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Streit um EU-Asylreform

Brüssel: Unmut über die Bundesregierung wächst

Annalena Baerbock (Archivbild): Sie überrascht mit ihren Aussagen zur Reform der EU-Migrationspolitik. (Quelle: IMAGO/Thomas Trutschel/imago)

Annalena Baerbock (Archivbild): Sie überrascht mit ihren Aussagen zur Reform der EU-Migrationspolitik. (Quelle: IMAGO/Thomas Trutschel/imago)© T - Online

Das Europaparlament will die Verhandlungen über eine Reform der Migrationspolitik blockieren. Verantwortlich dafür soll vor allem die Position der Bundesregierung sein.

Die Bundesregierung gerät wegen ihrer Ablehnung von Vorschlägen zur geplanten Reform des EU-Asylsystems zunehmend unter Druck europäischer Partner. Die Position Berlins sei maßgeblich dafür verantwortlich, dass notwendige Verhandlungen mit dem Europaparlament derzeit blockiert seien, sagten mehrere Diplomaten und EU-Beamte der Deutschen Presse-Agentur vor einem Innenministertreffen an diesem Donnerstag.

Wenn es eine Chance geben solle, die Asylreform noch vor der Europawahl zu beschließen, müsse sich die Bundesregierung bewegen und dem Vorschlag für die sogenannte Krisenverordnung zustimmen. Unter Druck geraten damit vor allem die deutschen Grünen. Sie gelten als entscheidend für die bislang unnachgiebige Positionierung der Bundesregierung.

Bundesregierung gegen Krisenverordnung

In dem Streit geht es konkret darum, dass die Regierung aus SPD, Grünen und FDP im Juli einen Vorschlag der spanischen EU-Ratspräsidentschaft für die Krisenverordnung nicht unterstützen wollte. Die EU-Staaten konnten sich deshalb nicht für Verhandlungen mit dem Europaparlament positionieren.

Berlin begründete dies in Brüssel insbesondere damit, dass EU-Staaten über die Verordnung die Möglichkeit bekämen, die Schutzstandards für diese Menschen in inakzeptabler Weise abzusenken, wenn besonders viele Migranten auf einmal in der EU ankommen.

So soll etwa in Krisensituationen der Zeitraum verlängert werden können, in dem Menschen unter haftähnlichen Bedingungen festgehalten werden können. Zudem könnte der Kreis der Menschen vergrößert werden, der für die geplanten strengen Grenzverfahren infrage kommt.

Das Europaparlament (Archivbild): Es hat eine Blockade von Verhandlungen über die geplante Reform des EU-Asylsystems angekündigt. (Quelle: Virginia Mayo/AP/dpa/dpa-bilder)

Das Europaparlament (Archivbild): Es hat eine Blockade von Verhandlungen über die geplante Reform des EU-Asylsystems angekündigt. (Quelle: Virginia Mayo/AP/dpa/dpa-bilder)© T - Online

Verhandlungen auf Eis gelegt

Aus Ärger über den Stillstand kündigte das Europaparlament in der vergangenen Woche an, andere Teile der Verhandlungen über die geplante Asylreform bis auf Weiteres zu blockieren. Brisant sind die Verzögerungen vor allem wegen der nahenden Europawahl im Juni 2024. Projekte, die bis dahin nicht mit den Regierungen der Mitgliedstaaten ausgehandelt sind, könnten anschließend wieder infrage gestellt werden und sich lange verzögern.

Im Fall der geplanten Reform des Asylsystems wäre dies ein besonders großer Rückschlag. An dem Projekt wird bereits seit Jahren gearbeitet. Es soll auch dazu beitragen, die irreguläre Migration zu begrenzen und dürfte deswegen auch bei anstehenden Wahlen in den Mitgliedstaaten und der Europawahl eine Rolle spielen. Vor allem rechte Parteien wie die AfD werfen der EU seit langem Versagen im Kampf gegen irreguläre Migration vor.

Asyl-Paket droht zu platzen

Eine schnelle Einigung in dem Streit ist nicht in Sicht. Ein Diplomat sagte der dpa, südliche EU-Staaten hätten andere Teile der geplanten Reform nur akzeptiert, weil sie sich sicher gewesen seien, im Gegenzug in Krisensituationen mehr Flexibilität zu bekommen. Wenn dies nun infrage gestellt werde, könne das ganze Paket platzen.

Zu diesem gehört neben den Regeln für Krisensituationen, dass Erstaufnahmestaaten Asylanträge von Geflüchteten aus Herkunftsländern mit einer Anerkennungsquote von weniger als 20 Prozent in Zukunft innerhalb von zwölf Wochen prüfen sollen. In dieser Zeit will man die Schutzsuchenden verpflichten, in streng kontrollierten Aufnahmeeinrichtungen zu bleiben. Wer keine Chance auf Asyl hat, soll umgehend zurückgeschickt werden.

Politisches Kalkül vor Landtagswahlen?

Unverständnis über die deutsche Positionierung gibt es insbesondere, weil die Standardregeln dem aktuellen Vorschlag zufolge gar nicht automatisch, sondern erst nach Zustimmung des Rates der Mitgliedstaaten und unter strenger Aufsicht der EU-Kommission aufgeweicht werden dürften. Es blieben demnach auch in einer Krisensituation noch etliche Kontrollmöglichkeiten, um Missbrauch zu verhindern.

Als mögliches politisches Manöver vor den Landtagswahlen in Bayern und Hessen wird deswegen auch gesehen, dass die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock die Haltung der Bundesregierung am Wochenende überraschenderweise nicht mehr mit Menschenrechtsbedenken, sondern damit erklärte, dass so noch mehr Geflüchtete nach Deutschland kommen könnten.

So hatte die Grünen-Politikerin am Wochenende ohne Erklärungen im Kurznachrichtendienst X geschrieben: "Statt geordneter Verfahren würde insbesondere das große Ermessen, das die aktuelle Krisenverordnung für den Krisenfall einräumt, de facto wieder Anreize für eine Weiterleitung großer Zahlen unregistrierter Flüchtlinge nach Deutschland setzen."

Zudem kritisierte sie, eine zusätzliche Krisenverordnung "nachzuschieben", drohe neue geordnete Verfahren "durch die Hintertür" kaputtzumachen – obwohl der grundlegende Vorschlag der EU-Kommission dazu bereits seit September 2020 auf dem Tisch liegt.

Öffentliche Kritik an Bundesregierung zu erwarten?

Mit Spannung wird nun erwartet, ob der Unmut über die Bundesregierung beim Innenministertreffen auch vor laufenden Kameras geäußert wird und ob dies dann möglicherweise zu neuen Diskussionen innerhalb der Koalition führt. Dagegen spricht, dass die Grünen schon mit den im Juni vereinbarten Plänen für eine Verschärfung der regulären Asylverfahren Dinge akzeptierten, die sie eigentlich nicht akzeptieren wollten und es im Anschluss heftige parteiinterne Diskussionen über die Zustimmung gab.

Für Deutschland wird zu den EU-Beratungen in Brüssel Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) erwartet, die derzeit auch Spitzenkandidatin für die hessische SPD bei der Landtagswahl am 8. Oktober ist. Sie hat sich öffentlich bislang nicht zu möglichen Kompromissen geäußert.

Nancy Faeser (Archivbild): Sie tritt als Spitzenkandidatin der SPD bei der hessischen Landtagswahl an. (Quelle: IMAGO/imago)

Nancy Faeser (Archivbild): Sie tritt als Spitzenkandidatin der SPD bei der hessischen Landtagswahl an. (Quelle: IMAGO/imago)© T - Online

Der CSU-Europapolitiker und Chef der christdemokratischen europäischen Parteienfamilie, Manfred Weber, übte daran zuletzt scharfe Kritik. "Ich frage mich, ob die Bundesregierung den Ernst der Lage erkannt hat und die EU-Asylreform wirklich will", sagte er jüngst dem "Tagesspiegel".

Die vielleicht einzige gesichtswahrende Lösung für die Bundesregierung wäre es, wenn die spanische EU-Ratspräsidentschaft doch noch ohne Deutschland die notwendige qualifizierte Mehrheit für die Krisenverordnung organisieren könnte. Dass dies gelingt, galt zuletzt allerdings als äußerst unwahrscheinlich, weil die anderen Gegner den spanischen Vorschlag für zu schwach halten und sich noch für den Fall, dass viele Migranten nach Europa kommen, mehr Freiheiten wünschen würden. Dazu gehören PolenUngarnÖsterreich und Tschechien.

