodass die heutige gemeinsame Absichtserklärung möglich wurde“, erklärte der Grünen-Politiker. „Die Verständigung mit Intel ist ein großer Erfolg und eine starke Investition in die Zukunft“, betonte Habeck.

 

haben jetzt die Chance, ein neues florierendes und hochmodernes Chip-Ökosystem in Deutschland und Europa zu schaffen“. Es sei gemeinsames „strategisches Ziel“ Deutschlands und der EU, die europäische Halbleiterindustrie „widerstandsfähiger“ zu machen, fügte der Minister an.

Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen), Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, nimmt an der Sitzung des Bundestags teil

Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen), Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, nimmt an der Sitzung des Bundestags teil© Michael Kappeler/dpa

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sprach von der größten ausländischen Direktinvestition der deutschen Geschichte. „Mit dieser Investition schließen wir technologisch zur Weltspitze auf“. Vielleicht noch wichtiger: Deutschland könnte unabhängiger von Lieferbeziehungen zu Asien werden.

Lindner: „Es ist kein Geld vorhanden“ – Uneinigkeit in der FDP

Während SPD und Grüne die Pläne mit Intel befürworten, herrscht in der FDP Uneinigkeit. Finanzminister Christian Lindner betonte mehrfach, im Bundeshaushalt sei kein Geld mehr vorhanden. „Wir versuchen gerade, den Haushalt zu konsolidieren, nicht ihn zu erweitern“, sagte der FDP-Chef in einem Interview mit der Financial Times.

Für den Parlamentarischen Geschäftsführer der FDP-Fraktion Torsten Herbst hingegen sei die Einigung eine gute Nachricht für den Standort Deutschland. Sie stärke Deutschland als Halbleiter-Produktionsstandort. „Daran hängen nicht nur hoch qualifizierte und sehr gut bezahlte Arbeitsplätze, sondern auch modernste Produktionstechnologien.“

Auch Sachsen-Anhalts FDP-Fraktionschef Andreas Silbersack zeigte sich erfreut. „Es ist ein bedeutender Schritt in Richtung einer erfolgreichen wirtschaftlichen Zukunft für Sachsen-Anhalt“, sagte Silbersack am Montag. Die Ansiedlung des US-Chipherstellers in Sachsen-Anhalt sei „ein starkes Signal für den Standort und unterstreicht die Attraktivität unseres Landes für international renommierte Unternehmen“, so der FDP-Politiker.

Gleichermaßen findet die Förderung der Intel-Ansiedlung in der Landesregierung von Sachsen-Anhalt unter Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) Anklang. „Jetzt hoffe ich auf eine schnelle Umsetzung des Vorhabens“, erklärte Haseloff. Er danke dem Bund „für die erweitere Förderzusage“. Heute sei „ein guter Tag für Magdeburg und Deutschland“.

„Politik hat sich über den Tisch ziehen lassen“: Kritik an Milliarden-Förderung

Kritik hingegen gibt es von Wirtschaftsforschern und Mittelstandverbänden. „Die astronomische Summe, die Intel als Subventionen von der Bundesregierung zugesagt bekommen hat, ist kaum noch zu rechtfertigen“, sagte der Vorsitzende des Bundesverbands mittelständische Wirtschaft (BVMW), Markus Jerger am Dienstag. Es sei eine bedenkliche Entwicklung, dass sich Großinvestoren scheinbar nur noch bei erheblicher öffentlicher Kofinanzierung für den Standort Deutschland entscheiden.

Mit Aussagen zu Intel habe man das Unternehmen eingeladen, die Forderungen hochzutreiben, sagte der stellvertretende Leiter des Ifo-Instituts Dresden, Joachim Ragnitz. „Die Politik hat sich über den Tisch ziehen lassen, weil sie gesagt haben, wir wollen Euch unbedingt.“

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Deutschland droht Verlust von hochqualifizierten Arbeitskräften

im Vergleichstest

im Vergleichstest© Provided by Ever-growing GmbH

Immer mehr erfolgreiche Deutsche ziehen in Erwägung, ihre Heimat zu verlassen. Deutschland hat die dritthöchste Auswanderungsquote unter den 38 führenden Industrienationen – und drei Viertel der Auswanderer haben einen Hochschulabschluss. Jan, ein erfahrener Journalist und Experte für das Thema, teilt seine Einblicke und geheimen Insidertipps, um dieses Phänomen zu verstehen.

TL;DR: Die wichtigsten Erkenntnisse

  • Deutschland hat die dritthöchste Auswanderungsquote unter 38 Industrienationen
  • Drei Viertel der Auswanderer haben einen Hochschulabschluss
  • Politik versucht, Auswanderung mit Maßnahmen wie der Wegzugbesteuerung zu erschweren
  • Deutsche Bevölkerung gilt als international mobil
  • Neid auf Erfolgreiche spielt ebenfalls eine Rolle

Warum wollen Leistungsträger Deutschland verlassen?

Bei verschiedenen Veranstaltungen, die Jan besuchte, zeigte sich, dass viele Unternehmer ernsthaft über Auswanderung nachdenken. Sie sind frustriert von politischen Entscheidungen, Bürokratie und absurden Vorschriften, die ihren Geschäftsalltag belasten.

Politische Maßnahmen zur Eindämmung der Auswanderung

Die deutsche Politik versucht, die Auswanderung mit der sogenannten „Wegzugbesteuerung“ zu erschweren. Diese Steuermaßnahme behandelt auswandernde Unternehmer so, als hätten sie ihr Unternehmen verkauft, und der „Gewinn“ muss versteuert werden.

Die Auswanderer: Wer verlässt das Land?

