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Folgen des Brexit: EU-Bürger brauchen bald Reisepass für Großbritannien

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Spannungen um Nordirland-Abkommen: USA drohen Truss mit Konsequenzen bei Änderungen am Brexit-Vertrag

Die USA haben die neue britische Premierministerin davor gewarnt, den Streit über Nordirland eskalieren zu lassen. Das würde sich negativ auf Gespräche um ein Handelsabkommen zwischen Großbritannien und den USA auswirken.

Spannungen um Nordirland-Abkommen: USA drohen Truss mit Konsequenzen bei Änderungen am Brexit-Vertrag

Spannungen um Nordirland-Abkommen: USA drohen Truss mit Konsequenzen bei Änderungen am Brexit-Vertrag© EVELYN HOCKSTEIN / REUTERS

Die USA warnen die neue britische Premierministerin Liz Truss vor einseitigen Veränderungen am Brexit-Vertrag mit der Europäischen Union. Jeder Versuch, das Nordirland-Abkommen zu unterlaufen, werde sich negativ auf die Gespräche über ein Handelsabkommen zwischen Großbritannien und den USA auswirken, erklärte die Pressesprecherin der US-Regierung, Karine Jean-Pierre, am Mittwoch. Truss hatte noch als Außenministerin ein Gesetz vorangetrieben, mit dem das sogenannte Nordirland-Protokoll ausgehebelt werden soll.

Die britische Regierung hatte das Nordirland-Protokoll selbst im Rahmen des EU-Austritts ausgehandelt. Es sieht für Nordirland besondere Zollregeln vor, um die sensible Grenze zwischen der britischen Provinz und dem EU-Staat Irland offenzuhalten – auch um ein Wiederaufflammen des Nordirland-Konflikts zu verhindern. Durch die Übereinkunft ist aber de facto eine Zollgrenze in der Irischen See entstanden, die Nordirland vom Rest des Vereinigten Königreichs trennt. Das führte unter anderem zu Lieferproblemen und auch insgesamt zu großem Unmut in Großbritannien.

EU kritisiert das Vorhaben scharf

Das Gesetz zur Änderung des Nordirland-Protokolls hatte Ende Juni mit einer Abstimmung im Unterhaus eine erste parlamentarische Hürde genommen. Es sieht neben steuerlichen Änderungen und einem Kennzeichnungssystem für Waren auch vor, dass der Europäische Gerichtshof nicht mehr für Streitigkeiten bei der Umsetzung des Brexits zuständig sein soll. Die EU kritisiert das Vorhaben scharf und droht mit dem Gang vor den Europäischen Gerichtshof.

Truss hatte am Mittwochabend in einem Telefonat mit Kanzler Olaf Scholz auf eine Lösung im Streit um das Nordirland-Protokoll gedrungen. Am Dienstag hatte US-Präsident Joe Biden nach Angaben des Präsidialamtes in einem Telefonat mit Truss darauf gepocht, den Frieden in Nordirland zu wahren und mit der EU einen Kompromiss auszuhandeln.

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Brexit: Krisenjahre statt Aufbruch

Mit dem Brexit wollte Großbritannien wirtschaftlich durchstarten. Von dem Plan geblieben ist nicht viel. Eine wirtschaftliche Bilanz von vier Premiers in sieben Jahren

Das britische unabhängige Amt für verantwortliche Haushaltsführung OBR hat geschätzt, dass sich die Wirtschaftsleistung des Vereinigten Königreiches wegen des Brexits mittelfristig um 4 Prozent schwächer entwickeln wird als ohne Brexit.

Das britische unabhängige Amt für verantwortliche Haushaltsführung OBR hat geschätzt, dass sich die Wirtschaftsleistung des Vereinigten Königreiches wegen des Brexits mittelfristig um 4 Prozent schwächer entwickeln wird als ohne Brexit.© GSO Images/​Getty Images

Der Brexit sollte wirtschaftliche Unabhängigkeit bringen und die Volkswirtschaft Großbritanniens wettbewerbsfähiger machen und wachsen lassen. Davon ist nicht viel zu spüren – es wird weniger im Land investiert, Unternehmen finden nicht mehr ausreichend gut ausgebildete Arbeitskräfte, der Handel mit der EU stockt und als einzige Lösung experimentierte die letzte Regierung unter Premierministerin Liz Truss mit einem radikalen Programm der libertären Umgestaltung der Wirtschaft. Das Programm scheiterte: Die Zentralbank musste an den Kapitalmärkten eingreifen, um die Anleihemärkte zu stabilisieren. Politisch verschleißen sich die regierenden Konservativen – Premier Liz Truss trat nach nur 45 Tagen vom Amt zurück. Der EU-Austritt kommt das Vereinigte Königreich teuer zu stehen. Denn er verstärkt die Folgen der externen Krisen: der Corona-Pandemie, des Angriffskrieges auf die Ukraine, der Energiekrise. Grafiken zeigen, wie sich Inflation, Wirtschaftsleistung, Außenhandel, Arbeitsmarkt und Staatsschulden entwickelt haben.

Pfund im freien Fall

Als Großbritannien noch zur EU gehörte und viele europäische Staaten den Euro einführten, behielt das Vereinigte Königreich das Pfund. Das hat auch mit seiner langen Geschichte zu tun: Das Pfund ist 1.200 Jahre alt und damit die älteste noch gebräuchliche Währung. Es gilt zudem neben dem US-Dollar als eine der wichtigsten Reservewährungen.

Zuletzt verfiel die Währung rasant. Etwa, als der inzwischen entlassene Finanzminister Kwasi Kwarteng vor Kurzem milliardenschwere und nicht gegenfinanzierte Steuerpläne vorstellte. An den Finanzmärkten befürchtete man eine stark steigende Staatsverschuldung und noch höhere Inflationsraten und Zinsen. Zwischenzeitlich lag das Pfund gleichauf mit dem Dollar. Schon unter den Vorgängern der zurückgetretenen Premierministerin Liz Truss hatte die Währung enorm an Wert verloren. Besonders drastisch war der Absturz nach der Brexit-Abstimmung am 23. Juni 2016.