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Streit mit Polen: Olaf Scholz droht mit Grenzkontrollen und legt sich mit Jaroslaw Kaczynski an

Jaroslaw Kaczynski streitet sich nun mit Olaf Scholz.

Jaroslaw Kaczynski streitet sich nun mit Olaf Scholz.© Montage: Berliner Zeitung Fotos: dpa, imago

Wenn man sich mit den Feinheiten polnisch-deutscher Politik nicht auskennt, könnte man es als ganz normalen Vorgang bezeichnen: Da tritt der Bundeskanzler Olaf Scholz bei einer SPD-Wahlkampfveranstaltung in Hessen auf und sagt dem Publikum dort, dass im Nachbarland Polen „absurde“ Visa-Verteilungsmechanismen herrschten und man wieder Grenzkontrollen einführen müsste, um den Zustrom illegaler Migration aus dem Osten nach Westen einzuschränken.

Für einen unvoreingenommenen Beobachter klingt die Forderung von Scholz nach hessischer Wahlkampfpolemik und AfD-naher Harter-Hund-Rhetorik. Doch so einfach ist es nicht. Olaf Scholz muss gewusst haben, dass in Polen Wahlkampf herrscht und dass seine Worte von der polnischen Presse genau studiert werden. Und dort wird jede Behauptung mit der Hypothese, Polens Regierung würde illegale Migration stützen, aufgegriffen und sofort kommentiert.

Und so war es dann auch. Bundeskanzler Olaf Scholz spielte auf den Visa-Skandal in Polen an, der aktuell Jaroslaw Kaczynskis rechtsnationale PiS-Regierung und ihre Wiederwahl am 15. Oktober 2023 in Gefahr bringt. In Polen haben Journalisten herausgefunden, dass polnische Ministerialbeamte und PiS-nahe Personen Tausende Visa in Auslandsbotschaften vergeben haben, nachdem Korruptionsgelder geflossen sind. Ein Visum für Polen und somit ein Aufenthalt im Schengenraum soll etwa 5000 Euro gekostet haben. Das Außenministerium soll Bescheid gewusst und nicht konsequent genug gegen die Visa-Vergaben gehandelt haben.

Die polnischen Oppositionsmedien schlachten den Skandal nun aus und werfen der PiS-Regierung vor, dass ihr Wahlslogan, Polen gegen jegliche Art von Migration zu verteidigen, nur eine hohle Phrase sei. Kaczynski wird als korrupter Machtpolitiker vorgestellt, der sich nicht für Polens Wohlergehen, sondern allein für seine Partei interessiert.

Die PiS reagiert mit aggressiven Attacken. Polens Außenminister Zbigniew Rau warf Olaf Scholz bereits vor, er würde sich in die inneren Angelegenheiten Polens einmischen. Die polnischen Staatsmedien berichten nun sogar, Deutschland sei an einem Komplott beteiligt, der vorsieht, die polnische rechtsnationale Regierung zu stürzen. Eine Journalistin schrieb, dass Scholz sogar die Ukraine eingespannt hätte, um gegen die polnische Regierung zu wettern, damit am Ende das Land der EU beitreten könne.

Und was hat Olaf Scholz wirklich getan? Hat er bloß eine Rede im hessischen Wahlkampf gehalten? Durchaus nicht. Er wusste, dass er sich mit seiner Aussage tatsächlich in den Wahlkampf Polens einmischt und der PiS-Regierung große Probleme bereitet. Scholz wird sich wohl nun über die Aufregung amüsieren. Wundern sollte man sich nicht über den Trick. Immerhin setzen PiS-Politiker, wenn Wahlkampfzeiten anstehen, immer wieder selbst auf die unfreundliche antideutsche Karte.

In diesem Jahr ging Jaroslaw Kaczynski sogar so weit, dass er sich dazu hinreißen ließ, in einem Wahlkampf-Spot als Schauspieler zu agieren: In dem ausgestrahlten Clip wird er (angeblich) vom deutschen Botschafter in Warschau angerufen, der ihm vorschreibt, das Rentenalter in Polen zu erhöhen. Kaczynski ruft erbost ins Handy: Hier in Polen regiert nicht die Oppositionspartei, hier regiert nicht der Gegenkandidat Donald Tusk, der Liebling der Deutschen, sondern der harte Hund Jaroslaw Kaczynski, der Verteidiger Polens (obwohl er eigentlich kein offizieller Herrscher oder Ministerpräsident, sondern auf dem Papier bloß Vorsitzender der Regierungspartei ist). Man kann leicht annehmen, dass das deutsche Kanzleramt nicht gerade amüsiert war über Kaczynskis Wahlkampfspot.

Nun hat Olaf Scholz zurückgeschossen, er hat sich gerächt. Die polnische Oppositionspartei wird sich nun freuen: Denn jede schlechte Nachricht für die PiS-Partei ist eine Hilfe, um eine rechtsnationale Regierung zu verhindern. Nach den Wahlen, ob nun die PiS oder Donald Tusks Bürgerplattform gewinnt, wird sich sowieso der geopolitische Alltag einstellen und man wird wieder freundlichere Töne anschlagen. Dennoch ist einiges an Porzellan zerbrochen. Und das tut den Beziehungen mit Blick auf den Ukraine-Krieg und die weiteren internationalen Krisen wirklich nicht gut.

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Diese Zahl hält die EU-Kommission zurück: Deutschland ist mit 19,7 Milliarden Euro größter Nettozahler in der EU

Deutschland ist der größte Nettozahler der EU.

Deutschland ist der größte Nettozahler der EU.© Picture Alliance
Deutschland ist der größte Nettozahler der EU.

„I want my money back“. Mit diesem Satz begann die damalige Premierministerin Maggie Thatcher 1979 ihren Kampf um den britischen EU-Beitrag. Ihr Land dürfe nicht mehr Geld an die Union zahlen, als aus EU-Töpfen nach Großbritannien fließe. Thatcher handelte den „Britenrabatt“ aus. Ihren Frieden mit der EU machten die Briten dennoch nicht. 2016 stimmten sie für den Brexit.

In Deutschland war die europäische Idee stets populärer. Es ist Konsens, dass Deutschland als Land in der Mitte Europas politisch und wirtschaftlich besonders stark von der EU profitiert. Dennoch kam immer wieder die Frage auf, ob der Preis, den Deutschland als Nettozahler dafür zahlt, angemessen sei.

Bis 2019 veröffentlichte die EU Zahlen zu diesen Nettopositionen der Mitgliedsländer. Dann beendete sie die Praxis mit der Begründung, diese Rechnung sei in einer eng verwobenen Union wenig aussagekräftig. Der frühere deutsche EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger (CDU) nannte sie sogar „Blödsinn“.

Das sind die größten Nettozahler der EU

Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) rechnet die Zahlen nach der Methode der EU-Kommission nach. Danach zahlte Deutschland 2022 insgesamt 19,7 Milliarden Euro mehr an die Europäische Union, als Geld der EU nach Deutschland floss. Dies waren 1,7 Milliarden Euro weniger als 2021. Deutschland bleibe aber mit Abstand der größte Nettozahler der EU. Der deutsche Beitrag sei fast doppelt so hoch wie der des zweitgrößten Nettozahlers Frankreich mit zehn Milliarden Euro.

Im Durchschnitt der Jahre 2014 bis 2020 habe Deutschland mit 13,5 Milliarden Euro weniger gezahlt. Die Ökonomen führen die Steigerung seither auf den Brexit zurück, den EU-Austritt Großbritanniens. Denn danach mussten Finanzströme neu geordnet werden. "Die schwächelnde deutsche Konjunktur dürfte das Gewicht aber zumindest leicht in Richtung florierender Staaten wie Spanien verschieben."

Insgesamt waren nach Rechnung des IW 2022 neun EU-Staaten Nettozahler, 18 Mitgliedsländer Nettoempfänger. In den Top fünf der Zahlerländer folgen auf Deutschland und Frankreich: Italien (3,9 Milliarden Euro), die Niederlande (3,2 Milliarden), Schweden (2,1 Milliarden) und Österreich (1,3 Milliarden).