Deutschland hat eine international mobile Bevölkerung. Die meisten deutschen Auswanderer sind unter 40 Jahre alt, beruflich erfolgreich und haben einen akademischen Abschluss. Laut einer Studie ziehen etwa 180.000 Deutsche jährlich in ein anderes Land und verdienen dort im Durchschnitt 1.200 Euro mehr im Monat als in Deutschland.

Der Neid auf Erfolgreiche als weiterer Faktor

Neben finanziellen Gründen spielen auch politische Unzufriedenheit und der Neid auf Erfolgreiche eine Rolle bei der Entscheidung zur Auswanderung. In einer internationalen Studie zeigt sich, dass der Neid auf „Reiche“ in Deutschland fast so groß ist wie in Frankreich.

Unternehmen ziehen ebenfalls ins Ausland

Die Situation ist für Unternehmen sogar noch dramatischer. Der Automobilverband VDA berichtet, dass mehr als ein Fünftel seiner Mitgliedsunternehmen ihre Standorte ins Ausland verlagern. Selbst das größte Chemieunternehmen der Welt, BASF, verlagert Teile der Produktion nach China, unter anderem aufgrund hoher Bürokratie, Regulierung und Energiekosten in Deutschland.

Die Folgen der Auswanderung von Leistungsträgern

Wenn immer mehr Unternehmen und hochqualifizierte Arbeitskräfte das Land verlassen, wird sich das auf die Wirtschaftsleistung und den Wohlstand in Deutschland auswirken. Daniel betont, dass ein Land nicht allein von Genderforschern, Gleichstellungsbeauftragten und Aktivisten leben kann. Die Auswanderung von Leistungsträgern ist ein Warnsignal, das ernst genommen werden sollte.

Fazit

Die Auswanderung von Leistungsträgern stellt Deutschland vor große Herausforderungen. Es ist wichtig, politische Entscheidungen und Rahmenbedingungen zu überdenken, um diesen Trend umzukehren und die Zukunft des Landes zu sichern. Daniel fordert die Leser auf, sich über dieses Thema zu informieren und kritisch zu hinterfragen, welche Maßnahmen ergriffen werden können, um hochqualifizierte Arbeitskräfte und Unternehmen im Land zu halten.

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Abschied von Maastricht? Jetzt mahnt der Rechnungshof die Regierung zu hartem Kurs

Die EU-Kommission will die Schuldenregeln in Europa reformieren. Scharfe Kritik an ihrem Vorschlag kommt jetzt vom Bundesrechnungshof. Es sei „de facto“ ein Abschied von den Maastricht-Kriterien, kritisieren die Kontrolleure. Bundestag und Regierung müssten jetzt ein Signal senden.

Beim Ringen um neue EU-Schuldenregeln spielt Finanzminister Lindner eine Schlüsselrolle dpa/Olivier Matthys

Beim Ringen um neue EU-Schuldenregeln spielt Finanzminister Lindner eine Schlüsselrolle dpa/Olivier Matthys© Bereitgestellt von WELT

Der Bundesrechnungshof übt scharfe Kritik am Vorschlag der EU-Kommission zur Reform der Schuldenregeln in Europa. „Es fehlen verbindliche Vorgaben, die den Abbau zu hoher Schulden zügig und nachhaltig sicherstellen“, heißt es in einem Prüfbericht an den Haushaltsausschuss des Bundestages, der WELT vorliegt.

Durch den Reformvorschlag würden langfristig stabile Finanzen innerhalb der Europäischen Union infrage gestellt. Der Rechnungshof fordert die Bundesregierung auf, sich konsequent für „ausreichend ambitionierte und verbindliche“ Vorgaben zur Reduzierung der Schuldenstände der EU-Mitgliedsländer einzusetzen.

Ab 2024 sollen die Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspaktes, der 1997 zu Vermeidung von Schuldenkrisen in Europa eingeführt wurde, wieder aktiviert werden. Sie sind seit 2020 ausgesetzt – zunächst wegen der Corona-Pandemie, dann wegen des Ukraine-Kriegs. Wobei auch davor immer wieder gegen die sogenannten Maastricht-Kriterien verstoßen wurde, ohne dass die Kommission entsprechende Strafen verhängt hätte.

Innerhalb der Europäischen Union ist man sich weitgehend einig, dass die Schuldenregeln überarbeitet werden müssen. Die Vorstellungen, wie dies zu geschehen habe, gehen allerdings weit auseinander.

Während hoch verschuldete Staaten wie Griechenland und Italien, aber auch Frankreich und Spanien, eher flexible Sparziele wollen, drängen andere EU-Staaten wie Deutschland, Österreich, Dänemark und viele osteuropäische Länder auf messbare Regeln.

Der Bundesrechnungshof sieht in dem von der EU-Kommission Ende April präsentierten Reformvorschlag eine Reihe von Schwachstellen. Vor allem fehle die Festlegung auf einen „endlichen und überschaubaren Zeitraum“, in dem die Schuldenstandsquote auf den Maastricht-Referenzwert von 60 Prozent des Bruttoinlandsproduktes zurückgeführt werden muss.

Vermeidung einer Schuldenkrise in Europa

Welcher Zeitraum es maximal sein sollte, müsse politisch entschieden werden. „Der Bundesrechnungshof hat aber erhebliche Zweifel, dass ein Zeitraum von 60 Jahren oder mehr angemessen ist“, heißt es in dem Bericht.

Ein Problem sieht der Bundesrechnungshof auch darin, dass die EU-Kommission bei der Frage, ob überhaupt ein übermäßiges Defizit vorliegt und ein entsprechendes Verfahren eingeleitet wird, einen „erheblichen Ermessensspielraum“ hat. Die Beamten der obersten Bundesbehörde mit Sitz in Bonn sehen das ursprüngliche Ziel des Stabilitäts- und Wachstumspaktes in Gefahr, nämlich die Vermeidung einer Schuldenkrise in Europa.