Für die britische Wirtschaft ist der Verfall der Währung aus mehreren Gründen problematisch. Zwar werden britische Waren für ausländische Firmen günstiger. In Großbritannien ist aber vor allem der Dienstleistungssektor stark, viele Industriegüter importiert das Land dagegen. Die schwache Währung erschwert es, das Außenhandelsdefizit auszugleichen. Waren aus dem Ausland werden mit jedem Kursverfall teurer, was die Inflation in Großbritannien hochtreibt. Unter Liz Truss hatte sich der Kurs des Pfunds zunächst zwar etwas verbessert. Doch die Verunsicherung an den Märkten ist groß und wird sich erst legen, wenn der neue Premierminister Rishi Sunak fiskalpolitisch verantwortliche Politik macht und das Land zum Wachstum zurückführt.

Inflation fast wie zu Thatchers Zeiten

Die Inflation ist seit dem Brexit ein Problem. Mittlerweile ist sie auf ein neues 40-Jahres-Hoch gestiegen. Insgesamt verteuerten sich Waren und Dienstleistungen im September um 10,1 Prozent zum Vorjahresmonat, so das britische Statistikamt. Getrieben wird die Teuerung nicht etwa nur durch die Energiekrise – die kommt noch dazu. Es sind vor allem die steigenden Lebensmittelpreise, zuletzt wurden Nahrungsmittel 14,5 Prozent teurer. Hintergrund ist auch der Brexit: Großbritannien ist auf Lebensmittelimporte angewiesen, etwa von Schweinefleisch – nur 60 Prozent des Bedarfs kommt aus dem Inland.

Bei der Einfuhr aus der EU sind jetzt auch mehr Einfuhrbestimmungen einzuhalten, zudem haben sich die Lieferzeiten verlängert, Unternehmen müssen deshalb Warenlager dazwischenschalten – alles Kosten, die sie auf die Verbraucher umlegen. Zudem erschweren durch Corona bedingte Lieferkettenschwierigkeiten und der Angriffskrieg Russlands die Warenströme. Das britische Institute of Grocery Distribution (IGD) prognostiziert, dass die durchschnittlichen monatlichen Ausgaben für Lebensmittel für eine typische vierköpfige Familie im Januar 2023 bei etwa 439 Pfund (511 Euro) liegen werden. Im vergangenen Januar waren es nur 396 Pfund. Besonders Fleisch, Getreide- und Milchprodukte sowie Obst und Gemüse dürften noch teurer werden.

Noch 2015, also vor dem Brexit, gab es quasi gar keine Inflation, sie betrug damals 0,05 Prozent.

Schwächere Wirtschaftsleistung ohne die EU

Die Wirtschaftsleistung ist seit dem Brexit gesunken, das Bruttoinlandsprodukt war wiederholte Male im Minuswachstum, ökonomisch betrachtet befindet sich das Vereinigte Königreich damit in der Rezession. Mittelfristig wird sich das Wachstum laut britischer Haushaltsfachleute vier Prozent schwächer entwickeln als ohne Brexit. Damit wäre der volkswirtschaftliche Schlag des EU-Austritts schlimmer als die ökonomische Wirkung der Corona-Pandemie.

Zahlreiche Branchen leiden an dem Brexit und daran, dass Geschäftsreisende Visa in der EU brauchen: Plötzlich ist es komplizierter geworden, Techniker und Ingenieure von der EU zur Wartung von Maschinen nach Großbritannien zu entsenden. Die Fischerei hatte gehofft, alleinigen Zugang zu den britischen Gewässern zu haben – vergebens. Die EU fischt weiter in den britischen Gewässern – wenn auch langfristig etwas weniger. In Grönland verloren die Briten die Fischereirechte. Auch ist es schwieriger Tourneen für Musikorchester, Rockbands oder Models in der Modebranche zu organisieren.

Allein die aktuellen Daten zeigen ein eher ernüchterndes Bild: Die Einzelhandelsumsätze etwa im September lagen 6,9 Prozent unter Vorjahresmonat, einen ähnlichen Absturz gab es nur zu Beginn der Pandemie. Davor hatte die Wirtschaftsleistung pro Kopf bei mehr als 42.000 US-Dollar gelegen – 2020 waren es nur noch gute 40.000 US-Dollar.

Beim Außenhandel mit der EU behandelt wie ein Drittstaat

Das Gesamthandelsvolumen mit der EU hat sich um 20 Prozent reduziert, also deutlich. Denn die EU behandelt das vereinigte Königreich wie einen Drittstaat und wendet Zollbeschränkungen an. Bereits im Januar 2021 war der Export in die EU im Monatsvergleich um 41 Prozent geschrumpft. Der Warenstrom aus der EU nach Großbritannien ging um 29 Prozent zurück – der größte Einbruch seit Beginn der nationalen Statistik im Januar 1997.  Großbritannien hatte mit dem Brexit mehr als 1.500 EU-Vorschriften und Regulierungen übernommen, die eigentlich lang hätten aussortiert, abgeändert und in britisches Recht übernommen werden müssen. Doch die Regierung hatte – auch wegen der ständigen politischen Krisen – nie Zeit dazu. Den wirtschaftsnahen Behörden fehlen dadurch politische Vorgaben, der Wirtschaft selbst ein Konzept. Die ständige Unsicherheit hält Unternehmen davon ab, zu investieren. Den viel gepriesenen Handelsvertrag mit den USA, der den Einbruch des Handels mit der EU ausgleichen sollte, gibt es bis heute nicht.