Größter Nettoempfänger in der EU ist der Rechnung zufolge Polen, das 11,9 Milliarden Euro mehr von der EU erhalte als es einzahle. Mit einigem Abstand folgen Rumänien (5,6) Ungarn (4,4) sowie Griechenland (3,9 Milliarden Euro).

Nun ist Deutschland auch die größte Volkswirtschaft in der EU mit den meisten Menschen. Auch Polen gehört zu den großen EU-Ländern. Das IW setzte die absoluten Beitragssalden daher ins Verhältnis zur Wirtschaftskraft und Einwohnerzahl der jeweiligen Länder. Für die Wirtschaftskraft ziehen die Ökonomen das Bruttonationaleinkommen (BNE) heran. In dieser Betrachtung sind die Abstände deutlich kleiner, auch die Reihenfolge verschiebt sich etwas. Deutschland bleibe aber größter Zahler mit einem Beitrag von 0,51 Prozent des BNE. Es folgten hier Frankreich mit 0,38 Prozent sowie in geringen Abständen Schweden (0,37) sowie die Niederlande und Finnland mit je 0,34 Prozent.

Bei den Nettoempfängern im Verhältnis zur Wirtschaftskraft ist Polen nicht mehr unter den größten Empfängern. Vorn liegen hier die baltischen Länder Estland, Lettland und Litauen sowie Ungarn mit mehr als 2,5 Prozent des BNE.

In der folgenden Tabelle findet ihr die Angaben für alle 27 Mitgliedsländer sowohl in absoluten Beträgen als auch im Verhältnis zur Wirtschaftskraft und zur Einwohnerzahl. Ihr könnt über das Suchfeld einzelne Länder suchen.

Debatte über Sinn und Unsinn der Nettozahler-Zahlen

Das IW hatte bereits vorher an die EU-Kommission appelliert, die Zahlen wieder selbst zu veröffentlichen. Zwar ließen sich die Effekte der europäischen Integration nicht auf die Nettopositionen der Mitgliedsstaaten reduzieren. Die Berechnung sei für die Transparenz aber wichtig.

Die EU hält die Nettozahlerbetrachtung für überholt. EU-Haushaltskommissar Johannes Hahn sagte dazu: „Diese Nettozahler- und Nettoempfänger-Sichtweise wird der Komplexität des EU-Budgets nicht gerecht und kann daher in dieser Form nicht mehr angewandt werden“. Oettinger hatte es 2018 drastischer ausgedrückt: „Die Nettozahlerdebatte ist zunehmend sinnentleert. (…) Bei Agrarmitteln und Kohäsion kann man noch einigermaßen erkennen: Was zahlt ein Mitgliedstaat ein, was bekommt er raus. Aber bei grenzüberschreitender Infrastruktur, gemeinsamem Grenzschutz, Forschung und Entwicklungshilfe ist die Nettozahlerbetrachtung schlicht Blödsinn“.

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Gastbeitrag von Gabor Steingart - Krieg, Flüchtlinge, Inflation - und trotzdem passiert in Europa gerade Erstaunliches

Gerade entsteht ein neues, wehrhaftes Europa. Media Pioneer.

Gerade entsteht ein neues, wehrhaftes Europa. Media Pioneer.© Media Pioneer.

Orbán, Erdoğans Türkei und die USA setzen Europa unter Druck. Doch die schwierige Lage hat auch ihr Gutes. Denn die Kerneuropäer – Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, Österreich, die Niederlande und Luxemburg – rücken politisch zusammen.

Der alte Sponti-Spruch „Du hast keine Chance, also nutze sie“ gilt auch im Europa dieser Tage.

Die politische Klasse des Kontinents wirkt merkwürdig aufgekratzt, obwohl Europa an seiner Ostflanke militärisch angegriffen, an der Südgrenze von einem Flüchtlingsstrom herausgefordert und im Innern durch Geldentwertung gepeinigt wird.

Als wäre das nicht schon der Herausforderung genug, kommen drei falsche Freunde hinzu, die Europa unter Druck setzen:

Der falsche Freund Nummer 1 ist Viktor Orbán , der im neuen slowakischen Ministerpräsidenten Robert Fico einen Mitstreiter gefunden hat. Er spielt mit Putin und gegen die EU. Er verweigert sich den westlichen Sanktionen und wird für diesen Opportunismus in Moskau mit günstigen Energiekontrakten belohnt. Viktor Orbán ist der Brutus der europäischen Wertegemeinschaft.

Auch Amerika ist ein fragwürdiger Freund geworden

Der falsche Freund Nummer 2 sitzt in Ankara. Erdoğans Türkei ist kein EU-Mitglied, aber Nato-Staat, was den Machthaber nicht daran hindert, mit Putin zu paktieren. Allein 2022 eröffneten Russen 1.363 neue Unternehmen in der Türkei – auch mit dem Ziel, die Sanktionen des Westens zu umgehen.

Gleichzeitig erhöhte die Türkei ihre Ölimporte aus Russland von durchschnittlich 98.000 Barrel pro Tag in 2021 auf 200.000 Barrel im Jahr 2022. Das Magazin Foreign Policy spricht von Erdoğans „Deal mit dem Teufel“.

Und drittens: Auch Amerika ist ein fragwürdiger Freund der Europäer geworden. Unter dem Druck der Republikaner hat US-Präsident Joe Biden seinen Haushaltskompromiss damit erkauft, dass die USA vorerst keine weitere Unterstützung für die Ukraine bereitstellen. Damit ist der größte Finanzier des Anti-Putin-Paktes fürs Erste entfallen.

Doch die Geschichte kennt – anders als der Groschenroman – stets mehrere Handlungsstränge, die oft virtuos miteinander verwoben sind. „Die Geschichte ist ein ständiger Dialog zwischen Fakten und Interpretation“, so hat der Historiker Eric Hobsbawm die ewige Abfolge von Paradoxien beschrieben.

Kompression in Kerneuropa

Denn gerade dieser Druck einer feindlichen Umwelt sorgt in Kerneuropa für Kompression. Das Zusammentreffen von russischem Militarismus, amerikanischem Isolationismus und osteuropäischem Opportunismus zwingt die Kerneuropäer – Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, Österreich, die Niederlande und Luxemburg – zu politischer Intimität.

Inmitten des europäischen Stahlgewitters wird – wenn die Presswehen weiter glücklich verlaufen – Großes geboren.

Erst in den vergangenen Tagen gab es fünf ernstzunehmende Hinweise, dass wir keineswegs den kleinlauten Rückzug auf das Europa der Vaterländer erleben, sondern inmitten dieses historischen Unwetters das Europa der Europäer heranreift – und sei es nur als Embryo. Schemenhaft erkennen wir ein neues, ein wehrhaftes Europa.

1. Die Ukraine wird nicht geopfert.

Das erste Mal haben sich am Wochenende die Vertreter aller 27 EU-Staaten außerhalb der EU getroffen – und zwar in Kiew. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock spielte hier eine zentrale und zwar eine zentral positive Rolle, da sie, trotz einer schwankenden öffentlichen Stimmung, nicht bereit ist, die Ukraine zu opfern.

Sie forderte einen „Winterschutzschirm“, der die Zivilbevölkerung und die Energieversorger vor russischen Raketen schützen soll, damit nicht wieder Millionen frieren und hungern. Im vergangenen Winter hatte Putin gezielt Elektrizitätswerke angegriffen.

Gerade auch vor dem Hintergrund ihrer pazifistischen Herkunft wirkt Baerbocks Einsatz für eine robuste Außenpolitik stilbildend. Ihre Standfestigkeit macht auch europaweit den Wackelkandidaten das Wackeln schwer.

2. Die EU-Erweiterung wird vorbereitet.

Der letzte EU-Beitritt war der von Kroatien – vor zehn Jahren. Aber wenn sich die Staats- und Regierungschefs Ende der Woche im spanischen Granada treffen, ist die Erweiterung der Europäischen Union, von heute 27 auf dann womöglich 35 Mitgliedsstaaten, zurück auf der Agenda.

