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Gesundheitspolitik

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Ich weiß, dass viele Pfleger auf den Totimpfstoff warten – und das ist ihr gutes Recht“

Die Berliner Krankenschwester Nina Böhmer wurde bekannt, als sie zu Beginn der Corona-Pandemie die Zustände in der Pflege und den Krankenhäusern anprangerte. Als Fachkraft einer Leiharbeitsfirma wurde sie immer dort eingesetzt, wo die Personalnot am größten war. In einem Wut-Posting schrieb sie damals deshalb „Euren Applaus könnt ihr euch sonst wohin stecken“ und forderte grundlegende Veränderungen des Gesundheitssystems.

Das Thema bekam zwar viel Aufmerksamkeit, es gab auch Prämien für Pflegepersonal als Ausgleich für die Überbelastung in der Pandemie. Doch Böhmer reicht das nicht. In einem Kommentar schrieb die 29-Jährige kürzlich enttäuscht von der aktuellen Gesundheitspolitik „Steckt Euch Eure Prämien sonst wohin!“. Im Telefon-Interview mit WELT erklärt sie die Gründe dafür.

WELT: Hallo Frau Böhmer, Sie haben im Moment ganz schön viel Wut im Bauch, oder?

Nina Böhmer: In den Kommentarspalten unter meinen Beiträgen wurde mir auch schon unterstellt, ich hätte Aggressionsprobleme. Aber ich denke, dass meine Wut gerechtfertigt ist. Es ist trotz vieler Versprechen nichts passiert in der Pflege.

WELT: Aber es gab doch etwa Prämien für Pflegekräfte. Und Olaf Scholz hat bei der Präsentation des Koalitionsvertrages einen Pflegebonus in Aussicht gestellt.

Böhmer: Prämien sind natürlich immer wieder eine Motivation für uns. Es stellt sich nur die Frage: Wer bekommt das Geld? Werden da wieder Unterschiede gemacht? Bekommen den Bonus so wie beim letzten Mal wieder nur diejenigen, die auf Intensivstationen arbeiten? Oder gilt das dieses Mal für alle, die in der Pflege arbeiten – also auch für die im Altenheim? Kurzfristig freut man sich darüber, aber langfristig ändert sich nichts an den schlechten Arbeitsbedingungen. Das ist der Grund, weshalb ich geschrieben habe: „Steckt Euch Eure Prämie sonstwo hin!“

WELT: Sie saßen in Talkshows, gaben Interviews, haben Gesundheitsminister Jens Spahn getroffen, ein Buch geschrieben und sogar selbst bei den Bundestagswahlen für die Satirepartei Die Partei kandidiert. Hat das was gebracht?

Böhmer: Nicht nur ich habe mich engagiert, sondern viele andere auch, die wirklich was verändern wollen in diesem Gesundheitssystem. Es sind so viele Kollegen, die sich darum bemühen und erklären, was schiefläuft. Und ja, ich hatte auch ein Gespräch mit Herrn Spahn, aber irgendwie habe ich das Gefühl, es war alles umsonst. Man hat so sehr gehofft, dass sich was ändert, dass die Arbeitsbedingungen besser werden. Auch wenn es natürlich nicht von heute auf morgen passieren kann, weil man weiß, das gutes Personal nicht von den Bäumen fällt, aber man hat sich wenigstens Gesetzesänderungen gewünscht und dass die Rahmenbedingungen geändert werden. Stattdessen wurde so ein kleines Reförmchen auf den Weg gebracht, aber der große Umschwung findet nicht statt.

WELT: Muss es also erst so richtig knallen, damit sich was bewegt?

Böhmer: Mittlerweile denke das nicht nur ich, sondern auch viele meiner Kollegen, mit denen ich auch spreche. Das System müsste wirklich einmal so richtig gegen die Wand gefahren werden – was natürlich schlimm wäre für die Patienten und die Gesellschaft. Andererseits ist es doch jetzt schon teilweise so, dass das System kollabiert. Wenn ich an die Kinder denke, die von den Kliniken abgewiesen werden und dann sehr weit fahren müssen, um noch ein freies Bett in einem Krankenhaus zu bekommen. Oder, dass Corona-Patienten ins Ausland geflogen werden müssen. Das hat ja nicht nur mit den hohen Inzidenzen zu tun. Es fehlt an Personal.