Die Arbeitslosenquote ist nur wegen Massenabwanderung gering

Stolz sind die Brexit-Befürworter auf eines: Die Arbeitslosigkeit in Großbritannien ist so niedrig wie zuletzt 1974. Allein von Mai bis August in diesem Jahr war sie laut Statistikbehörde auf 3,5 Prozent gesunken, das ist ein Prozentpunkt niedriger als vor der Corona-Pandemie.

Der Arbeitsmarkt in Großbritannien brummt also – und das ist tatsächlich, neben einem Nachholbedarf nach Corona, eine Folge des Brexits. Das klingt nur gut. Denn die Wirtschaft holt nur die Corona-Zeit nach. Auch garantieren viele dieser Jobs keine Vollzeitbeschäftigung, sind oft nur Zeitarbeitsjobs und bieten keinerlei Absicherung. Auch haben viele Hochqualifizierte, aber auch Arbeitskräfte wie etwa Lkw-Fahrer, mit dem Brexit den britischen Arbeitsmarkt verlassen, auch solche aus dem Hotel- und Gaststättengewerbe, dem Gesundheits- und Pflegesektor, der fleischverarbeitenden Industrie, im Handel und in der Landwirtschaft. Nach der Corona-Pandemie verhinderten hohe Visa-Hürden ihre Rückkehr. Einen Vorteil hatte dies: Diese Fachkräfte nahmen keine Arbeitslosenhilfe oder andere Sozialleistungen in Anspruch, das entlastet den britischen Staat.

Seit Monaten sind mehr als eine Million Stellen unbesetzt. Vier Fünftel (78 Prozent) der Firmen finden nur schwer Personal, ergab eine Umfrage des britischen Handelskammerverbundes British Chambers of Commerce (BCC) unter 5.500 Betrieben im ersten Quartal. Dennoch ist die Beschäftigungsquote der Briten nicht signifikant gestiegen, sie lag zuletzt bei 75,5 Prozent, wie in den vergangenen 30 Jahren auch. Und auch die Quote jener, die weder einen Job haben noch danach suchen, war zuletzt so stark gestiegen wie seit Beginn der Aufzeichnungen 1971.

Immer mehr Menschen brauchen Sozialhilfe

Immer mehr Menschen in Großbritannien sind auf Sozialhilfe angewiesen. Das hat aber nicht nur mit dem Brexit, der Pandemie oder dem Krieg in der Ukraine zu tun, sondern auch mit dem sogenannten Universal Credit (UC), ein 2013 eingeführtes Sammelsurium von sechs staatlichen Hilfsleistungen. Einiges deutet darauf hin, dass mit den wirtschaftlichen Folgen des Brexits auch mehr Menschen bedürftig geworden sind. Viele sind wegen des katastrophalen Zustandes des Gesundheitssystems auch schlichtweg krank, bekommen keine Operationen und können allein deshalb nicht arbeiten.

Zwischen 2018 und 2021 stieg die Zahl der Empfänger von mehr als eine Million Haushalte auf fast fünf Millionen – hier spielte sicherlich Corona eine Rolle. Im Mai 2022 waren es immerhin noch über 4,7 Millionen Haushalte, wie die amtliche Statistik zeigt. Insbesondere seit Februar 2021 stieg die Zahl der Bedürftigen stark. Immer mehr beziehen auch aufstockende Sozialleistungen, weil ihre Löhne nicht reichen.

Die Staatsschulden scheinen zu explodieren

Angesichts der vielfältigen negativen Auswirkungen des Brexits verwundert es nicht, dass Großbritannien sehr hohe Staatsschulden hat. Auch deshalb hatten die Verschuldungspläne der Ex-Premier Liz Truss so starke Kritik ausgelöst.

Hohe Schulden zu machen, ist seit vielen Jahren Alltag in der britischen Politik. Noch 2015 lagen sie bei 1.664,70 Milliarden Pfund. Im vergangenen Jahr war diese Summe auf 2.209,27 Milliarden Pfund angewachsen – die Schuldenquote betrug daher 95,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Die Schuldenquote stieg zuletzt sogar über 100 Prozent, im Coronajahr 2020. Damals hatte der Staat mehr Schulden als an Wirtschaftsleistung überhaupt vorhanden war. Die Schuldenquote betrug 102,61 Prozent des BIP, die Schulden beliefen sich auf 2.206,46 Milliarden Pfund.

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Die Briten und der Brexit: "Zurück in Zollunion und Binnenmarkt"

In Großbritannien werden immer weniger Lebensmittel produziert. Landwirte schrauben ihre Produktion zurück, gezwungenermaßen, es fehlt an Arbeitskräften. Gleichzeitig steigen die Kosten, inflationsbedingt.

Schafzucht in Großbritannien

Schafzucht in Großbritannien© Danny Lawson/AP

Die Situation ist katastrophal, es gerät außer Kontrolle...

Liz Webster
Vorsitzende von Save British Food

"Der britische Handel leidet unter so viel Bürokratie, es könnte nicht schlimmer sein" meint Liz Webster,  Vorsitzende von Save British Food"Mit Blick das Land mache ich mir wirklich Sorgen um die Lebensmittelsicherheit, Bevorratung und die Versorgung."

Liz Webster vertritt eine wachsende Zahl britischer Landwirte, für die der Brexit die Situation noch verschlimmert hat. Sie wollen zurück in den europäischen Binnenmarkt.

Nicht nur in der Landwirtschaft stehen die Zeichen auf Rückkehr. Britische Meinungsforscher sehen seit dem Referendum von 2016 eine "deutliche und wachsende Verschiebung" hin zur Rückkehr in den Binnenmarkt.

Der Handel leidet unter der Brexit-Bürokratie

57% der Briten glauben jetzt, der Brexit sei ein Fehler gewesen. Import zum Beispiel, der Weinhandel, nur eine weitere Branche, für die es schlechter läuft.Große Bestellungen in Europäischem Wein brauchten vor dem Brexit ein paar Tage über den Kanal - jetzt sind es Monate. Die Frustration sitzt tief über die Politik – niemand scheint dort bereit, über den Wiedereintritt Großbritanniens zu diskutieren...