Der russische Angriffskrieg hat der Idee einer europäischen Arrondierung entlang der russischen Grenze neue Schubkraft verliehen. Der Beitritt von Albanien, Moldawien und eines Tages der Ukraine bedeutet unter der neuen krisenhaften Beleuchtung keine Randaktivität mehr, sondern wäre das Symbol einer neuen demokratischen Wehrhaftigkeit. In Grenada müssen dafür die Vorbereitungen getroffen werden, denn eine EU der 35 kann mit dem Einstimmigkeitsprinzip nicht funktionieren. Europa darf also nicht nur größer, sondern muss auch effektiver werden.

3. Finanzielle Seriosität wird nicht erreicht, aber angestrebt.

Begünstigt durch die jahrelange Geldflutungspolitik der EZB reichte der Funke steigender Energiepreise, um die Inflation zu entfachen. Aber mittlerweile hat die EZB begriffen, dass die Geldentwertung nicht nur die Staatshaushalte, sondern auch die europäische Idee unterspült.

Die Peitsche der Zinspolitik wirkt: Italien muss in 2023 rund 100 Milliarden an Zinsen bei seinen Schuldnern abliefern. Auch Deutschland muss mit einem Anstieg der Zinszahlungen von 15,3 Milliarden in 2022 auf knapp 40 Milliarden Euro in 2023 eine Art Strafgebühr für die Schuldenpolitik der vergangenen Jahre entrichten. Das wirkt – hoffentlich – disziplinierend.

4. Energie-Autonomie wird nicht erreicht, aber vorangetrieben.

Dank staatlicher Hilfen aus dem Programm REPowerEU scheint die Transformation der Energieversorgung zu gelingen. So senkte die EU den Anteil russischen Pipeline-Gases von 50 Prozent der gesamten Gas-Einfuhren im Jahr 2021 auf weniger als 10 Prozent im laufenden Jahr ab.

Die Öl-Einfuhren aus Russland sind von 27 Prozent auf sechs Prozent zurückgegangen, derweil die Kohle-Einfuhr nun sogar bei null liegt – kommend von 46 Prozent im Jahr 2021. Der Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung beträgt europaweit mittlerweile fast 40 Prozent.

5. Die Leitmedien polarisieren und polemisieren – aber nicht gegen Europa.

Länderübergreifend gibt es einen nirgendwo fixierten Konsens der Medien, dass die Zukunft nicht der Kleinstaaterei gehört. Von der deutschen Bild über Frankreichs Le Monde bis zur britischen Financial Times wird die europäische Idee verteidigt, oft auch gegen die Übergriffigkeit der Brüsseler Bürokraten.

Der Gedanke, dass hier zusammenwächst, was zusammen gehört, hat sich bei den Leitmedien durchgesetzt. Der Economist fordert in dieser Woche: „So verheerend die Umstände des Krieges sind, sie schaffen den Impuls für eine EU, die größer und besser sein wird.“

Fazit: Auch wenn sich die Rattenfänger rechts und links des Weges postiert haben, will die Mehrzahl der Europäer erkennbar nicht zurück in ihre Geschichte. Der Satz des Friedrich Hegel – „Die Geschichte lehrt uns, dass die Geschichte uns nichts lehrt“ – wird vor aller Augen ungültig gestempelt. Wir sollten seinen Irrtum nicht bedauern, sondern genießen.

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Auf einmal geht alles schnell: EU-Beitritt der Ukraine soll noch im Dezember verhandelt werden

EU-Beitritt der Ukraine

Auf einmal geht alles schnell: EU-Beitritt der Ukraine soll noch im Dezember verhandelt werden

Die Ukraine könnte bis 2030 Mitglied der EU werden, vorausgesetzt, beide Seiten erfüllen ihre Aufgaben. Doch es gibt Bedingungen.

Brüssel – Die Europäische Union bereitet sich auf die Aufnahme von Verhandlungen mit der Ukraine über ihren künftigen Beitritt zur Union vor. Eine offizielle Ankündigung wird bereits im Dezember erwartet. Dies berichtet unter anderem das Newsportal Politico.

Nach Angaben von drei Diplomaten, die nach Angaben von Politico mit den Plänen vertraut sind, bereiten sich die Staats- und Regierungschefs darauf vor, Kiew grünes Licht zu geben. Dies mit dem Ziel, noch vor Ende des Jahres formelle Gespräche über den Beitritt zu dem 27 Länder umfassenden Länderbündnis aufzunehmen.

EU-Ratspräsident Charles Michel spricht sich für Aufnahme der Ukraine aus

Die Ukraine steht somit weiter im Mittelpunkt eines neuen großen Vorstoßes zur Erweiterung der EU auf bis zu 35 Länder. Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, sagte in ihrer jährlichen Ansprache an das Parlament letzten Monat, dass die Zukunft der Ukraine „in der Union“ liege.

EU-Ratspräsident Charles Michel

EU-Ratspräsident Charles Michel© BRYAN R. SMITH/afp

EU-Ratspräsident Charles Michel befürwortet den Beitritt der Ukraine bis zum Jahr 2030 – allerdings nur unter Bedingungen. „Die Ukraine kann 2030 zur EU gehören, wenn beide Seiten ihre Hausaufgaben machen“, sagt Michel im Interview mit dem Spiegel. Von der EU verlangt Michel unter anderem die Beschleunigung der „Entscheidungsprozesse“. Mit der zügigen Aufnahme der Ukraine würde die EU auch „beweisen, dass sie geopolitisch handlungsfähig ist“.

Auch die Türkei Beitrittskandidat

Zugleich betonte der Belgier, dass es weder für die Ukraine noch für die EU-Beitrittskandidaten – neben der Türkei sind dies die sechs Westbalkanstaaten und die Republik Moldau – politischen Rabatt geben wird. „Die Ukraine und die anderen Beitrittskandidaten müssen Reformen umsetzen, Korruption bekämpfen und die rechtlichen Voraussetzungen erfüllen“, sagt Michel. Dennoch dürfe die EU jetzt „keine Zeit mehr vertrödeln“, da etwa auf dem Westbalkan der Einfluss Russlands und Chinas immer größer werde.

Auch wenn die Ukraine bis zum Gipfeltreffen der europäischen Staats- und Regierungschefs Mitte Dezember möglicherweise nicht alle Bedingungen erfüllt hat, werden die Staats- und Regierungschefs eine politische Erklärung abgeben, in der sie die Verhandlungen genehmigen. Dies, auch wenn der „rechtliche Verhandlungsrahmen“ noch nicht abgeschlossen ist. „Das Ziel ist es, im Dezember eine politische Einigung über die Aufnahme von Verhandlungen zu erzielen“, sagte ein EU-Diplomat in Brüssel und fügte hinzu, dass eine rechtliche Entscheidung über die Aufnahme der Ukraine bis Anfang 2024 fallen könnte.

Auch Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) hatte sich kürzlich zuversichtlich über einen raschen EU-Beitritt der Ukraine und die Rückeroberung wichtiger Gebiete von Russland geäußert. „Die Zukunft der Ukraine liegt in der Europäischen Union, in unserer Gemeinschaft der Freiheit“, sagte Baerbock am Montag am Rande eines Sondertreffens der EU-Außenminister in Kiew. „Und die wird sich bald von Lissabon bis Luhansk erstrecken“, fügte sie hinzu. Luhansk gehört zu vier ukrainischen Regionen, die Russland vor gut einem Jahr für annektiert erklärt hat.

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Drohender Konflikt mit EU-Staaten: Parlament will EU-Haushalt stark aufstocken

Streit ist programmiert: Alleine kann das Parlament nicht entscheiden, auch die Staaten müssen zustimmen.

Streit ist programmiert: Alleine kann das Parlament nicht entscheiden, auch die Staaten müssen zustimmen.© Reuters

Als die Europäische Union ihren Finanzrahmen für die Budgets 2021 bis 2027 und den Corona-Aufbaufonds verabschiedet hat, waren weder Ukrainekrieg noch Inflation und hohe Zinsen abzusehen. Mit diesem Argument hat die Europäische Kommission im Juni eine Aufstockung des 2-Billion-Euro-Pakets (in aktuellen Preisen) um 65,8 Milliarden Euro vorgeschlagen. Das EU-Parlament geht nun noch einmal darüber hinaus: Das Plenum hat sich am Dienstag mit großer Mehrheit von 393 zu 136 Simmen dafür ausgesprochen, nochmals 10 Milliarden Euro daraufzulegen.