WELT: Mit an die Wand fahren meinen Sie die Triage?

Böhmer: Genau. Bislang hat man das Gefühl, alle denken, dass es doch läuft, dieses System. Dass wir Pflegekräfte dafür zwölf Tage am Stück arbeiten, ohne einen freien Tag zu haben, sieht niemand. Wir springen in unserer Freizeit ein, weil wir unsere Patienten nicht alleine lassen wollen – oder unsere Kollegen. Und das nutzt die Politik aus.

WELT: Es gibt ja bald eine neue Regierung. Im Koalitionsvertrag der Ampel steht, man wolle „Lehren aus der Pandemie“ ziehen. Die Ausbildung der Fachkräfte und Arbeitsbedingungen sollen verbessert werden, der Job soll attraktiver werden. Zudem wird eine Milliarde Euro für Prämien bereitgestellt, der Pflegebonus soll auf 3000 Euro angehoben werden – steuerfrei. Reicht Ihnen das nicht?

Böhmer: Den Vertrag habe ich mir natürlich auch schon durchgelesen. Das hört sich alles erst mal vielversprechend an, aber eigentlich sind das alles nur oberflächliche Absichtserklärungen. Auch, wenn eine Milliarde Euro für Prämien natürlich unfassbar viel Geld ist. Aber dass die von der Ampel vorgeschlagenen Maßnahmen wirklich greifen, glaube ich erst, wenn ich es selber sehe.

WELT: Diskutiert wird auch eine Impfpflicht für Pflegekräfte. Wie sehen Sie das?

Böhmer: Kritisch, weil ich die Pflegekräfte nicht als Treiber der Pandemie sehe. Erst einmal sind schon sehr viele Kollegen geimpft. Eine Studie des Robert Koch-Instituts ergab eine Quote von 90 Prozent in Krankenhäusern. Die meisten ungeimpften Kollegen haben Angst vor Nebenwirkungen. Aus Gesprächen weiß ich, dass viele auf den Totimpfstoff warten – und das ist ihr gutes Recht. Zum anderen haben wir Pflegekräfte schon mit Corona-Patienten gearbeitet, bevor es eine Impfung gab. Da gab es zum Teil nicht ausreichend Schutzkleidung – und wir haben trotzdem darauf geachtet, dass wir die Patienten und uns schützen.

WELT: Was halten Sie von einer allgemeinen Impfpflicht? Wären alle Menschen geimpft, wäre die aktuelle Situation in manchen Intensivstationen wahrscheinlich deutlich entspannter. Das wäre doch gut für die Pflegekräfte.

Böhmer: Ich glaube nicht, dass eine allgemeine Impfpflicht die Pandemie beenden wird. Ich glaube vielmehr, dass die Politik nicht richtig vorgesorgt hat für den Winter. Man hat einfach alles so laufen lassen. Ließ etwa die Menschen ohne Maske feiern wie in Köln beim Karneval. Ob ungeimpft oder geimpft, spielt aus meiner Sicht gar keine Rolle, wir hätten uns alle weiter an Maßnahmen halten müssen. Die Pandemie lässt sich nur durch ein Zusammenspiel aus allem heraus bekämpfen. Und da hilft es nicht, auf eine Gruppe nur draufzuhauen oder schlechtzureden. Das ist doch ein gemeinsames Ding.

WELT: Nun ja, aber in der aktuellen Situation müsste das Pflegepersonal dann nicht wieder alles auffangen.

Böhmer: Eine Impfpflicht für alle kann auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass das ganze Gesundheitssystem an sich marode ist. Die Pandemie legt doch bloß die grundsätzlichen Probleme frei. Hätte man von Anfang an, also direkt zu Beginn der Pandemie, grundsätzlich etwas geändert oder daran gearbeitet, dann wären sie jetzt vielleicht gar nicht in dem Schlamassel.

WELT: Sie haben ja selbst – wie schon erwähnt – für den Bundestag kandidiert, erhielten aber nicht genug Stimmen. Nehmen wir mal an, sie hätten es doch geschafft. Was würden Sie als erste Maßnahme sofort im Gesundheitssystem ändern?