„Ein Regelwerk, das den Schuldenabbau zeitlich derart ausufern ließe, würde das Signal senden, dass sich die Europäische Union de facto vom Maastricht-Schuldenstandskriterium und damit von langfristig tragfähigen öffentlichen Finanzen in den Mitgliedstaaten verabschiedet“, lautet der Schlusssatz des Prüfberichts.

Die Bundesregierung habe in ihrem Vorstoß zwar „eine bessere Durchsetzung der Regeln, einschließlich einer regelbasierten Einleitung und Durchführung von Defizitverfahren“ gefordert, räumt der Rechnungshof ein. Bislang löse der Vorschlag der EU-Kommission diese zentrale Forderung aber nicht ein. Das Konzept der Bundesregierung sieht beispielsweise vor, dass Mitgliedstaaten mit hohen Schuldenständen die Verbindlichkeiten jährlich in Höhe von einem Prozent ihrer Wirtschaftsleistung abbauen müssen.

Bundesrechnungshof sieht Parlamentarier in der Pflicht

Der Bundesrechnungshof geht von „herausfordernden Verhandlungen“ in den kommenden Monaten aus und sieht deshalb nicht nur die Bundesregierung, sondern auch die Parlamentarier in der Pflicht. „Der Deutsche Bundestag sollte daher die Position der Bundesregierung stärken, indem er ihr in einer Stellungnahme Leitplanken für diese Verhandlungen gibt“, heißt es in dem Bericht.

Gestützt auf einen solchen Beschluss könne sich die Bundesregierung dann mit noch mehr Nachdruck dafür einsetzen, „verbindliche Mindestvorgaben im Regelwerk zu verankern sowie Auslegungs- und Ermessensspielräume der EU-Kommission zu begrenzen“.

Unterstützung dafür kommt aus den Reihen der größten Oppositionsfraktion im Bundestag. „Wir teilen die Bedenken des Bundesrechnungshofs, dass der Vorschlag der EU-Kommission die Einhaltung der Maastricht-Kriterien nicht sicherstellt“, sagt Christian Haase, haushaltspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, gegenüber WELT.

Um das Verhandlungsmandat der Bundesregierung zu stärken, sollten die Koalitionsfraktionen den Vorschlag aufgreifen und in einem Bundestagsbeschluss Positionen schriftlich fixieren. Die Union werde sich einem solchen Vorgehen nicht verschließen. „Angesichts der monetären und politischen Bedeutung halte ich ein solches Vorgehen für zwingend erforderlich“, sagt Haase.

Aus den Reihen der Koalitionsfraktionen äußert sich zunächst nur Otto Fricke, haushaltspolitischer Sprecher der FDP, zu der Rechnungshof-Forderung. „Ich finde viele der Anregungen des Hofes richtig“, sagt Fricke. Für eine Stellungnahme des Bundestages sehe er derzeit aber keine Mehrheit in der Koalition.

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Lauterbachs Krankenhausreform „eindeutige Verschlechterung für Patienten“

Bund und Länder verhandeln erneut über die Krankenhausreform von Gesundheitsminister Lauterbach. Markus Horneber, Vorstandschef von Deutschlands größtem konfessionellen Krankenhausträger, sieht darin einen perfiden Plan. Im WELT-Gespräch fordert er mehr Ehrlichkeit zu den Folgen.

null Getty Images/Thomas Barwick

null Getty Images/Thomas Barwick© Bereitgestellt von WELT

Mit bundesweit 20 Krankenhäusern und rund 22.000 Mitarbeitern ist Agaplesion der größte konfessionelle Krankenhausträger Deutschlands. Markus Horneber ist seit elf Jahren Vorstandschef der gemeinnützigen Aktiengesellschaft. Derzeit muss er die Kliniken des Unternehmens durch ein schwieriges wirtschaftliches und politisches Umfeld führen.

Die Inflation trifft konfessionelle Kliniken wie jene von Agaplesion besonders hart, da sie im Gegensatz zu kommunalen Krankenhäusern Verluste nicht durch die öffentliche Hand ersetzt bekommen. Neben der Teuerung hat Horneber mit den politischen Rahmenbedingungen zu kämpfen.

Durch die Krankenhausreform von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) befürchtet Horneber eine schlechtere Behandlungsqualität für Patienten. Von Lauterbach fordert er mehr Ehrlichkeit über die tatsächlichen Folgen der Reform.

WELT: Herr Horneber, viele Krankenhausbetreiber beklagen angesichts der hohen Inflation eine dramatische Finanzlage. Wie kommen die Kliniken von Agaplesion mit den gestiegenen Kosten zurecht?

Markus Horneber: Die Lage ist tatsächlich prekär. Die Vergütung unserer Leistungen durch die Krankenkassen deckt die gestiegenen Kosten nicht ab. Die Lücke zwischen den Zahlungen der Krankenkassen und der Inflation beträgt in unseren 20 Kliniken rund vier Prozent.

Die Energiekosten sind dabei noch unser geringstes Problem. Denn diese machen von den Gesamtkosten von Agaplesion gerade einmal 1,5 Prozent aus. Dass Herr Lauterbach den Kliniken nun die zusätzlichen Energiekosten ersetzen will, reicht einfach nicht.

WELT: Welche Auswirkungen wird die Kostenlawine für die Kliniken von Agaplesion haben? Rechnen Sie mit Insolvenzen von einzelnen Ihrer Krankenhäuser?