Von den insgesamt dann rund 76 Milliarden Euro Zuschlag sollen 17 Milliarden Euro an die Ukraine fließen. Inklusive 33 Milliarden Euro an Krediten soll die Ukrainehilfe 50 Milliarden Euro umfassen. 19 Milliarden Euro sind für die höheren Zinszahlungen vorgesehen, die für den Corona-Aufbaufonds anfallen. Das entspricht weitgehend dem Vorschlag der Kommission. Die für die Zinszahlungen vorgesehenen Mittel sollen dabei künftig faktisch aus dem Haushalt ausgeklammert werden. Sollten die Zinsen weiter steigen, könnte dieser Posten so automatisch, also ohne dass ein Beschluss nötig wäre, weiter steigen.

Aufgestockt hat das Europaparlament die Mittel für die Folgen der Migration. Es hat die von der Kommission vorgeschlagenen 15 Milliarden Euro noch einmal um 4 Milliarden Euro erhöht. Zudem will es das sogenannten Flexibilitätsin­strument, eine Art Reserve für unvorhergesehene Ausgaben, um 6 Milliarden Euro erhöhen. Die Kommission hatte 3 Milliarden Euro mehr vorgesehen. Für die im Zuge der Inflation gestiegenen Beamtengehälter sind die von der Kommission vorgeschlagenen 1,9 Milliarden Euro zusätzlich eingeplant.

„Uns geht es nicht um goldene Wasserhähne“

Mehr Geld wollen die Abgeordneten auch für die „Strategic Technologies for Europe Platform“ (STEP) bereitstellen. Die Kommission hatte STEP statt des viel umfassenderen Souveränitätsfonds vorgeschlagen, den etwa Italien oder Frankreich auch als Antwort auf den Inflation Reduction Act der USA gefordert hatten. Die Kommission hat dafür 10 Milliarden Euro vorgesehen. Mit dem Geld will sie Investitionen privater Unternehmen anstoßen, sodass insgesamt 160 Milliarden Euro bereitstehen. Das Parlament fordert 3 Milliarden Euro mehr dafür.

„Uns geht es nicht um goldene Wasserhähne, sondern um eine angemessene Ausstattung der EU“, sagte der SPD-Abgeordnete Jens Geier. Die EU müsse auf unvorhersehbare Krisen reagieren können, ohne bestehende Programme finanziell auszuhöhlen. „Der Vorschlag der Kommission, zusätzliche Mittel vorzusehen, ist absolut richtig, aber nicht ausreichend“, sagte der CDU-Abgeordnete Daniel Caspary.

Allein kann das Parlament das allerdings nicht entscheiden. Auch die Staaten müssen zustimmen. Die einstimmige Entscheidung soll nach bisheriger Planung auf dem Gipfel im Dezember fallen. So weit wie das Parlament werden die EU-Chefs dann kaum gehen. Eine Gruppe von Staaten um Deutschland ist bisher nur bereit, die Hilfen für die Ukraine zu finanzieren. Auch das soll möglichst außerhalb des Haushalts ohne die Einbeziehung des Parlaments geschehen.

„Lockdown“ wie in USA droht nicht

Damit droht ein Konflikt zwischen den beiden EU-Institutionen. Das beginnt beim Zeitplan. Das Europaparlament dringt auf eine Einigung vor Jahresende. Das aber ist so gut wie unmöglich, wenn die Staaten erst auf dem Dezembergipfeltreffen kurz vor Weihnachten ihre Position beschließen. Der EU-Abgeordnete der Grünen Rasmus Andresen warf den Staaten vor, die Einigung herauszuzögern. Er forderte einen Sondergipfel, um eine rasche Einigung zu erzielen.

Das Europaparlament argumentiert, dass das zusätzliche Geld im Haushalt 2024 teilweise schon eingeplant ist. Kurz: Ohne Aufstockung des Finanzrahmens 2021 bis 2027 kann der Haushalt 2024 nicht in der vorhergesehenen Form beschlossen werden. Es wäre zwar möglich, ihn ohne Aufstockung zu verabschieden und dann im Januar oder Februar einen Nachtragshaushalt zu verabschieden. Das aber wollen große Teile des Parlaments nicht, auch um Druck aufzubauen.

Anders als in den Vereinigten Staaten droht der EU Anfang Januar kein „Lockdown“, wenn es keinen Haushalt 2024 gibt. Die Mittel würden aber auf dem Vorjahresniveau eingefroren und außerdem nur Monat für Monat ausgezahlt.

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Giorgia Meloni: Die Angst vor Italien ist zurück

Giorgia Meloni und Ursula von der Leyen: Italiens Premierministerin geht zunehmend auf Konfrontationskurs zur EU. Foto: REUTERSdata-portal-copyright=

Giorgia Meloni und Ursula von der Leyen: Italiens Premierministerin geht zunehmend auf Konfrontationskurs zur EU. Foto: REUTERSdata-portal-copyright=© Bereitgestellt von Wirtschaftswoche

Ohne Europa wäre Italien längst am Ende. Doch Premierministerin Meloni geht zunehmend auf Konfrontationskurs und legt einen völlig unrealistischen Haushaltsentwurf vor. Märkte und Partner sind alarmiert.

Für Italiens Premierministerin Giorgia Meloni ist die Entwicklung des Zinsabstands (Spread) zwischen deutschen und italienischen Staatsanleihen wie eine Fieberkurve, die sie ständig im Auge behält. Denn der Spread zeigt das Vertrauen der Märkte in Italien an. Und darum steht es schlecht. Denn die Spread-Fieberkurve ist in den vergangenen Wochen um mehr als 30 Basispunkte auf 200 Punkte gestiegen.

Das bedeutet: Der italienische Staat, private Kreditnehmer und Unternehmen zahlen etwa zwei Prozentpunkte höhere Zinsen als deutsche Kreditnehmer. Für die jüngst ausgegebenen Bonds muss Rom fast fünf Prozent Zinsen blechen. Es wächst die Furcht, dass die Ratingagenturen die ohnehin niedrigen Bewertungen des Landes in den nächsten Wochen herunterstufen, vielleicht auf Ramschanleihenniveau. Der italienische Patient ist zurück.

Der Druck ist größer geworden, seit Rom vor einer Woche den Budgetentwurf für 2024 vorgelegt hat. Denn das Haushaltsdefizit wird 2023 mit 5,3 Prozent deutlich höher ausfallen als die bisher geplanten 4,5 Prozent. 2024 sind 4,3 Prozent statt bisher 3,6 Prozent projektiert. Erst 2025 soll der Fehlbetrag unter die vom Stabilitäts- und Wachstumspakt vorgesehenen drei Prozent sinken. Und die Schulden stagnieren in den nächsten Jahren bei etwa 140 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Eine Planung, die völlig unrealistisch und viel zu optimistisch ist. Und in Wirklichkeit dürften die Zahlen noch viel schlechter ausfallen. Denn die Regierung Meloni hat Wachstumsraten von einem Prozent in diesem und 1,2 Prozent im kommenden Jahr zugrunde gelegt. EU und OECD erwarten für 2024 allenfalls 0,8 Prozent. Auch die eingeplanten Privatisierungserlöse von 20 Milliarden Euro bis 2026 und Ausgabeneinsparungen von zwei Milliarden Euro sind unseriös.

Von Konsolidierung keine Spur

Denn die Ausgaben wachsen weiter, und Italien verstaatlicht munter Unternehmen. Es kommt hinzu: Die Rezession beim wichtigsten italienischen Handelspartner Deutschland wird sich laut Wirtschafts- und Finanzminister Giancarlo Giorgetti, einem der wenigen fach- und sachkundigen Regierungsvertreter, unweigerlich auch in Italien niederschlagen. Damit aber sinken die Steuereinnahmen. Und die hohen Zinsen lassen den Schuldendienst 2024 auf etwa 89 Milliarden Euro wachsen, knapp vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Kreditnachfrage der Unternehmen und Privathaushalte geht zurück.