Böhmer: Auch wenn es dadurch teurer wird, würde ich die Personalschlüssel anheben. Es müssen mehr Pflegekräfte auf den Stationen arbeiten. Das wäre eine Sofortmaßnahme. Dafür fehlt es an Personal. Der Job muss also attraktiver werden. Das ist eine Sache der ganzen Gesellschaft. Unsere Arbeit muss wertgeschätzt werden. Wir Krankenschwestern und Pfleger sind keine Hilfsarbeiter, die Essen servieren.

WELT: Und wie würden Sie das finanzieren?

Böhmer: Ich sehe ein, dass dies das wirkliche Problem ist. Man will ja weder Steuern erhöhen noch die Krankenkassenbeiträge. Ich würde versuchen, dort zu Geld sparen, wo ich Ausgaben für weniger sinnvoll erachte.

WELT: Also wo genau?

Böhmer: Kann ich so spontan nicht sagen. Vielleicht hätte ich mitten in der Pandemie keine Kampfflugzeuge gekauft. Ich weiß natürlich, dass Außen- und Verteidigungspolitik wichtig sind. Aber Gesundheit ist es genauso. Auch hier ist ein gesamtgesellschaftlicher Ansatz nötig. Wird die KfZ-Versicherung erhöht, wird kurz geflucht, aber sofort bezahlt. Bei der Erhöhung der Beiträge zur Krankenkasse gibt es einen Aufstand.

WELT: Sie befinden sich im Moment im Mutterschutz und Elternzeit. Wollen Sie danach in Ihren Job als Leiharbeitskraft in die Pflege zurückkehren?

Böhmer: Das würde ich sehr gerne. In der Leiharbeit war es bisher am vorteilhaftesten mit Kind, weil ich mir so die Arbeitszeiten selbst aussuchen konnte und unabhängig war von Schichtdienstplänen. Aber meine Rückkehr hängt auch davon ab, was mit Kind möglich ist und wie die Situation dann in den Krankenhäusern aussieht.

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«Das muss jetzt flutschen»: Kretschmann kritisiert Ampel

Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann fühlt sich im Kampf gegen das Coronavirus schlecht von der neuen Bundesregierung informiert. Er habe noch keinerlei Informationen über die Omikron-Variante vom neu eingesetzten Expertengremium der Bundesregierung erhalten, sagte er der Deutschen Press-Agentur. «Die Zeit drängt, deshalb erwarte ich, dass wir zügig einen Stand bekommen. Wenn man so ein Gremium einsetzt, müssen die Infos auch ankommen», sagte der Grünen-Politiker. Auch die Grünen im Bundestag seien nicht ins Bild gesetzt worden.
Die Informationspolitik müsse besser werden, sagte Kretschmann. «Das sind Startschwierigkeiten der neuen Bundesregierung, aber die Pandemie und ihre Dynamik mit der neuen Variante erlaubt jetzt keine Einarbeitungszeit. Das muss jetzt flutschen.»

Kurz vor Weihnachten setzt die rasante Ausbreitung der Virusvariante Omikron in Europa auch die neue Bundesregierung unter Druck. Unklar ist, ob kurzfristig noch schärfere Corona-Maßnahmen ergriffen werden. In anderen europäischen Ländern verbreitet sich Omikron extrem schnell. In den Niederlanden gilt seit Sonntag ein neuer strenger Lockdown. Durch die blitzschnelle Ausbreitung der Variante hat sich die Lage auch in Großbritannien in den vergangenen Tagen zugespitzt. Die Einreise aus Großbritannien nach Deutschland wird deswegen ab Montag drastisch eingeschränkt.

Kretschmann sagte, er sei sehr alarmiert über das, was er mit Blick auf Omikron höre. «Die rückläufigen Inzidenzen sind trügerisch, wir dürfen uns nicht in falscher Sicherheit wähnen», sagte der Regierungschef. Man sei immer noch auf einem viel zu hohen Niveau, und die Situation auf den Intensivstationen sei weiter am Limit. «Was uns mit Omikron droht, können wir erahnen, wenn wir nach England, Dänemark oder in die Niederlande blicken, wo sich die Virusvariante schon weiter durchgesetzt hat.» Die Variante sei hochansteckend. «Ich bin deshalb sehr beunruhigt, wird werden uns auf diese Situation auch bei uns jetzt einstellen müssen.»