Ich bin fassungslos, dass diese Diskussion nicht geführt wird - es gibt so viele Unternehmen, die wirklich zu kämpfen haben. Wir müssen ehrliche Gespräche über die Zollunion und den Binnenmarkt führen - über alles, was uns wirklich hilft...

Ben Wilcock
Lant Street Wine Company

Die öffentliche Meinung in Großbritannien scheint sich gedreht zu haben. Die Wirtschaft steht unter Druck, muss sich weiter anpassen an eine Situation, die durch galoppierende Energiepreise und die Inflation nicht einfacher wird.

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Britischer Ex-Zentralbanker: »Ohne Brexit müssten wir keinen Sparhaushalt diskutieren«

Die Arbeitslosigkeit in Großbritannien ist überraschend gestiegen, die Regierung sucht händeringend nach neuen Einnahmequellen – und Ausgaben, die sie kappen kann. All das hätte sich verhindern lassen, sagt ein Top-Ökonom.

Britischer Ex-Zentralbanker: »Ohne Brexit müssten wir keinen Sparhaushalt diskutieren«

Britischer Ex-Zentralbanker: »Ohne Brexit müssten wir keinen Sparhaushalt diskutieren«© NEIL HALL / EPA

Er sei nach seinem Ausscheiden aus dem geldpolitischen Gremium der Bank of England ja nun endlich frei, wie falle da denn sein Fazit zur Wirtschaftspolitik des Vereinigten Königreiches aus, wollte die Moderatorin von Ex-Zentralbanker Michael Saunders wissen. Es war die perfekte Überleitung zu einer geharnischten Abrechnung: Ökonom Saunders, im August 2022 nach sechs Jahren bei der britischen Zentralbank ausgeschieden, nahm im Gespräch mit »Bloomberg TV« kein Blatt vor den Mund.

Es habe sich ja um eine »chaotische Periode« gehandelt, mit fünf Premierministern im Amt und sieben Finanzministern, bei der Zahl sei er sich aber nicht ganz sicher, bei der Fluktuation könne man schon mal durcheinander kommen. Von dieser Zeit bleibe vor allen Dingen hängen, dass das Produktionspotenzial der britischen Wirtschaft »schwach« gewesen sein. Die Wirtschaft werde in der nächsten Zeit nicht mehr als ein Prozent pro Jahr wachsen können. Das werde harte Verteilungskämpfe um den Lebensstandard bedeuten und andauernde politische Auseinandersetzungen über mögliche Steuererhöhungen.

Arbeitslosigkeit steigt überraschend an

Der Grund dafür sei nicht in erster Linie die Pandemie – sondern der Austritt Großbritanniens aus der EU. »Die gesamte britische Volkswirtschaft ist dauerhaft beschädigt worden durch den Brexit«, so Saunders. »Wäre der Brexit nicht gewesen, dann müssten wir wahrscheinlich nicht über einen Sparhaushalt diskutieren. Die Notwendigkeit für Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen wäre nicht da«. Die Regierung stehe vor der großen Herausforderung, irgendwie das Wirtschaftswachstum anzukurbeln.

Die Vorzeichen dafür stehen aktuell nicht gut. So ist die Arbeitslosigkeit in Großbritannien überraschend gestiegen – anders als von Experten erwartet. Die Erwerbslosenquote stieg im Zeitraum Juli bis September auf 3,6 Prozent, wie das Statistikamt ONS am Dienstag mitteilte. Im September lag die Quote sogar bei 3,8 Prozent. Damit zeigen sich erste Auswirkungen der konjunkturellen Talfahrt.

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Großbritannien: Oberstes Gericht entscheidet gegen zweites schottisches Referendum

Der Supreme Court in London hat entschieden, dass die Schotten nicht noch einmal über ihre Unabhängigkeit abstimmen sollen. Das ist Öl im Feuer von Regierungschefin Sturgeon, die dennoch nicht aufgeben will.

Demonstranten in Glasgow schwenken Fahnen während einer Kundgebung für die schottische Unabhängigkeit.

Demonstranten in Glasgow schwenken Fahnen während einer Kundgebung für die schottische Unabhängigkeit.© Jane Barlow/dpa

Oberstes Gericht entscheidet gegen zweites schottisches Referendum

Der Oberste Gerichtshof in Großbritannien hat einstimmig entschieden, dass ein weiteres schottisches Referendum über die Abspaltung vom Vereinigten Königreich gegen den Willen Westminsters nicht zulässig ist. Die schottische Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon hatte ungeachtet der Ablehnung der britischen Regierung im Juni ihre Pläne für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum vorgestellt. Das Referendum, das im Oktober 2023 stattfinden sollte, wenn es nach Sturgeon ginge, wäre bereits das zweite seit 2014. Damals hatte sich eine Mehrheit der Schotten für einen Verbleib im Königreich ausgesprochen.

Vor Gericht ging es darum, ob das Regionalparlament in Edinburgh ein Referendum über die Loslösung von London beschließen darf - auch wenn die britische Regierung dagegen ist. Die Premierminister, die seit 2014 im Amt waren, David Cameron, Theresa May, Boris Johnson und Rishi Sunak, waren allesamt gegen ein schottisches Unabhängigkeitsreferendum, denn die Schotten hätten sich 2014 eindeutig entschieden.

Brexit hat alles verändert

Doch Sturgeon argumentiert, seit dem Brexit-Referendum von 2016 seien die Karten neu gemischt: Das Vereinigte Königreich ist aus der EU ausgetreten, während in Schottland eine deutliche Mehrheit gegen den Brexit war. Unterdessen sind unter dem Einfluss der schweren Wirtschafts- und Energiekrise, die Großbritannien wie viele andere Länder derzeit erlebt, auch in England wieder Diskussionen darüber lauter geworden, ob der Brexit aus wirtschaftlicher Sicht die falsche Entscheidung war. Premierminister Sunak bestreitet dies jedoch.