Die Sorgen über Italien in der internationalen Finanzwelt, aber auch bei der Europäischen Zentralbank (EZB) und der EU in Brüssel, nehmen zu. Die Nervosität steigt. Es zeigt sich nun, dass die hohen Wachstumsraten Italiens in den Jahren 2021 und 2022 nur ein Strohfeuer waren, das befeuert wurde durch die Hilfen des europäischen Wiederaufbauprogramms sowie umfangreiche Bonuszahlungen. Staatshilfe gab es sogar für den Kauf von Möbeln, Fahrrädern oder für Urlaube, vor allem aber von den Hilfen zur ökologischen Sanierung von Gebäuden. Der Staat übernahm die Kosten etwa für den Einbau neuer Fenster, Dämmungen oder Heizungen vollständig und legte sogar noch etwas drauf. Das nutzten vor allem Gutverdiener.

Die Folgen sind noch jahrelang spürbar. Die damit verbundenen Steuergutschriften kosten den Staat vermutlich insgesamt 140 Milliarden Euro: Der Handlungsspielraum der Regierung ist gegen Null gesunken. Giorgetti vergleicht die Maßnahme scherzhaft mit Gutschriften für den Kauf eines Ferrari: „Wenn wir den Kauf eines solchen Autos zu 110 Prozent unterstützen würden, kauften Millionen von Italiener einen und wir hätten einen Wirtschaftsboom. Die Kosten trüge der Staat.“

Italien droht Europa einmal mehr in den Abgrund zu reißen. Carlo Cottarelli, früherer IWF-Ökonom und heute Professor an der renommierten Università Cattolica in Mailand, ist der Meinung, es wäre besser gewesen, Rom wäre „angesichts der Schulden vorsichtiger bei den Ausgaben gewesen“. Die Financial Times ist in Alarmstimmung und sieht einmal mehr Italiens Glaubwürdigkeit unterminiert. Für den mehrmaligen früheren Finanzminister Giulio Tremonti (unter Berlusconi) besteht das Problem nicht im Spread, „sondern in der Monster-Verschuldung“.

Die Sorgen an den Märkten sind so groß, dass erneut das Gespenst einer technischen und überparteilichen Regierung wie von 2011 bis 2013 unter Mario Monti oder 2021/2022 unter Mario Draghi aufgetaucht ist. Ziel: Vertrauen zurückgewinnen. Meloni nimmt das Thema immerhin so ernst, dass sie sich öffentlich dazu äußert. „Das kommt von den üblichen Verdächtigen. Wer soll da in der Regierung sein? Diejenigen, die verantwortlich sind für die hohen Schulden?“, fragt sie sich.

Ohne die politische Unterstützung der Rechtsparteien, die in Umfragen noch immer obenauf sind, ist eine solche Regierung zumindest vorerst nicht vorstellbar. Aber das kann sich auch ändern, wie 2011, als Silvio Berlusconi angesichts eines Spreads von über 500 Basispunkten dem internationalen Druck weichen musste. In Regierungskreisen ist die Rede von einem internationalen Komplott gegen Italien. Tremonti hält das für Quatsch: „Es gibt keinen Komplott. Es gibt nur hohe Schulden.“

Melonis Beitrag zur Malaise

Meloni mag manche Probleme von ihren Vorgängern geerbt haben. Doch die Premierministerin, die in den ersten Monaten ihrer Amtszeit auf internationales Wohlwollen stieß, weil sie gemäßigter auftrat als erwartet, hat auch selbst zu der Lage beigetragen. Bonuszahlungen wurden verlängert. Und für das zusätzliche Defizit von 14 Milliarden Euro, mit dem im Haushalt für 2024 Steuersenkungen und familienpolitische Maßnahmen finanziert werden sollen, ist halt einfach kein Geld da. Um von innenpolitischen Problemen mit ihrem Regierungspartner Matteo Salvini abzulenken, greift sie ausgerechnet Europa an, etwa den italienischen EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni, der die italienischen Interessen zu wenig vertrete. Dabei hat Gentiloni nicht nur nach Ansicht Cottarellis „viele positive Ergebnisse für Italien erreicht, sowohl bei der Diskussion über den künftigen Stabilitätspakt als auch beim Europäischen Wiederaufbauprogramm“, dessen größter Nutznießer Rom mit insgesamt 191,5 Milliarden Euro ist.

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Auch gegen die Zinspolitik der EZB und gegen Deutschland wettert Meloni massiv, vor allem im Hinblick auf die Flüchtlingspolitik. Denn Meloni, die im Wahlkampf 2022 versprochen hat, die Flüchtlingszahlen deutlich zu reduzieren, ist zwar mit einer großen Flüchtlingswelle konfrontiert. Doch der Großteil der Ankommenden will gar nicht in Italien bleiben und reist weiter nach Deutschland, das etwa viermal so viele Asylbewerber aufnimmt wie Italien.

Die Angriffe Melonis auf Europa sind auch deshalb unklug, weil Italien von europäischen Hilfen so abhängig ist wie ein Heroinabhängiger von seinen Drogen. Die EZB hat Italien viele Jahre mit Negativzinsen und dem Aufkauf von Staatsanleihen massiv unter die Arme gegriffen. Bankenverbandspräsident Antonio Patuelli wies kürzlich darauf hin, dass die Zinsen ohne den Euro heute viel höher wären und einst bei 19,5 Prozent lagen. Und ohne die Milliarden aus dem europäischen Aufbauprogramm stünde Italien wohl vor dem Offenbarungseid. Dazu kommen Mittel aus anderen europäischen Fonds. Dabei hat die EU stets Nachsicht mit Italien geübt, obwohl das Land die Stabilitätskriterien fast immer gerissen hat und versprochene Reformen etwa des Wettbewerbsrechts (Taxi, Strandbäder) teilweise seit Jahrzehnten nicht umsetzt und Reformen der Justiz und Verwaltung weiter auf sich warten lassen. Doch Rom ist nur zu einem Teil in der Lage, die Mittel aus dem europäischen Aufbauprogramm auszugeben, weil die Verwaltung zu schwerfällig ist und personelle Kapazitäten fehlen – ein Riesenproblem.

Kürzungen? Niente

Die seit Jahren versprochenen Ausgabenkürzungen sind leere Ankündigungen. Und statt zu privatisieren, weitet Meloni den Staatseinfluss aus: Geplant ist, dass sich der Staat am Festnetzgeschäft von Telecom Italia beteiligt und womöglich das seit Jahrzehnten defizitäre Stahlwerk von Taranto, an dem der Staat beteiligt ist, ganz übernimmt. Außerdem erwarb Rom (vor Meloni) mehrheitlich die Autobahngesellschaft Autostrade per l`Italia und die Bank Monte dei Paschi. Die Eingriffsmöglichkeiten bei Unternehmen sind durch sogenannte Golden-Power-Regelungen massiv ausgeweitet worden. „Diese Regierung scheint die Mechanismen der Marktwirtschaft nicht vollständig zu verstehen. Sie verfolgt in mancher Hinsicht eine interventionistische Politik“, meint Cottarelli.

Es kommt hinzu, dass Italien sich als einziges EU-Land weigert, die Reform des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) zu ratifizieren. Statt auf Europa zuzugehen, sucht Meloni den Schulterschluss mit dem ungarischen Autokraten Victor Orban, der polnischen Regierungspartei PiS oder der rechtsradikalen spanischen Vox, während sich Koalitionspartner Salvini demonstrativ mit der französischen Rechtsradikalen Marine Le Pen trifft.

Diese Politik ist etwa nach Ansicht von Lucrezia Reichlin, eine bekannte Ökonomin und Professorin an der London Business School, höchst riskant. „Die Investoren schätzen Spannungen zwischen Italien und Europa gar nicht“, sagt sie. „Man kann nicht Orban unterstützen und gleichzeitig einen gemeinsamen europäischen Haushalt wollen.“

Zwar hat Meloni die Bankenstrafsteuer nach Intervention der EZB weitgehend ausgehöhlt. Aber Rom will von Brüssel noch viel mehr: Der künftige Stabilitätspakt soll „flexibler“ gestaltet werden und „Investitionen“ nicht auf das Defizit angerechnet werden. Nur: Welche Investitionen und in welcher Höhe?