Deshalb sei er auf die Einschätzungen der Experten angewiesen. «Was heißt das für den Impfschutz? Wann rechnet die Wissenschaft damit, dass Omikron dominant ist? Das müssen wir wissen, aber das kann ich nicht selber bewerten.» Der Ministerpräsident geht davon aus, dass eine Bund-Länder-Schalte noch vor Weihnachten nötig ist. «Wenn es noch im alten Jahr zu einem Hochlauf der Omikron-Welle kommt, müssen wir uns zügig beraten.»

SPD und FDP im Land, die beide im Bund mit den Grünen regieren, aber im Land in der Opposition sind, wehrten sich gegen die Kritik. «Dieses Nörgeln von Ministerpräsident Kretschmann bringt niemanden voran und erweckt den Eindruck eines abgemeldeten Landesfürsten, der mit seinem schwarzen Regierungspartner im politischen Abseits steht», sagte SPD-Fraktionschef Andreas Stoch. «Anstatt nur rumzubruddeln, erwarte ich von einem Ministerpräsidenten, dass er, sollten ihm Informationen fehlen, selbst auf die Bundesregierung zugeht, um sich von den grünen Regierungsmitgliedern oder direkt im Kanzleramt die nötigen Informationen einzuholen.»

FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke sieht in Kretschmanns Kritik ein Ablenkungsmanöver. Der Ministerpräsident solle lieber dafür sorgen, dass das desaströse Impfmanagement von Gesundheitsminister Manne Lucha (Grüne) endlich geordnet werde und die hiesigen Corona-Verordnungen verlässliche Regelungen schafften. «Die Einarbeitungszeit der Ampel ist kurz, wurde aber genutzt. Die Einarbeitungszeit von Lucha dauert mittlerweile schon fast sechs Jahre, und trotzdem flutscht es in seinem Ressort nicht.»

Ein Sprecher Luchas warf Rülke «plumpen Populismus» vor. Die Impfkampagne sei erfolgreich. Ende Oktober seien noch 127 477 Impfungen pro Woche vorgenommen worden, in der zweiten Dezemberwoche bereits 988 648. «Noch nicht bemerkt? Es flutscht in Baden-Württemberg, Herr Rülke», sagte der Sprecher

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Sind auch Sie betroffen?: Millionen Menschen bekommen ab Juli plötzlich weniger Nettolohn

Eine Reform führt dazu, dass viele Menschen weniger Geld in ihren Portemonnaies haben - wie auf unserem Symbolbild zu sehen.

Eine Reform führt dazu, dass viele Menschen weniger Geld in ihren Portemonnaies haben - wie auf unserem Symbolbild zu sehen.© Robert Günther/dpa-tmn

Diese Reform der Ampel-Regierung hat es in sich. Auf der einen Seite führt sie dazu, dass dringend benötigtes Geld zusammenkommt – auf der anderen Seite geht sie vielen Menschen in Deutschland direkt ans Portemonnaie.

Die Rede ist von der Pflegereform von Gesundheitsminister Karl Lauterbach, über die der Bundestag am Freitag (26. Mai 2023) final abstimmt. Von einem Beschluss des Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetz der Regierungskoalition ist allerdings auszugehen, da in der Ampel Einigkeit darüber besteht. Doch was kommt dadurch auf die Bürgerinnen und Bürger zu?

Weniger Netto-Lohn ab Juli – zwei Beispiele

Die gesetzliche Pflegeversicherung hatte im vergangenen Jahr ein Defizit von rund 2,2 Milliarden Euro verbucht. Das neue Gesetz der Regierung sieht deshalb zum 1. Juli einen Anstieg der Beitragssätze in der Pflegeversicherung von 3,05 auf 3,4 Prozent des Bruttolohns vor. Bei Kinderlosen soll der Beitrag von bisher 3,4 auf vier Prozent steigen. Das soll Mehreinnahmen von rund 6,6 Milliarden Euro pro Jahr bringen. Gleichzeitig sollen auch diejenigen entlastet werden, die jemanden pflegen. Ab dem nächsten Jahr gibts fünf Prozent mehr Pflegegeld.