Die Ablehnung des schottischen Ansinnens durch ein Gericht in England könnte nun den Befürwortern der Unabhängigkeit Aufwind geben, die bestreiten, Schottland befinde sich in einer freiwilligen Union. Im Vorhinein hatte Sturgeon betont, dass sie ein Nein aus London akzeptieren werde, dann aber die nächste britische Parlamentswahl als Quasi-Referendum führen werde.

Im Parlament in Edinburgh sind die Befürworter der Unabhängigkeit in der Mehrheit. Ungeachtet der Londoner Entscheidung hatte das Unabhängigkeitslager für den Nachmittag in mehreren schottischen Städten zu Demonstrationen aufgerufen. Auch in fünf EU-Städten soll es kleinere Versammlungen geben, darunter in München (18.30 Uhr).

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Brexit: So will die EU das Clearing aus London weglocken

Die EU-Kommission erhöht den Druck auf Finanzfirmen, ihre Clearing-Geschäfte in die EU zu verlagern. Kritikern geht die Reform nicht weit genug.

Im Hauptsitz der EU-Kommission hofft man auf eine Stärkung der Finanzplätze innerhalb der Europäischen Union. Foto: imago images/ZUMA Pressdata-portal-copyright=

Im Hauptsitz der EU-Kommission hofft man auf eine Stärkung der Finanzplätze innerhalb der Europäischen Union. Foto: imago images/ZUMA Pressdata-portal-copyright=© Bereitgestellt von Handelsblatt

Die EU will ihre Abhängigkeit vom Finanzplatz London reduzieren. Deshalb sollen Unternehmen erstmals verpflichtet werden, einen Teil ihrer Derivategeschäfte in Euro bei Clearinghäusern in der EU abzuwickeln. Das geht aus dem Entwurf der überarbeiteten EU-Verordnung zur Marktinfrastruktur (Emir) hervor, der dem Handelsblatt vorliegt.

Die Reform solle die Clearingkapazität in der EU aufbauen und so die Liquidität in europäischen Clearinghäusern erhöhen, heißt es in dem 84-seitigen Dokument. Ziel sei es, „die Risiken für die Finanzstabilität zu reduzieren, die durch die übermäßige Abhängigkeit von Clearingstellen in Drittstaaten entstehen“.

Die Emir-Verordnung war nach der Finanzkrise 2009 beschlossen worden, um die Risiken beim Derivatehandel zu verringern. Seitdem müssen zentrale Clearinghäuser als Mittler zwischen Käufer und Verkäufer jede Transaktion abwickeln. Sie übernehmen dabei das Ausfallrisiko des Geschäfts und erhöhen die Transparenz im Markt.

Mit der Reform reagiert die Kommission auf die veränderte Lage nach dem Brexit. Der Großteil des Euro-Clearings wird weiterhin beim Londoner Marktführer LCH abgewickelt – und damit außerhalb des Brüsseler Einflussbereichs. EU-Finanzkommissarin Mairead McGuinness fürchtet, im Krisenfall keinen Zugriff auf die systemisch wichtigen Institute zu haben.

Dem Entwurf zufolge müssen künftig alle Marktteilnehmer ein aktives Konto für bestimmte systemische Produkte bei einem Clearinghaus in der EU führen. Dazu zählen etwa Zinsderivate in Euro und Zloty sowie Credit Default Swaps (CDS) und Futures in Euro. Bisher haben laut EU-Kommission rund 60 Prozent der europäischen Clearingnutzer ein Konto für Zinsderivate bei einem EU-Clearinghaus. Rund 85 Prozent führen eins für CDS-Geschäfte.

Clearingfirmen sprechen sich für London aus

Details zu den Konten soll die Wertpapieraufsicht Esma erarbeiten. Die Behörde soll auch neue Kompetenzen zur Überwachung der Clearinghäuser bekommen, um die zusätzlichen Risiken zu managen, die durch die Verlagerung der Geschäfte aus London entstehen.

Europäische Banken werden verpflichtet, ihre Kunden darauf hinzuweisen, dass sie bestimmte Verträge auch bei einem EU-Anbieter abwickeln können. Ebenso müssen alle Clearingaktivitäten in Drittstaaten bei der Aufsicht gemeldet werden.

Die Auflagen für Clearinganbieter hingegen sollen gesenkt werden. Die Genehmigungsverfahren für neue Produkte seien „unnötig lang und mühsam“, heißt es in dem Entwurf. Dies erschwere es den Firmen, neues Geschäft aus dem Ausland anzuziehen. Deshalb sollen sie künftig bestimmte Produkte ohne vorherige Autorisierung anbieten dürfen. Durch die Vereinfachung der Prozesse würden die Kosten sinken, steht in dem Entwurf. Insgesamt würde das Clearing „effizienter“.

Das jedoch wird von vielen Firmen bestritten. Sie argumentieren, dass der Standort London die größte Liquidität und damit die geringsten Kosten biete. Eine Fragmentierung des Marktes quer durch Europa hingegen würde die Kosten für alle erhöhen.

Anderen Kritikern geht die Reform nicht weit genug. „Es ist fraglich, ob die neuen Maßnahmen allein ausreichend sind, die Vormachtstellung Londons im Euro-Clearing zu brechen“, sagte der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber. Die Kommission müsse kommende Woche bei der Vorstellung ihres Vorschlags ein „unmissverständliches Signal“ an den Markt aussenden, „dass 2025 definitiv Schluss mit Euro-Clearing in London ist“. Bis dahin gilt noch die Ausnahmeregelung, die es EU-Firmen erlaubt, ihre Geschäfte in London abzuwickeln.

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EU-Kommission rüstet im Brexit-Streit auf

EU-Kommission rüstet im Brexit-Streit auf

EU-Kommission rüstet im Brexit-Streit auf

EU-Kommission rüstet im Brexit-Streit auf© T - Online

Die EU-Kommission kann bei den Brexit-Verhandlungen härter gegen Großbritannien vorgehen. Sie wird dafür mehr Rechte bekommen.