Markus Horneber ist Vorstandsvorsitzender der Agaplesion gAG Agaplesion gAG

Markus Horneber ist Vorstandsvorsitzender der Agaplesion gAG Agaplesion gAG© Bereitgestellt von WELT

Horneber: Die derzeitige Situation führt bei uns direkt in den Verlust. Unsere Gewinnmarge lag in der Vergangenheit bei circa einem Prozent und dieses Geld floss direkt in unsere Kliniken. Im Gegensatz zu privaten Krankenhausbetreibern streben wir auch keinen höheren Gewinn an. Während kommunale Kliniken und auch Universitätskliniken ihre Defizite über Steuereinnahmen decken können, bleiben wir auf unseren Verlusten sitzen.

Darin liegt eine erhebliche Wettbewerbsverzerrung. Momentan kommt uns zugute, dass wir unsere Verluste über unsere Altenhilfe ausgleichen können, die gerade in einer besseren Refinanzierungssituation ist. Zudem haben wir einen sehr gut organisierten Einkauf, der auch für andere Kliniken tätig ist. Dieser Einkauf hilft uns gerade, die gestiegenen Kosten auszugleichen.

WELT: Am 29. Juni tagt erneut das Bund-Länder-Treffen zur Krankenhausreform. Welche Erwartungen stellen Sie daran?

Horneber: Ich habe den Eindruck, dass die Krankenhausreform aus dem Bundesgesundheitsministerium insgesamt in eine falsche Richtung führt. Daran wird auch dieses Treffen nichts ändern. Mich stört, dass überhaupt nicht mehr darüber diskutiert wird, wie sinnvoll die Vorschläge der Reformkommission überhaupt sind. Stattdessen dreht sich die Diskussion nur noch um die Ausgestaltung dieser Reformvorschläge. Was mich aber am meisten an dieser Reform stört, ist die Kommunikation des Bundesgesundheitsministers.

Es ist klar, dass durch diese Reform Krankenhäuser schließen werden. Aber niemand aus dem Ministerium redet mit den Klinikträgern darüber, welche Krankenhäuser schließen und welche erhalten bleiben sollen. Ich appelliere für mehr Ehrlichkeit in dieser Diskussion.

WELT: Welche Folgen wird die Krankenhausreform für die Kliniken von Agaplesion haben?

Horneber: Diese Reform wird für Patienten zu einer schlechteren Behandlungsqualität und längeren Wartezeiten führen. Zudem können sich Patienten in Deutschland bislang aussuchen, in welcher Klinik sie sich behandeln lassen. Diese Wahlfreiheit wird durch die Reform drastisch eingeschränkt. Wenn bestimmte Leistungen etwa nur noch von Unikliniken erbracht werden dürfen, muss man sich als Patient eben auch dort behandeln lassen.

Das ist eine eindeutige Verschlechterung für Patienten. Man muss nur nach England und auf die dortigen Wartezeiten in Kliniken blicken, um zu wissen, was in Deutschland auf uns zukommt. Herr Lauterbach behauptet zwar immer, dass die Reform die Qualität der Behandlung verbessern würde. Passieren wird aber genau das Gegenteil. Die Qualität der Behandlung wird zurückgehen.

WELT: Gleichzeitig hat Deutschland mit rund 1900 Krankenhäusern laut vielen Beobachtern ein Überangebot an Kliniken. Wäre es nicht sinnvoll, einige davon zu schließen, und die Patientenströme gezielter zu steuern?

Horneber: Das stimmt. Es gibt momentan zu viele Krankenhäuser. Wir bei Agaplesion haben deshalb bereits rund zehn Kliniken zusammengelegt. Insgesamt rechne ich damit, dass 200 bis 300 Kliniken schließen müssen. Die Bundesländer, die für die Struktur der Krankenhäuser verantwortlich sind, könnten hier sehr viel stärker wirken.

Das haben die Länder aber nicht gemacht. Und deshalb macht der Bund jetzt eine Art Ersatzvornahme und versucht über absurde Regelungen jene Krankenhäuser vom Netz zu nehmen, die einfach nicht über genügend Liquidität verfügen. Das ist der Plan, der hinter dieser Krankenhausreform steckt. Und das ist, wenn sie mich fragen, ein ziemlich perfider Plan.

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Gastbeitrag von Gabor Steingart - Eine lautlose Macht raubt uns jeden Tag ein Stückchen Freiheit

Die eigentlichen Gegner von Scholz, Lindner und Habeck sind nicht Weidel oder Merz, sondern die deutsche Staatlichkeit IMAGO/Political-Moments

Die eigentlichen Gegner von Scholz, Lindner und Habeck sind nicht Weidel oder Merz, sondern die deutsche Staatlichkeit IMAGO/Political-Moments© IMAGO/Political-Moments

Zuweilen beschleicht einen das unheimliche Gefühl, nicht SPD, CDU, FDP oder die Grünen regieren den Staat, sondern der Staat regiert sich selbst. Alle für die Zukunft relevanten Themengebiete – der Klimaschutz, die Arbeitsmigration, der Wohnungsmarkt und die Künstliche Intelligenz – werden, kaum hat die Politik das Tor geöffnet, von einer Armee der Bürokraten besetzt.

Diese leben davon, dass sie Anträge entwerfen, verteilen, einsammeln, bewerten, genehmigen, ablehnen und immer so weiter. Bis zu sieben Prozent des Umsatzes einer Firma – also das Doppelte der durchschnittlichen Gewinnmarge – müssen laut Berechnungen des Normenkontrollrates heute für Bürokratie ausgegeben werden.

Der sogenannte „Erfüllungsaufwand“ steigt permanent, denn Bürokraten lieben Bürokraten. Sie sehen überall Regulierungsbedarf:

  • Knapp 10.000 gesetzliche Informationsverpflichtungen mit einer Gesamtbelastung der Unternehmen von jährlich knapp 50 Milliarden Euro für diesen „Erfüllungsaufwand“ hat der Normenkontrollrat der Bundesregierung gemessen.
  • Jedes Jahr kommen 350 bis 400 Entwürfe für zusätzliche Gesetze und Verordnungen hinzu.