Doch was bedeuten diese Zahlen für jeden Einzelnen? Verdient man 2000 Euro brutto im Monat und ist kinderlos, erhöht sich der Beitrag für die Pflegeversicherung von 37,50 Euro auf 46 Euro monatlich. Hat man bei demselben Verdienst ein Kind, geht es von 30,50 Euro hoch auf 34 Euro.

Bei einem Brutto-Monatslohn von 3000 Euro geht vom Nettolohn vergleichsweise mehr ab. Kinderlose zahlen 69 Euro statt bisher 56,25 Euro, Menschen mit einem Kind 51 Euro statt 45,75 Euro.

Insgesamt ergibt sich folgende Beitragsstaffelung für die Pflegeversicherung ab 1. Juli 2023:

  • kein Kind: 4 Prozent (Arbeitnehmer: 2,3 Prozent, Arbeitgeber stets 1,7 Prozent)
  • ein Kind: 3,4 Prozent (Arbeitnehmer: 1,7 Prozent)
  • zwei Kinder: 3,15 Prozent (Arbeitnehmer: 1,45 Prozent)
  • drei Kinder: 2,9 Prozent (Arbeitnehmer: 1,2 Prozent)
  • vier Kinder: 2,65 Prozent (Arbeitnehmer: 0,95 Prozent)
  • fünf und mehr Kinder: 2,4 Prozent (Arbeitnehmer 0,7 Prozent)

Kritik an Pflegerefrom: „Muss mehr Netto vom Brutto bleiben“

Lauterbach nennt die Erhöhung alternativlos. Seit 2017 seien die Kosten in der Pflegeversicherung von 35 auf 66 Milliarden Euro angestiegen, sagte er bei der ersten Lesung des Gesetzes. Es gebe keinen Sozialbereich, der schneller wachse. Er räumte ein, dass nach der jetzigen Reform eine grundlegende Änderung der Finanzierung folgen müsse und zeigte sich zu verschiedenen Modellen gesprächsbereit.

Der Präsident des Arbeitgeberverbandes BDA, Rainer Dulger, forderte die Bundesregierung auf, bei der Beitragserhöhung „die Notbremse zu ziehen“. Die Politik müsse „in Zeiten enormer Preissteigerungen alles tun, damit mehr Netto vom Brutto bleibt“. Die Arbeitgeber tragen die Beitragssätze in der Pflege ohne die Aufschläge bei Kinderlosen zur Hälfte.

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Sozialbeiträge: Firmen und Arbeitnehmern drohen noch höhere Abgaben

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Die Lage der Pflegeversicherung ist noch schlechter als befürchtet. Auch die Krankenversicherung dürfte deutlich teurer werden – eine Kasse rechnet bereits mit über 19 Prozent Beitragssatz.

Arbeitnehmer und Unternehmen stehen vor einem Beitragsschock in der Sozialversicherung: 2025 könnten die Sozialabgaben so stark steigen wie seit 20 Jahren nicht mehr. Grund dafür sind höhere Beiträge für die Pflege- wie auch für die Krankenversicherung. Die stark steigenden Lohnnebenkosten sind ein Risiko für die ohnehin nur zaghafte konjunkturelle Erholung, die die Bundesregierung für 2025 erwartet.

Die Schieflage der Pflegeversicherung ist dabei besonders alarmierend. Für dieses Jahr rechnen Experten mit einem Defizit von 1,5 Milliarden Euro, für 2025 sogar mit 3,5 Milliarden Euro.

Steffen Kampeter von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände fordert dringend eine Reform. „Vor dem drohenden Kollaps warnen wir Arbeitgeber schon seit Jahren“, sagt er und verweist auf eine OECD-Auswertung: Deutschland stehe bei den Lohnnebenkosten schon heute auf dem zweiten Platz.

Aber auch bei Krankenversicherungen kommt es zu starken Beitragssteigerungen. Während zwei Drittel der Privatversicherten mit einem Anstieg ihrer Prämien rechnen müssen, warnt der Dachverband der Betriebskrankenkassen vor steigenden Zusatzbeiträgen. Die gesetzlichen Kassen wird perspektivisch ebenfalls mehr kosten.