Die Europäische Kommission bekommt mehr Rechte, um im Brexit-Streit Maßnahmen gegen Großbritannien einzuführen. Dies soll dazu beitragen, dass sich London an ausgehandelte Abkommen hält, wie die EU-Staaten gestern Abend mitteilten. Zu möglichen Maßnahmen zählen Einschränkungen für Flüge sowie Handels- und Investitionsbeschränkungen.

Zuvor hatten sich Unterhändler des Europaparlaments und der EU-Länder auf die Ermächtigung geeinigt. Sowohl das Parlament als auch die Mitgliedsstaaten müssen das Verhandlungsergebnis noch formell bestätigen.

Konkret darf die Kommission dann sogenannte Durchführungsrechtsakte erlassen, um Strafen einzuführen. Diese müssten aber stets verhältnismäßig sein und das Vereinigte Königreich wirksam dazu veranlassen, Abkommen einzuhalten, heißt es in der Mitteilung der EU-Staaten.

Austritt hat Auswirkungen auf Produktivität und Preise

Seit dem Austritt Großbritanniens aus der EU liegen Brüssel und London im Clinch. Immer wieder drohte die britische Regierung damit, ausgehandelte Abkommen aufzukündigen. Gleichzeitig spürt London die negativen Auswirkungen des EU-Austritts. Die britische Zentralbank hat zum Beispiel weitreichende Folgen des Brexits für den Arbeitsmarkt und die Inflation im Vereinigten Königreich eingeräumt. Der britische EU-Austritt habe den Handel zwischen Großbritannien und der EU reduziert, was sich wiederum auf Arbeit, Produktivität und Preise ausgewirkt habe, sagte der Chefökonom der Bank of England, Huw Pill, am Mittwoch.

Es sei schwieriger geworden, Waren aus der EU nach Großbritannien zu importieren. Dies habe zu geringerem Wettbewerb und mehr Preissetzungsmacht der Unternehmen geführt. "Das hat sich wahrscheinlich als etwas inflationär erwiesen", sagte Pill bei einer Veranstaltung des Rechnungslegungsverbands ICAEW.

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Inflation in Großbritannien sinkt von ihrem Höchststand stärker als erwartet auf 10,7 Prozent

Die Inflation in Großbritannien ist von ihrem Höchststand im November stärker als erwartet gesunken

Die Inflation in Großbritannien ist von ihrem Höchststand im November stärker als erwartet gesunken© Getty Images
Die Inflation in Großbritannien ist von ihrem Höchststand im November stärker als erwartet gesunken

Die Inflation in Großbritannien hat sich auf sehr hohem Niveau etwas abgeschwächt. Im November legten die Verbraucherpreise im Jahresvergleich um 10,7 Prozent zu, teilte das Statistikamt ONS am Mittwoch mit. Im Oktober hatte die Inflationsrate bei 11,1 Prozent gelegen und damit auf dem höchsten Stand seit Beginn der Zeitreihe Anfang 1997.

Der Rückgang der Inflation war etwas stärker als erwartet. Experten hatten für November mit einem Rückgang auf 10,9 Prozent gerechnet.

Auch im Monatsvergleich schwächte sich der Preisanstieg ab. In dieser Betrachtung meldete das Statistikamt für November einen Zuwachs um 0,4 Prozent, nachdem die Preise im Oktober um 2 Prozent gestiegen waren.

Die geringere Inflationsrate gibt der britischen Notenbank Spielraum für ihre Zinsentscheidung an diesem Donnerstag. Die Bank of England hat ihren Leitzins in mehreren Schritten und zuletzt um 0,75 Prozentpunkte auf drei Prozent erhöht. Für Donnerstag wird an den Märkten mit einer etwas geringeren Erhöhung um 0,5 Prozentpunkte auf 3,5 Prozent gerechnet.

Großbritannien steht bereits am Beginn einer Rezession. Das Land hat zusätzlich zur Ukraine-Krise mit den Folgen des Brexits und den turbulenten Regierungswechseln in diesem Jahr zu kämpfen.

Mit ausschlaggebend für die geringere Inflationsrate war nach Angaben der Behörde ein schwächerer Anstieg der Preise für Kraftstoffe. Diese stiegen im November um 17,2 Prozent im Jahresvergleich. Außerdem schwächte sich der Anstieg der Preise für Gebrauchtwagen ab.

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Großbritannien: Ein Land steht vor dem Kollaps

Großbritannien: Ein Land steht vor dem Kollaps

Großbritanniens Infrastruktur bricht zusammen – Effekte des Brexit, der Pandemie und der Tory-Regierung.

London - Eigentlich wollte Rishi Sunak über die mangelnden Mathematik-Kenntnisse der britischen Jugend reden. Doch für den seit Ende Oktober amtierenden Premierminister geht es zu Jahresbeginn vor allem um die Autorität seiner konservativen Regierung: Die Streikserie im öffentlichen Dienst reißt nicht ab, die Zustände im Gesundheitswesen NHS haben Notstandscharakter, wie fr.de schreibt. Bei einem seiner raren öffentlichen Auftritte gab sich der Regierungschef am Mittwoch hart: Keine Zugeständnisse an die Streikenden.

Der seit Monaten andauernde Ausstand bei der Eisenbahn hat die Rückkehr des Volks an seine Arbeitsplätze nach den Feiertagen stark behindert. Am Dienstag (3. Januar) verkehrten lediglich 20 Prozent der geplanten Züge. Die Vereinigung der privaten Eisenbahn-Betreiber hatte schon vorab dazu aufgefordert, eine Reise gar nicht erst zu versuchen.