Bürokratie zwingt den Bürger in den Status eines Untertanen

Es ist eine lautlose Macht, die da im Inneren unserer Staatlichkeit wirkt. Aus Gründen der Tarnung verzichtet sie auf alle Symbole der Machtergreifung. Keine Barrikade brennt. Keine Guillotine schneidet Kehlen durch. Es donnern keine Kanonen. Nur ewig raschelt das Papier.

Die Bürokratie zwingt den Bürger in den Status eines Untertanen. Es findet eine alltägliche Freiheitsberaubung statt, die nicht nur die Unternehmerfreiheit, sondern – und da wird die Geschichte politisch brisant – auch den Spitzenpolitiker seiner Durchschlagskraft beraubt.

Angefangen beim Reformkanzler Gerhard Schröder – dessen einfaches Motto „fördern und fordern“ durch die Arbeitsmarktgesetze für Hartz IV in ein kafkaeskes System von Belohnung und Bestrafung verwandelt wurde – gibt es heute keinen Spitzenpolitiker, der seine Ziele wirklich noch erreicht. Die Bürokratie schrumpft die Demokratie:

Beispiel Wohnungsbau: Die Politiker sehen, spüren und adressieren das Thema. Sie wissen, dass die Wohnungsnot, die mit jedem Zugezogenen eine Verschärfung erfährt, einen politischen Gärungsprozess vorantreibt, der bis zu ihrer Marginalisierung führen kann.

Rund 3.700 Normen sind für das Bauen in Deutschland relevant

In einer marktwirtschaftlich organisierten Immobilienwirtschaft würden jetzt neue Wohnungen und Häuser nur so aus dem Boden sprießen. Es wäre für den Kanzler ein Leichtes, sich sein Versprechen von den zusätzlichen 400.000 Wohnungen pro Jahr von den Wohnungsbaugesellschaften erfüllen zu lassen – trotz steigender Refinanzierungskosten.

Aber es herrscht keine Marktwirtschaft mehr. Rund 3.700 Normen sind für das Bauen in Deutschland relevant. Eine schier undurchdringliche und noch dazu kostspielige Bau-Bürokratie hat sich gebildet, die alle Prozesse beherrscht und im Bermudadreieck von Mieterschutz, Klimaschutz und Denkmalschutz jede Rentabilität versenkt.

Das Versprechen von Olaf Scholz wird vor aller Augen entwertet. Seine 400.000 Wohnungen bleiben eine Illusion.

Verkehrsschilder im Wert von 2,5 Milliarden Euro

Beispiel Verkehr: Verbotsschilder, Vorschriftzeichen, Gefahrzeichen, Richtzeichen, Verkehrslenkungstafeln, Hinweisschilder, Wegweiser und Zusatztafeln: Mittlerweile stehen Verkehrsschilder im Wert von 2,5 Milliarden in der Bundesrepublik herum. Der Verkehr wird obsessiv reguliert, nur der von den Politikern versprochene und von den Bürgern gewünschte Umstieg auf klimafreundliche Antriebe klappt nirgendwo und am schlechtesten bei der Staatsbahn.

Hier feiert der Staat das Festival seiner Unfähigkeit. Nicht mal die Verlagerung des Gütertransports von der Straße auf die Schiene kommt voran. Die einzigen beiden Aggregate, die bei der Staatsbahn zulegen, sind die Verschuldung und die Verspätung.

Die Politik verbietet ab 2035 den Verbrennermotor, aber kann bei der Elektrifizierung des deutschen Straßennetzes keine Erfolge vorweisen. Der Anteil der erneuerbaren Energie im Verkehrswesen liegt nach den aktuellen Zahlen des Umweltbundesamtes unter sieben Prozent und hat sich seit 15 Jahren nicht positiv entwickelt.

Mit jeder Reform verschlechtert sich die Arbeitsmarktintegration

Beispiel Migration: Arbeitsminister Hubertus Heil und der Bundeskanzler wissen, dass die Bundesrepublik dringend qualifizierte Zuwanderung braucht. Allein bis zum Jahr 2025 wird das Arbeitskräftepotenzial altersbedingt um zwei Millionen Menschen kleiner werden, bis zum Ende des Jahrzehnts 2030 um mehr als 4,5 Millionen Menschen. Seit Jahren werden daher immer wieder Änderungen am Einwanderungsgesetz vorgenommen. Die Wirkung? Ernüchternd.

Wie eine ZEW-Studie zeigt, hat sich die Arbeitsmarktintegration in den letzten Jahren mit jeder Reform nur weiter verschlechtert.

  • Migranten aus dem EU-Ausland weisen bei der Ankunft eine um rund 40 Prozentpunkte niedrigere Beschäftigungswahrscheinlichkeit gegenüber Einheimischen auf.
  • Der Langzeitvergleich zeigt, dass sich in den letzten 50 Jahren die Arbeitsmarktchancen weiter verschlechtert haben. Die Beschäftigungsquote von neu Zugewanderten sank in diesem Zeitraum um 11 Prozent.

Ausbau der Erneuerbaren stockt

Beispiel Energiewende: Im Jahr 2022 stammten nach den Berechnungsvorschriften der EU-Richtlinie zur Förderung erneuerbarer Energien 80 Prozent des deutschen Energieverbrauchs aus fossilen Energieträgern. Gegenüber dem Vorjahr stieg der Anteil der Erneuerbaren um lediglich 1,2 Prozentpunkte. Der weitere Ausbau ist ins Stocken geraten, weil bürokratische Genehmigungsverfahren ihn behindern.