Nach Hochrechnungen des italienischen Wirtschafts- und Finanzministeriums steigen Italiens Schulden ohne Kursänderung aus demografischen Gründen und damit verbundenen höheren Ausgaben für Renten, das Gesundheitswesen und die Pflege bis 2055 auf 180 Prozent. Schon jetzt gibt Rom etwa 16 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Rentenzahlungen aus. Dazu kommen nicht absehbare Kosten, etwa für staatliche Garantien für Unternehmenskredite, die den Staat laut Tremonti im schlimmsten Fall bis zu 300 Milliarden Euro kosten könnten. Cottarelli ist der Auffassung, dass sich „Linke und Rechte in einem Punkt einig sind: Schulden zu senken, hat keine Priorität.“

Solange Europa, das sich einen Konkurs Italiens nicht leisten kann, da mitmacht, kann sich Rom zurücklehnen.

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Stabilitätspakt: Spanien macht neuen Vorschlag zu EU-Schuldenregeln – Lindner lehnt ab

Christian Lindner (FDP) pocht auf weitere Veränderungen an den neuen EU-Schuldenregeln. Foto: dpadata-portal-copyright=

Christian Lindner (FDP) pocht auf weitere Veränderungen an den neuen EU-Schuldenregeln. Foto: dpadata-portal-copyright=© Bereitgestellt von Handelsblatt

Im Streit um neue EU-Schuldenregeln kommt ein Kompromisspapier dem deutschen Finanzminister entgegen. Doch Christian Lindner findet die Vorschläge „noch nicht hinreichend“.

Die spanische EU-Ratspräsidentschaft hat den Mitgliedstaaten einen neuen Entwurf zur Reform der europäischen Schuldenregeln vorgelegt. Man habe eine „Landezone“ für einen Kompromiss identifiziert, heißt es in dem vierseitigen Papier, das dem Handelsblatt vorliegt.

Die 27 EU-Finanzminister beraten seit Monaten über die Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts, der Regeln für Haushaltsdefizite und Schuldenquoten festlegt. Er ist seit Beginn der Coronapandemie ausgesetzt und soll zum Ende des Jahres runderneuert wieder in Kraft treten.

Die Finanzminister wollen sich bis dahin einigen, liegen aber in mehreren Punkten noch auseinander: Während vor allem südeuropäische Länder auf mehr Flexibilität drängen, fordern Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) und einige nordeuropäische Staaten möglichst verbindliche Vorgaben zum Schuldenabbau.

Das spanische Papier versucht nun, die verschiedenen Prioritäten in einem Kompromiss zusammenzubringen. Die Grundlage bleibt der Gesetzesentwurf der EU-Kommission vom April. Dieser sieht vor, dass jede Regierung künftig einen individuellen Schuldenabbauplan über vier Jahre mit der Kommission vereinbaren soll. Am Ende des Zeitraums müssen die Schulden auf einem nachhaltig absteigenden Pfad sein.

Die spanische Regierung schlägt nun folgende Änderungen vor:

Haltelinien für Schulden: Zwei Haltelinien, sogenannte „Safeguards“, sollen verhindern, dass hochverschuldete Länder den Schuldenabbau verschleppen. Dazu sind verschiedene Vorgaben geplant. Eine sogenannte „No-backloading“-Klausel soll sicherstellen, dass der Schuldenabbau gleichmäßig über die vier Jahre verteilt und nicht bis zum Ende aufgeschoben wird. Außerdem sollen überschuldete Regierungen jedes Jahr einen bestimmten Mindestprozentsatz an Verbindlichkeiten reduzieren müssen. Der Schuldenabbau wird über einen Zeitraum von 14 Jahren kalkuliert.

Ausnahmen für Investitionen: Für bestimmte Staatsausgaben sind Sonderregeln angedacht. So sollen Ausgaben, die bei der Kofinanzierung von EU-Programmen wie dem Coronafonds anfallen, bei der Bestimmung des Abbaupfads nicht mit eingerechnet werden. So würde verhindert, dass Regierungen wegen des Defizitabbaus auch ihre Ausgaben für Investitionen kürzen, die die EU mitfinanziert.

Auch sollen Verteidigungsausgaben gesondert berücksichtigt werden, bevor die Kommission ein Defizitverfahren gegen ein Land startet. Details dazu lässt das Papier offen.

Stärkere Rolle für den EU-Rat: Eine entscheidende Frage ist, wer den Weg des Schuldenabbaus festlegt und überwacht. Die EU-Kommission hat für sich selbst eine wichtige Rolle vorgesehen – was viele nationale Regierungen skeptisch sehen, da sie Brüssel für zu nachgiebig halten.

Spanien schlägt nun vor, dass der Rat der Mitgliedstaaten die Kommission bei der Erstellung der nationalen Abbaupläne stärker kontrolliert. Eine Arbeitsgruppe mit Fachleuten der Länder, der Europäischen Zentralbank (EZB) und des Europäischen Fiskalausschusses (EFB) soll die Methode der Schuldentragfähigkeitsanalyse verbessern. In dieser Analyse wird untersucht, ob ein Staat seine Schuldenlast stemmen kann.

Für jede Seite etwas dabei

Mit ihrem Papier greifen die Spanier die Wünsche verschiedener Staaten auf. Mit den Haltelinien erfüllt die Ratspräsidentschaft eine der deutschen Forderungen. Finanzminister Lindner hatte im April einen eigenen Vorschlag verschickt, die Haltelinien waren ein Kernelement. Lindner schlug vor, dass hochverschuldete Länder ihren Schuldenstand um mindestens einen Prozentpunkt jährlich abbauen müssen. Bei einem mittleren Schuldenstand sollte es eine Reduzierung um 0,5 Prozentpunkte geben.

Dieses Konzept greift die spanische Regierung auf. Allerdings fehlt in ihrem Papier eine genaue Zahl, dort steht vorerst nur ein X. Aber die Tatsache, dass nun über eine Ziffer gesprochen wird, kann Lindner als Erfolg verbuchen.

Die Ausnahmen für bestimmte Staatsausgaben hingegen sind eine zentrale Forderung der Südländer. „Am Ende muss ein Kompromiss beides enthalten – ausreichende Safeguards und Spielraum für Investitionen“, sagt ein EU-Diplomat.

Bundesregierung ist noch nicht zufrieden

Die Bundesregierung hält den Vorschlag allerdings für „noch nicht hinreichend“, wie es im Finanzministerium heißt. Man erkenne die Bemühungen der spanischen Ratspräsidentschaft um eine Lösung an und arbeite daran „konstruktiv“ mit. Es brauche jedoch „klare, für alle verbindlich geltende quantitativ ausgestaltete Kriterien“, so das Ministerium. „Nur so können wir die vielfach zu hohen Schuldenstände in den Mitgliedstaaten zurückführen – und auch die Defizite auf Dauer und verlässlich deutlich unter drei Prozent senken.“

Berlin argumentiert, dass die Mitgliedstaaten sich nur so fiskalische Spielräume für die anstehende Transformation der Wirtschaft erarbeiten könnten. Auch wenn mit dem spanischen Papier nun wieder Bewegung in die Verhandlungen kommt, rechnet man im Finanzministerium mit weiteren schwierigen Gesprächen: „Es liegt noch ein gutes Stück gemeinsame Arbeit vor uns.“

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Schottland: Schottische Regierung mit neuem Plan für die Unabhängigkeit

Regierungschef Humza Yousaf will die nächste Unterhauswahl zur Abstimmung über die Unabhängigkeit machen: Wenn seine Partei in Schottland die Mehrheit der Sitze gewinne, sei das der Auftrag zur Loslösung von Großbritannien.

Schottland: Schottische Regierung mit neuem Plan für die Unabhängigkeit

Schottland: Schottische Regierung mit neuem Plan für die Unabhängigkeit© Jane Barlow / dpa / PA Wire

Der schottische Regierungschef Humza Yousaf will das nächste Wahlergebnis seiner Schottischen Nationalpartei (SNP) als Gradmesser für die Unabhängigkeitsbestrebungen werten. Gewinne die SNP bei der britischen Parlamentswahl, die vermutlich 2024 stattfindet, die meisten Sitze in Schottland, sehe er darin einen Auftrag für Verhandlungen mit der britischen Zentralregierung über die Loslösung, sagte Yousaf.