Der Wirtschaftsweise Martin Werding warnt zudem: „Spätestens 2028 steigt der Rentenbeitrag um mindestens einen Prozentpunkt.“ Der Sozialstaat wird damit immer teurer: Die Belastung durch Steuern und Abgaben gemessen am Bruttoinlandsprodukt dürfte 2026 auf 47,7 Prozent steigen, so haben es die führenden Wirtschaftsinstitute in ihrer Gemeinschaftsprognose errechnet. Das wäre ein Rekord.

Hohe Arbeitskosten belasten Unternehmen

Die hohen Arbeitskosten sind schon jetzt ein Problem für die Wirtschaft. In einer Umfrage der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) gaben schon Anfang des Jahres 53 Prozent der Unternehmen die Arbeitskosten als besonderes Geschäftsrisiko an.

Der drohende weitere Anstieg der Lohnnebenkosten trifft Deutschland in einer Zeit, in der die Wirtschaft ohnehin schon in der Schieflage ist. Erst am Montag überbrachte das Statistische Bundesamt erneut schlechte Nachrichten: Das Neugeschäft der Industrie ist eingebrochen. Die Bestellungen sanken im August um 5,8 Prozent im Vergleich zum Vormonat und damit so stark wie seit Januar nicht mehr.

Insbesondere die Großaufträge sind zurückgegangen. Doch auch bereinigt darum, sind die Industrieaufträge im August um 3,4 Prozent gesunken. „Mit dem nun eingetretenen Rückgang sind aber die Hoffnungen darauf, dass die Bestellungen die Talsohle durchschritten haben könnten, wieder gesunken“, erklärt das Bundeswirtschaftsministerium. Eine spürbare Erholung der Industriekonjunktur sei auch in der zweiten Jahreshälfte wenig wahrscheinlich.

Damit wird immer wahrscheinlicher, dass die deutsche Wirtschaft 2024 erneut nicht wächst. Davon geht inzwischen auch die Bundesregierung aus. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) wird am Mittwoch die neue Konjunkturaussicht vorstellen, die ein Schrumpfen der Wirtschaftsleistung um 0,2 Prozent prognostiziert.

Wirtschaftsweiser Werding fordert große Reform

Der Wirtschaftsweise Werding hält daher ein politisches Eingreifen für zwingend erforderlich. „Es sind Strukturreformen in allen drei Zweigen nötig, die die Ausgaben dämpfen“, sagt der Volkswirt von der Ruhr-Universität Bochum, also der Pflege-, Kranken- und Rentenversicherung.

Axel Börsch-Supan, Direktor des München Center for the Economics of Aging, kritisiert, dass das Problem vorhersehbar gewesen sei. „Es ist doch klar, dass die Beiträge steigen müssen, wenn man die Leistungen ausweitet, der Kreis der Leistungsempfänger durch den demografischen Wandel steigt und man eine Pandemie mit ihren Zusatzkosten verdauen muss.“ Nun brauche man „eine umfassende und weitsichtige Strategie, wie man mit den Sozialversicherungen umgehen will, anstatt kurzfristig Geld auf die Probleme zu werfen, das man immer weniger hat“. Die bisherigen Eingriffe der Bundesregierung reichten dazu nicht aus.

Die geplante Krankenhausreform von Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) habe zwar das Potenzial, für Besserung zu sorgen. Ökonom Werding betont jedoch: „Um sie durchzusetzen, dürften nicht wie geplant Kosten von den Ländern auf die Krankenversicherungen verschoben werden.“ Vor allem drei Bereiche des Sozialstaats bereiten Experten und der Politik Sorge.

Milliardenloch in der Pflegeversicherung

Die Finanzplanung der Pflegeversicherung war schon im vergangenen Jahr unzureichend. Die Zahl der Pflegeversicherten stieg schneller als erwartet, erklärt Gesundheitsökonom Günter Neubauer vom Institut für Gesundheitsökonomik. „Ein Defizit von rund drei Milliarden Euro ist zwar im Verhältnis zu den Gesamteinnahmen gering, wird aber vor allem die Arbeitgeber belasten, da ihre Personalkosten weiter steigen.“ Die Arbeitgeber zahlen die Hälfte der Beiträge. Um die Zahlungsfähigkeit zu sichern, müsste der Beitragssatz zum 1. Januar 2025 um mindestens 0,25 Prozentpunkte steigen.

Carola Reimann, Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, forderte eine umfassende Finanzreform. Diese müsse auch einen Ausgleich für die Pandemiekosten in Höhe von 5,3 Milliarden Euro sowie vier Milliarden Euro Steuerzuschuss für pflegende Angehörige beinhalten.