Strenge Abstandsregeln machen den Zubau der Windräder fast unmöglich. Zwei Prozent der deutschen Fläche sollen laut Gesetz bis Ende 2032 der Windenergie gewidmet sein, aber die bürokratischen Regeln machen dieses Ziel unrealistisch. Derzeit sind 0,8 Prozent für Windkraftanlagen an Land ausgewiesen – allerdings sind nur 0,5 Prozent tatsächlich für Investoren verfügbar.

In Bayern stehen heute nur 0,1 Prozent der Landesfläche für die Windkraft zur Verfügung. Schuld daran sind besonders strenge Abstandsregeln: Die „10-H-Regel“ sieht vor, dass der Abstand eines Windrades zu einer Wohnsiedlung mindestens das Zehnfache seiner Höhe betragen muss. Da moderne Windräder rund 200 Meter hoch sind, umfasst die Tabuzone also meist mehr als zwei Kilometer im Umkreis einer Gemeinde.

Außer an den Küsten von Nordsee und Ostsee sieht es nirgendwo besser aus. In Sachsen etwa sind nur 0,2 Prozent der Landesfläche für Windkraft freigegeben. Und in Nordrhein-Westfalen hat jüngst ein neues Gesetz die verfügbare Fläche weiter eingegrenzt. Dort müssen Windräder neuerdings den Mindestabstand von 1000 Metern zu Wohngebieten halten, was auf diesem dicht besiedelten Gebiet Europas einem Baustopp gleichkommt.

Leistungsfähigkeit des Staates unzureichend

Warum das alles wichtig ist?

Die bürokratische Dominanz fügt den demokratischen Politikern einen fortgesetzten Reputationsverlust zu. Ihre Worte klingen hohl, ihre Autorität schwindet. Die mangelnde Effizienz unseres Staates wird den Politikern zur Last gelegt, wie Renate Köcher, die Chefin des Allensbach Instituts ermittelt hat. In der „FAZ“ vom Samstag schrieb sie:

"Die wachsende Verunsicherung in Deutschland hat unter anderem mit dem Eindruck zu tun, dass die Leistungsfähigkeit des Staates unzureichend ist und sich weiter verschlechtert."

Fazit: Die eigentlichen Gegner von Scholz, Lindner und Habeck sind nicht Alice Weidel oder Friedrich Merz, sondern es ist die deutsche Staatlichkeit. Der Versuch, den Stillstand durch immer neue Regulierungen zu überwinden, bekämpft den Zustand, indem es ihn verschlimmert. Der von den Politikern beschrittene Weg erinnert an eine Sackgasse. Oder wie der kolumbianische Essayist und Philosoph Nicolás Gómez Dávila zu sagen pflegte:

"Sterbende Gesellschaften häufen Gesetze an wie die Sterbenden Heilmittel."

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Hohe Belastung: Der Steuer-Standort Deutschland ist nicht mehr konkurrenzfähig – sagt jetzt auch die Regierung

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Foto: dpa Picture-Alliance data-portal-copyright=© Bereitgestellt von Wirtschaftswoche

Deutsche Unternehmen zahlen die höchsten Steuern, Singles haben die zweithöchste Abgabenbelastung im Industriestaatenvergleich. Die Wirkung ist leistungsfeindlich. Das räumt nun sogar die Bundesregierung ein.

Der Standort Deutschland ist aus steuerpolitischer Sicht eine Katastrophe. Darauf lassen Daten schließen, die das Bundesfinanzministerium in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der CDU/CSU-Bundestagsfraktion beilegt. Die Steuerquote für deutsche Unternehmen lag demnach bei 30 Prozent – das bedeutet einen Spitzenplatz in einer Gruppe von 33 Industriestaaten.

Für die schwächelnde, inzwischen in eine Rezession gerutschte Wirtschaft sei das ein Problem, räumt das FDP-geführte Bundesfinanzministerium ein: „Die im internationalen Vergleich hohe Unternehmenssteuerbelastung hat Auswirkungen auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit.“

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Trotzdem bleibt das Finanzministerium vage, was mögliche Entlastungen für die Wirtschaft betrifft, insbesondere steuerliche Investitionsanreize. Der Grund: Die Koalitionspartner SPD und vor allem die Grünen sind strikt gegen niedrigere Steuern für Unternehmen. Dabei drängt sich die Frage der Standortattraktivität für Deutschland immer stärker auf. Erst in der vorigen Woche wurde bekannt, dass ein Vielfaches an Investitionsmitteln aus Deutschland herausfließt, als umgekehrt hierzulande von ausländischen Unternehmen investiert wird. Die Debatte, wie unattraktiv und unproduktiv die Bundesrepublik (geworden) ist, hat gerade unzweifelhaft Konjunktur.

Teilweise 35 Prozent Steuern – Skandinavien liegt bei 20 bis 22 Prozent

Die bereits hohe 30-prozentige Steuerlast für deutsche Unternehmen, die aus der Übersicht des Ministeriums hervorgeht, ist dabei nur ein Durchschnittswert. In Städten mit hohen Gewerbesteuersätzen wie Berlin oder Oberhausen steigt die Steuerquote für dort ansässige Unternehmen sogar auf bis zu 35 Prozent. Sie haben es gegenüber der internationalen Konkurrenz besonders schwer. So mussten laut Auflistung des Bundesfinanzministeriums (Stand 2021) Unternehmen aus den USA (New York), Kanada und Frankreich etwa 26 Prozent zahlen. Viele osteuropäische Länder liegen unter 20 Prozent, die skandinavischen Staaten kassieren von ihren Unternehmen zwischen 20 und 22 Prozent.