Er warb dafür, dieses Ziel im Parteiprogramm festzuschreiben. Den Vorschlag, dass dafür eine Stimmenmehrheit nötig sein müsse, lehnte der 38-Jährige auf der SNP-Jahreskonferenz am Sonntag in Aberdeen ab. »Lasst uns nicht in eine Falle tappen, indem wir uns selbst die Messlatte so hoch legen, wie sie keine andere Partei setzen würde«, sagte Yousaf. Bei einer Wahl zähle die Mehrheit der Sitze als Sieg, »so einfach ist das«.

In seiner Rede griff Yousaf die Regierung in London scharf an. »Westminster verweigert Schottland ein demokratisches Referendum«, sagte der »First Minister« mit Blick auf das britische Regierungsviertel. Falls es kein neues Referendum gebe, müsse daher das Ergebnis der Parlamentswahl in Schottland als Hinweis gelten.

Am Samstag hatten Befürworter einer Unabhängigkeit in Schottland für die Loslösung vom Vereinigten Königreich demonstriert. Die Zeitung »The National«, die sich klar für die Unabhängigkeit positioniert, berichtete von Tausenden Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Fotos zeigten unter anderem, wie Menschen mit schottischen Fahnen auf einer Brücke in der Großstadt Glasgow und entlang eines Kanals standen. Ziel war eine »Freiheitskette« über gut 100 Kilometer von Bowling Harbour westlich von Glasgow bis in die Hauptstadt Edinburgh. Um das zu erreichen, waren nach Schätzungen der Organisatoren etwa 77.000 Menschen nötig.

Die Menschen in Schottland hatten sich 2014 mit knapper Mehrheit für die Union mit Großbritannien ausgesprochen. Die Zentralregierung in London verweigert daher ein neues Referendum. Dagegen argumentiert die schottische Regierung, dass sich mit dem Brexit, den eine deutliche Mehrheit der Schotten 2016 abgelehnt hatte, die Ausgangslage fundamental geändert habe. Sie will ein unabhängiges Schottland zurück in die EU führen. In Umfragen halten sich Befürworter und Gegner einer Loslösung in etwa die Waage.

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Wahl in Polen: Polens rechte Regierungspartei verfehlt absolute Mehrheit klar – Machtwechsel mit Tusk an der Spitze ist möglich

Tusk und Kaczynski prägen die polnische Politik wie niemand sonst. (Bild aus dem Jahr 2009) Foto: imago images / BEAMPERSANDWdata-portal-copyright=

Tusk und Kaczynski prägen die polnische Politik wie niemand sonst. (Bild aus dem Jahr 2009) Foto: imago images / BEAMPERSANDWdata-portal-copyright=© Bereitgestellt von Handelsblatt

Die seit acht Jahren in Polen regierende PiS ist laut Prognosen auch bei der Parlamentswahl am Sonntag stärkste Partei geworden. Doch das Oppositionsbündnis verfügt laut Prognosen über eine klare Mehrheit.

Am Sonntag haben die knapp 30 Millionen stimmberechtigten Polinnen und Polen ein neues Parlament gewählt. Laut Prognosen bleiben die Nationalkonservativen stärkste politische Kraft im Land – dennoch könnten drei Oppositionsparteien die neue Regierung bilden.

Die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) von Ministerpräsident Mateusz Morawiecki kommt auf 36,8 Prozent der Stimmen, wie am Sonntagabend Nachwahlbefragungen des Meinungsforschungsinstituts Ipsos ergaben. Sie büßte im Vergleich zu 2019 aber fast sieben Prozentpunkte ein.

Zweitstärkste Kraft mit 31,6 Prozent wurde demnach die oppositionelle liberalkonservative Bürgerkoalition (KO) des ehemaligen Ministerpräsidenten Donald Tusk.

In den Prognosen wurden der PiS 200 Sitze im neuen Parlament vorhergesagt. Die Mehrheit liegt bei 231 der 460 Mandate. Als Koalitionspartner kommt nur die ultrarechte Konfederacja infrage, mit der es laut Prognosen aber ebenfalls nicht für eine Regierungsmehrheit reicht. Das endgültige Wahlergebnis steht wohl erst am Dienstag fest.

Die oppositionelle Bürgerkoalition (KO) käme laut Prognosen auf 163 Mandate. Sie könnte mit dem christlich-konservativen Dritten Weg (13 Prozent) und dem Linksbündnis Lewica (8,6 Prozent) eine Koalition bilden. Das Dreierbündnis käme auf 248 Abgeordnete und hätte eine Mehrheit im Parlament.Kaczynski übt sich in Zweckoptimismus

Der starke Mann der PiS, Jaroslaw Kaczynski, sprach zwar vor Anhängern von einem Sieg und davon, dass der Weg zu einer dritten Regierungszeit noch nicht verschlossen sei. Allerdings war den Parteiführern die Enttäuschung klar anzusehen.

Zweckoptimistisch meinte Ministerpräsident Mateusz Morawiecki, man werde mit allen sprechen, „die unsere Vision für Polen teilen“. Aber ihm fehlen dafür die Partner, zumal die als wahrscheinlichster Koalitionär gehandelte radikale Rechtspartei Konfederacja mit zwölf Mandaten ein äußerst enttäuschendes Resultat erzielte. Sie wäre trotz einer gewissen ideologischen Nähe angesichts zahlreicher inhaltlicher Differenzen auch ein schwieriger Partner.

Die Oppositionsallianz versprach nach Jahren der Konfrontation mit Brüssel und dem Abbau des Rechtsstaats eine versöhnlichere und international konstruktivere Politik Polens. Bereits 2019 war es ihr gelungen, im Senat eine Mehrheit zu holen. Das Resultat ist umso bemerkenswerter, als die PiS das einflussreiche staatliche Fernsehen TVP als Propagandainstrument missbrauchte.

Nun haben Bürgerkoalition, Dritter Weg und das Linksbündnis Lewica gute Karten beim Bestreben, an die Macht zu kommen, wenn sie nicht daran scheitern, ihre vom konservativen Zentrum bis weit nach links reichenden Positionen unter einen Hut zu bringen.

Dank seiner guten Beziehungen nach Brüssel dürfte es Tusk immerhin relativ leicht fallen, den Streit um blockierte Fördergelder der EU zu entschärfen. Dabei geht es um Milliarden, die Polen dringend braucht. Das Land hat mehr als eine Million Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen und seine Armee als Antwort auf die Bedrohung durch Russland stark ausgebaut. Das von der PiS ausgelöste rechtsstaatliche Chaos kann aber auch die Opposition nicht so leicht ordnen.Beide Seiten mobilisieren die Wähler mit dramatischen Worten

Auch wenn die klaren Gründe für den Erfolg der Opposition im Detail noch unklar sind, dürfte die bessere Mobilisierung ein wichtiger sein. Die Opposition wiederum brachte ihre Leute an die Wahlurnen, indem sie eine Richtungswahl zwischen dem Weg in die Diktatur und der Rückkehr zur Demokratie ausgerufen hatte. Sie sprach auch Frauen stark an. Die konservative Gesellschaftspolitik und vor allem das 2021 eingeführte Abtreibungsverbot hat viele Polinnen verängstigt und wütend gemacht.

Die PiS versuchte ihrerseits, die Kernwähler und -wählerinnen zur Wahl zu bewegen, indem sie nicht nur die beiden Parlamentskammern neu bestellen, sondern auch über vier Vorlagen abstimmen ließ. In diesen Referenden stellte die Regierung nach ungarischem Vorbild vier höchst tendenziös formulierte Fragen über ausländische Investoren, die Erhöhung des Rentenalters und zum Schutz der Grenzen. Deren realpolitische Bedeutung war größtenteils fiktiv.

Für die Regierungsgegner ging die Strategie offenkundig besser auf: Laut den Prognosen lag die Stimmbeteiligung bei 73 Prozent. Dies wäre ein absoluter Rekordwert, der den bisherigen von 1989 um mehr als zehn Prozentpunkte überträfe. An den „Volksbefragungen“ beteiligten sich hingegen nur 40 Prozent, womit diese ungültig sind. Die Wählerinnen und Wähler der Opposition boykottierten sie offenkundig größtenteils.