Großbritannien: Ein Land steht vor dem Kollaps

Großbritannien: Ein Land steht vor dem Kollaps© Bereitgestellt von Merkur

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Großbritannien: Nun soll hart gespart werden

Die Gewerkschaften RMT für Zugbegleitung und Putzpersonal sowie ASLEF für die Zugführer:innen fordern größere Jobsicherheit sowie zweistellige Lohnzuwächse, um die erhebliche Teuerung auszugleichen. Diese lag der Statistikbehörde ONS zufolge im November bei 10,7 Prozent; Lebensmittelpreise stiegen um 16,6 Prozent. Die Arbeitgeber bieten für die kommenden zwei Jahre je 4,5 Prozent.
RMT-Boss Mick Lynch fordert seit Monaten direkte Verhandlungen mit der Regierung, weil diese der Zugbranche sowie der halbstaatlichen Infrastrukturfirma Network Rail finanziell die Hände gebunden habe. Verkehrsminister Mark Harper bestätigt das indirekt: „Das Geld der Steuerzahler ist nicht unbegrenzt.“ In der Pandemie musste der Staat den privatisierten Unternehmen Milliarden zuschießen, um das System am Laufen zu halten. Weshalb nun hart gespart werden soll. Durch den Disput wandert die Kundschaft in Massen ab: Die Gebrauchtwagenbranche meldet eine massive Nachfrage, mehr als die Hälfte der Leute nennt den „zunehmend unzuverlässigen öffentlichen Personenverkehr“ als Grund.

Für mehr Geld streiken nun auch Briefträger:innen, Uni-Dozent:innen und der Grenzschutz. Besonderes Kopfzerbrechen aber bereitet Sunak der Ausstand im nationalen Gesundheitsdienst NHS. Denn die dort Bediensteten, die erst zur Monatsmitte wieder in den Ausstand gehen wollen, genießen die Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung. Das Boulevardblatt „Mirror“ zeigte am Mittwoch die fünf Tory-Premiers seit 2010 mit der Überschrift: „Sie haben unseren NHS kaputtgemacht.“ Nicht wenige auf der Insel sehen das schon sehr lange so.

Langjähriges Versagen in Großbritannien

Gesundheitsminister Steve Barclay macht unverdrossen Covid dafür verantwortlich, dass es allerorten zu verheerend langen Wartezeiten auf Krankenwagen, aber auch auf Routine-Termine in den Praxen kommt. Die Medizin weist dagegen auf langfristige Entwicklungen hin: zu wenig Vorsorge, nicht genug Krankenhausbetten, zu wenig Plätze in Alten- und Pflegeheime.

Ein Sprecher der Downing Street musste schon vor Sunaks Rede einräumen: Viele Menschen hätten in diesem Winter „große Schwierigkeiten“, behandelt zu werden. Hausarzttermine werden wie Goldstaub gehandelt. Wie schlimm es um die Erstversorgung bestellt ist, verdeutlichte vor Weihnachten beim jüngsten Streik die Warnung einer Leitstelle: „Rufen Sie nur dann die Notfallnummer, wenn Sie glauben, Sie würden sterben.“

Auch an normalen Tagen muss sich im Landesdurchschnitt 60 Minuten lang gedulden, wer einen Herzinfarkt oder Schlaganfall erlitten hat; in ländlichen Regionen kann es anderthalb Stunden dauern, bis die Erstversorgung eintrifft. Außer Schweden hat das Königreich in Europa die niedrigste Anzahl von Krankenhausbetten, mit gut zwei pro 1000 lediglich ein Drittel des Bestands in Deutschland. Zudem sind viele Betten von Älteren belegt, deren Entlassung am Mangel an Heimplätzen scheitert. Adrian Boyle vom notfallmedizinischen Berufsverband schätzt, dass im Jahr bis zu 25 000 Leute sterben, weil ihnen nicht rechtzeitig Hilfe zuteil wird.

Schnelle Besserung ist nicht in Sicht, Hunderttausende Stellen im Gesundheitswesen sind unbesetzt. Weil der Brexit die Anwerbung europäischer Fachkräfte erschwert, laufen jetzt Werbekampagnen beispielsweise in Afrika – wohin die Konservativen Migrant:innen wieder abschieben lassen. (Sebastian Borger/FR)

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Kommt der Exit vom Brexit? Die verheerende Bilanz des EU-Austritts - Kolumne

Die Londoner Regierung will ihr Verhältnis zu Europa entkrampfen. Darin liegt eine Chance, auch für Brüssel.

Kommt der Exit vom Brexit? Die verheerende Bilanz des EU-Austritts - Kolumne

Kommt der Exit vom Brexit? Die verheerende Bilanz des EU-Austritts - Kolumne© Daniel Leal / AFP

Manchmal, so befand einst Margaret Thatcher, »ist der Rückzug eine erforderliche Taktik«. Das, so scheint es, hat nun auch ihr Nachnachfolger Rishi Sunak begriffen. Drei Monate nach seinem Amtsantritt ist der konservative britische Premierminister offenbar gewillt, die unhaltbaren Brexitpositionen seiner Vorgänger zu räumen.

Waren Boris Johnson und Lizz Truss noch eisern der Maxime gefolgt, dass nur ein harter Brexit ein guter Brexit ist, sendet Sunak seit Wochen andere Signale an den Staatenbund. Im jahrelangen Konflikt um die Zollkontrollen in der Irischen See haben seine Unterhändler jüngst einem Kompromiss zum Datenaustausch zugestimmt, der einen der größten Streitpunkte mit Brüssel aus dem Weg räumen könnte. Unter seiner Führung plant die Londoner Regierung, sich wieder an EU-Programmen zum wissenschaftlichen Austausch und zum Ausbau der Windkraft zu beteiligen. Und schon bald will sich der Premier mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron treffen, zum ersten Gipfel der beiden Länder seit fünf Jahren. Bereitet Sunak, so lautet die Frage, den Ausstieg aus dem EU-Ausstieg vor?