Teurer sind laut BMF im statistischen Mittel nur noch Japan mit gut 30 Prozent und Malta mit nominal 35 Prozent; auf der Mittelmeerinsel bekommen aber die Firmen üblicherweise einen Großteil der Steuern rückerstattet. An der Tatsache, dass Deutschland Höchststeuerland ist, ändert sich auch durch die Einführung der globalen Mindeststeuer von 15 Prozent wenig – auch wenn das Bundesfinanzministerium darauf hinweist. Denn auch dann liegt die Steuerlast für Unternehmen in Deutschland doppelt so hoch wie diese neue Benchmark für Niedrigsteuerländer.

Singles ziehen hier den Kürzeren

Nicht besser sieht es in Deutschland für Arbeitskräfte aus, wenn sie sich auf der Lohnsteuerkarte als Singles ausweisen. Ein-Personen-Haushalte hätten laut OECD-Berechnungen die zweithöchste Abgabenbelastung aller verglichenen Industrieländer, schreibt das Finanzministerium in seiner Antwort auf die CDU/CSU-Anfrage. Deutsche Singles müssen fast die Hälfte ihres Einkommens an Fiskus und Sozialkassen abgeben, im Nachbarland Schweiz sind es keine 25 Prozent. Im Kampf um junge Talente zieht Deutschland einmal mehr den Kürzeren.

Dass Steuersenkungen eine belebende Wirkung sowohl für die Wirtschaft als auch für den Arbeitsmarkt hätten, bestreitet das Bundesfinanzministerium gar nicht. Im Gegenteil: Unternehmen würden an „preislicher Wettbewerbsfähigkeit“ gewinnen. „Das kann die Investitionstätigkeit und Innovationskraft der Unternehmen stärken.“ Weiter: „Auf Seiten der Bürgerinnen und Bürger erhöht eine sinkende Abgabenbelastung die Nettolöhne und schafft Anreize zur Beschäftigungsaufnahmen oder auch zur Verschiebung des Ruhestands.“

Damit ließe sich eine positive Spirale in Gang bringen, so das Finanzministerium weiter: „Eine Beschäftigungsausweitung und höhere Investitions- und Konsumtätigkeit dürften für sich genommen zu einem  Anstieg von Steuer- und Sozialbeitragseinnahmen und ggfs. Minderausgaben in der Grundsicherung für Arbeitssuchende und in der Arbeitslosenversicherung führen.“

Christian Lindner muss herumdrucksen

Warum aber senkt die Bundesregierung dann nicht die Steuern? Verdruckst räumt das FDP-geführte Finanzministerium ein, dass Steuersenkungen zu Mindereinnahmen für den Staat führen würden. Zumindest kurzfristig, ohne Berücksichtigung der positiven Effekte. Zudem muss Finanzminister Christian Lindner als Mitglied der Ampelregierung vorsichtig agieren. Er selbst würde gern wollen, darf aber die roten und grünen Partner nicht zu sehr reizen. So bleibt das Finanzministerium zunächst vage, etwa mit der Aussage: „Die Bundesregierung arbeitet kontinuierlich daran, die Investitionsbedingungen für Unternehmen zu verbessern.“

Darüber kann sich der CDU-Finanzpolitiker Fritz Güntzler nur wundern: „Im ersten Halbjahr 2023 hat die Ampel kein einziges Steuergesetz mit Verbesserungen vorgelegt. Es herrscht steuerpolitischer Stillstand.“

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Analyse von Ulrich Reitz - Migranten sollen unsere Rente retten? Wir müssen reden, Herr Scholz

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) IMAGO/Political-Moments

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) IMAGO/Political-Moments© IMAGO/Political-Moments

Der Bundeskanzler hat ein neues Fass aufgemacht: Mehr Einwanderung soll für eine sichere Rente sorgen. Ein Fakten-Check zeigt: Zweifel sind erlaubt. Am Mittwoch hat Scholz Gelegenheit zu erklären, was er meint.

Nachdem Bundeskanzler Olaf Scholz seinem Land zum „besten Einwanderungsgesetz der Welt“ verholfen hat, denkt der Regierungschef nun offenbar weit über die Linderung des Fachkräftemangels hinaus. Die Einwanderung soll Deutschlands Renten sichern. Migration für die Rente – kann das funktionieren?

Zunächst: Was hat Olaf Scholz genau gesagt zu dem Thema? Hier sein Zitat aus dem „Sommer“-Interview im ZDF: „Damit wir eine gute Zukunft haben, damit unser Arbeitsmarkt funktioniert, damit unsere Wirtschaft wächst, werden wir gute Fachkräfte, Arbeitskräfte von außerhalb Deutschlands brauchen – sonst sind die Renten nicht sicher. Und das muss man und darf man dann auch in Deutschland überall sagen und muss sich dem Streit stellen.“

Die Asyl-Einwanderung stabilisiert nicht die Finanzen, sie destabilisiert sie

Das Gros der Einwanderung, die aktuell nach Deutschland stattfindet, bringt unter dem Strich weder Geld in die Steuer- noch in die Rentenkassen. Die Migration kostet den Steuerzahler viel Geld: Rund 22 Milliarden Euro gibt allein der Bund für die Flüchtlingspolitik aus. Allein knapp zehn Milliarden davon fließen in Sozialtransfers nach dem Asylverfahren, sprich ins Bürgergeld, früher Hartz IV.

Hinzu kommen noch die Ausgaben der Länder und der Gemeinden, über die heftig gerungen wird, weil sich die Kommunen am Ende ihrer Aufnahmefähigkeit sehen. Gar nicht mit Zahlen hinterlegt sind die sozial bedingten Folgekosten der ungesteuerten Einwanderung – weil der Staat immer mehr Geld für Wohnraum für Flüchtlinge ausgeben muss und weil die Kosten an den Schulen mit den wachsenden Migrantenzahlen steigen.