Isabell Halletz, Geschäftsführerin des Arbeitgeberverbands Pflege, ruft den Gesetzgeber auf, die Situation ernst zu nehmen. In Beitragserhöhungen sieht sie langfristig keine Lösung des Problems. „Die hohen Abgaben belasten nicht nur Arbeitnehmer, sondern auch Arbeitgeber branchenübergreifend.“

Ohne ein durchdachtes Konzept müssten die Pflegekassen weiter auf Kosten der Pflege sparen. Das könnte zu weiteren Schließungen, Insolvenzen und Angebotseinschränkungen führen – und damit zu mehr Unsicherheit für die Pflegebedürftigen. „Die Pflegeunternehmen brauchen jetzt verlässliche politische Rahmenbedingungen und langfristige Finanzierungspläne, um den drohenden Kollaps zu verhindern“, so Halletz.

Minister Lauterbach hat vor dem Hintergrund der Finanzprobleme der Pflegeversicherung eine „große Reform“ angekündigt. Details zu möglichen Beitragssatzsteigerungen nannte er aber nicht. Nicht zu bestreiten sei, dass die Pflegeversicherung derzeit im „Beitragssatzdruck“ sei, sagte der SPD-Politiker am Montag lediglich.

In wenigen Wochen werde eine Pflegereform vorgestellt, aktuell sei man in der Feinabstimmung. „Es wird eine große Reform sein.“ Es gehe dabei um die Finanzierung, etwa um die Beiträge, die Eigenbeteiligung in der stationären Pflege, um mögliche Vollkasko-Elemente und eine Stärkung der Angehörigenpflege. Zum Thema Beitragssätze sagte er, dies werde im Gesamtpaket mit der Reform bekanntgegeben.

Rekord bei Zusatzbeiträgen von Kassenmitgliedern

Die gesetzliche Krankenversicherung steht vor ähnlichen Herausforderungen. Der Dachverband der Betriebskrankenkassen (BKK) warnte bereits vor dem höchsten Anstieg der Zusatzbeiträge seit Langem. Für das kommende Jahr rechnet der BKK mit einem Anstieg um 0,75 Prozent. Die Krankenkasse DAK Gesundheit rechnet in den nächsten zehn Jahren mit einem Anstieg um drei Prozentpunkte – von 16,3 auf 19,3 Prozent.

Betroffen ist auch die private Krankenversicherung (PKV). Bis 2025 rechnen die Versicherer mit Beitragsanpassungen von 18 Prozent für zwei Drittel der PKV-Vollversicherten. Im Schnitt müssen Privatversicherte mit monatlichen Beiträgen von rund 623 Euro rechnen. Hauptursachen seien der PKV zufolge hohe Leistungsausgaben im Krankenhausbereich und steigende Personalkosten durch gesetzliche Vorgaben für Pflegekräfte.

Steuerentlastungen könnten verpuffen

Die steigenden Sozialabgaben konterkarieren die Bemühungen der Bundesregierung, die Bürger zu entlasten und so die Wirtschaft anzukurbeln. Zwar hat die Bundesregierung die sogenannte kalte Progression entschärft. Das auch als „schleichende Steuererhöhung“ bezeichnete Phänomen beschreibt das Problem, dass ein Steuerzahler nach einer Gehaltserhöhung mehr Steuern zahlen muss, ihm wegen der Inflation aber kaum etwas davon übrig bleibt.

Diesen Effekt glich die Bundesregierung zuletzt aus, was in Zeiten hoher Inflation durchaus eine kostspielige Angelegenheit für den Staat ist. Allerdings schlagen sich die steigenden Sozialversicherungsbeiträge in den Gehaltsabrechnungen der Arbeitnehmer immer stärker nieder.

„Sollten 2025 der Zusatzbeitrag in der Krankenversicherung oder die Pflegeversicherung steigen, ist zu befürchten, dass von den angedachten Steuerentlastungen wenig bis gar nichts mehr bei den Bürgern ankommt“, sagt Finanzwissenschaftler Frank Hechtner von der Universität Erlangen-Nürnberg

Erstpublikation: 07.10.2024, 10:12 Uhr.