Der Brexit – ein Handelskrieg gegen das eigene Land

Fünfeinhalb Jahre nach dem Brexitreferendum können selbst Parteigänger der Konservativen kaum mehr bestreiten, dass sich ihr »Take-back-Control«-Schlachtruf zu einem der größten Wohlstandsvernichtungsprogramme der jüngeren Wirtschaftsgeschichte entwickelt hat. Darauf deuten nicht nur die gelegentlichen Bilder von leeren Supermarktregalen und geschlossenen Tankstellen hin, sondern auch die harten Daten der Statistiker. Kein anderes führendes Industrieland hat bei grenzüberschreitendem Handel und Auslandsinvestitionen in den vergangenen Jahren derart schlecht abgeschnitten wie Großbritannien. Nirgendwo war das Wachstum nach Corona so gering. Mit dem EU-Austritt, urteilt Adam Posen, Chef des renommierten Washingtoner Peterson-Instituts, habe das Vereinigte Königreich »eine Art Handelskrieg gegen sich selbst« geführt.

Seine Analysen zeigen: Vor dem Brexit war das Land eine der offensten Volkswirtschaften der Welt – und eine Art Tor zum europäischen Binnenmarkt für zahlreiche globale Auto-, Pharma- und Finanzkonzerne. Fünf Jahre später ist Großbritannien eine isolierte Handelsfestung am Rande des Kontinents, in der sich das Gerede von »Global-Britain« als »magisches Denken« entpuppt hat, wie der Londoner »Economist« spottet. Den versprochenen Handelsvertrag mit den USA wird es nicht geben, weil die Vereinigten Staaten solchen Deals auf absehbare Zeit abgeschworen haben. Die wenigen Abkommen, die London seither mit entfernten Handelspartnern wie Australien oder Neuseeland abgeschlossen hat, sind überwiegend Kopien der EU-Verträge. Und zugleich viel zu unbedeutend, um die Verluste im Handel mit dem nahe gelegenen Kontinent auszugleichen.

Die Brexiteers hätten es wissen können, wenn sie nicht bei den Nostalgikern des britischen Empires nachgeschlagen hätten, sondern bei Adam Smith, dem Vater der liberalen angelsächsischen Ökonomie. Der Professor hat nicht nur die Lehre von der »unsichtbaren Hand« entwickelt. Sondern auch auf die segensreichen Wirkungen eines großen wettbewerbsstarken Binnenmarktes für Arbeitsteilung, Wohlstand und Wachstum hingewiesen. Eine Erkenntnis, die Länder wie Norwegen oder die Schweiz dazu bewogen hat, sich eng mit dem Europäischen Binnenmarkt und der EU-Zollunion zu verkoppeln, dem Staatenbund selbst aber fernzubleiben.

Der Beschluss von Sunaks Vorgängern dagegen, zu den Brüsseler Institutionen auf größtmöglichen Abstand zu gehen, war die falsche Entscheidung zur denkbar ungünstigsten Zeit. Die Idee der Brexiteers zum Beispiel, Großbritannien in ein ultraliberales »Singapur an der Themse« zu verwandeln, widersprach den Regulierungsnotwendigkeiten nach der Finanzkrise 2008. Und während die Ökonomen feststellten, dass sich das Tempo der Globalisierung zuletzt spürbar verlangsamt hat, träumten die Tories weiter den Traum vom freien Welthandel für ein freies Großbritannien. Dabei zeigten die Studien zugleich: Das neue Zeitalter der Geopolitik ist zugleich ein Zeitalter der regionalen Handelsblöcke.

Brüssel sollte den Kurswechsel begrüßen

Die Erkenntnis hat die politische Stimmung auf der Insel bereits verändert. Eine deutliche Mehrheit der Wählerinnen und Wähler hält den Brexit mittlerweile für einen Fehler, und auch in den Parteien gewinnen jene an Boden, die nicht jedes Abkommen mit der EU für einen Pakt mit dem Teufel halten. Labour-Chef Keir Starmer hat die Annäherung an Brüssel zum Teil seines Programms erklärt. Premier Sunak selbst liebäugele mit dem Schweizer Modell, so hieß es vor einigen Wochen, also einer vertraglichen Kopplung seines Landes an Zollunion und Binnenmarkt. Zwar ließ der Parteichef entsprechende Berichte umgehend dementieren, nachdem die Brexitfanatiker seiner Partei erwartungsgemäß in Schnappatmung verfallen waren. Doch der Ton ist gesetzt. Galt ein sogenannter Soft Brexit noch vor Kurzem als Häresie, geht es vielen Konservativen inzwischen nicht mehr um das Ob, sondern um das Wie einer neuen Entspannungspolitik.

Die europäische Politik sollte den Kurswechsel begrüßen. Nach dem Brexit hatten viele in Brüssel für Härte gegenüber London plädiert, um Nachahmung zu verhindern. Seit unübersehbar ist, dass der Brexit eine Übung in ökonomischer Selbstverstümmelung war, rechnet niemand mehr mit einer Austrittswelle nach britischem Vorbild. Umso mehr sollte sich die EU-Spitze bewusst machen, dass engere Bindungen mit der zweitgrößten Volkswirtschaft Europas auch für den Staatenbund ökonomisch vorteilhaft und politisch denkbar wären: Schließlich hatten die Briten 2016 für den Austritt aus der EU, nicht aber für das Verlassen von Binnenmarkt und Zollunion gestimmt.

»Wenn Großbritannien eine Anbindung an die EU nach Schweizer Vorbild wünscht, würden wir uns dem nicht versperren«, sagt Bernd Lange, Chef des einflussreichen Handelsausschusses im Europaparlament. »Eine Annäherung liegt im Interesse beider Seiten.«

Oder, um es mit den Worten Margaret Thatchers zu sagen: Manchmal bringt ein Rückzug nicht nur taktischen Gewinn. Manchmal bahnt er auch den Weg für eine neue Friedensordnung.