Die Asyl-Einwanderung stabilisiert nicht die Finanzen, sie destabilisiert sie. Besser, aber auch nicht wirklich gut sieht es bei einem anderen großen Anteil der Einwanderung nach Deutschland aus: der Familienzusammenführung. Er ist in etwa so groß wie die Summe der Asyl-Einwanderung. Wie aus einer Studie des Bundesfamilienministerium von Ende 2020 hervorgeht, kamen meistens Frauen, von denen wiederum die meisten Kinder betreuten. Von ihnen arbeitet nur weniger als jede zweite Frau, die meisten unterhalb ihrer Qualifikation, die meisten in Teilzeit.

Falls Deutschland tatsächlich ein Einwanderungsland ist, dann kein erfolgreiches.

Verantwortlich dafür sind nicht nur die mitunter patriarchalischen Rollenbilder in den Einwanderungsfamilien, sondern auch die in deutschen Behörden. „Gerade nachreisende Frauen werden in der Phase der Einwanderung von den beratenden Stellen oft nicht mit ihren Bedarfen und Potenzialen, sondern nur als 'im Schatten des Mannes stehend' betrachtet", heißt es in der Studie.

Bei der Familien-Einwanderung zeigt sich: Auch hier findet eine Integration in den deutschen Arbeitsmarkt bei weitem nicht so erfolgreich statt, wie es sogar aufgrund der Qualifikation der Eingewanderten möglich wäre. Falls Deutschland, wie von der Bundesregierung behauptet wird, tatsächlich ein Einwanderungsland ist, dann kein erfolgreiches. Eine langfristige Sicherung der Renten, wie sie sich der Kanzler von der Einwanderung verspricht, ist also auch von der Familien-Migration nicht zu erwarten.

Das soll sich nun ändern durch die Fachkräfte-Einwanderung. Die Zahl der nötigen Einwanderer in dieser Gruppe, die meistens genannt wird, lautet: 400.000 pro Jahr. Zuletzt erklärte jedoch eine Wirtschaftsweise diese – hohe und niemals erreichte – Zahl für bei weitem zu niedrig. Nötig seien nicht 400.000 eingewanderte Fachkräfte, sondern: 1,5 Millionen. Im Jahr. So Monika Schnitzer.

Von der Einwanderung eine Finanzierung der Renten zu erwarten, ist im Moment eine Illusion

Die Bundesregierung selbst rechnet allerdings mit 70.000 zusätzlichen Einwanderern aus dem nun eingeführten Punkteverfahren. Hinzukommen sollen noch einmal 50.000 aus der Übernahme der Regeln aus dem seit einigen Jahren laufenden Westbalkanverfahren. Insgesamt also: 120.000 Fachkräfte-Einwanderer.

Eine Zahl allerdings, die vor allem eines ausdrückt: eine Hoffnung. Einwanderungsexperten zweifeln an der Attraktivität Deutschlands als Einwanderungsland für Qualifizierte, von Eliten, wie sie weltweit umworben werden, ganz zu schweigen. Das Haupthindernis für die Einwanderung nach Deutschland ist die deutsche Sprache – die meisten Einwanderer sprechen Englisch. Weshalb die Wirtschaftsweise Schnitzer konsequenterweise vorschlägt, auf den Einwanderungsämtern solle Englisch Pflicht werden.

Das allergrößte Problem allerdings, sind die Unternehmen in Deutschland, von denen nur die wenigsten englischsprachige Arbeitsplätze anbieten.

Jedenfalls: Von der Einwanderung nach Deutschland eine Finanzierung der Renten in der Zukunft zu erwarten, ist im Moment eine Illusion. Die entsprechende Erwartungshaltung des Bundeskanzlers verdient also den von ihm selbst empfohlenen Streit darüber.

Vielversprechender ist die Reserve der „silbernen Fachkräfte“

Bisher hat die Bundesregierung noch nicht einmal den Versuch gemacht, zu erläutern, wie sie sich eine Entlastung der Rentenkassen durch die Einwanderung vorstellt. Es ist bislang eine bloße Behauptung des Regierungschefs. Gegen die Zahlen sprechen alle drei großen Einwanderungsbereiche: Asyl-, Familien- wie Fachkräfte-Einwanderung.

Ganz abgesehen davon, dass der bestehende deutsche Arbeitsmarkt noch Möglichkeiten bietet, mehr Arbeitskräfte und damit Rentenzahler zu erreichen. Unions-Fraktionsvize Jens Spahn verweist auf eine „Reserve-Armee“ aus der bislang prekären Beschäftigung: 2,5 Millionen 18- bis 34-jährige Menschen ohne Berufsabschluss. Plus 3,9 Millionen erwerbsfähige Sozialhilfe-Bezieher. Allerdings: Diese besser in den Arbeitsmarkt zu integrieren, hat noch nie funktioniert, auch nicht in den Jahren, in denen die Union regierte.

Vielversprechender ist die Reserve, die CDU-Programm-Denker Carsten Linnemann mit den „silbernen Fachkräften“ adressiert. Sein Vorschlag: Rentnern, die länger arbeiten, die Steuern ganz zu erlassen. Nicht aber die Sozialabgaben – womit sie ganz im Sinne von Scholz einen potenten Beitrag zur Finanzierung der Renten leisten würden.

Zum Linnemann-Vorschlag passt eine Insa-Umfrage: 52 Prozent der von dem Demoskopie-Institut Befragten würden über die Altersgrenze hinaus arbeiten, wenn sie es steuerfrei tun könnten.

Am Mittwoch steht der Bundeskanzler im Parlament den Abgeordneten Rede und Antwort. Eine gute Gelegenheit, zu erfahren, wie er diesen Vorschlag findet. Und natürlich zu hören, wie er sich sein „Rein nach Deutschland für die Rente“ denn nun vorstellt.