Forum

Forum-Breadcrumbs - Du bist hier:ForumPolitik: EU - newsAsyl

Asyl

Zitat

Analyse von Ulrich Reitz - Ende der unkontrollierten Zuwanderung? Diesen Asyl-Vorschlag sollten Sie kennen

Flüchtende an einem Grenzübergang in Afghanistan. IMAGO/Xinhua

Flüchtende an einem Grenzübergang in Afghanistan. IMAGO/Xinhua© IMAGO/Xinhua

Die Union schlägt die Abschaffung des individuellen Asylrechts vor. Angesichts der chaotischen Migrationsverhältnisse in Europa ist das nur konsequent. Aber ist die CDU auch bereit für den Abschied von der Ära Merkel?

Das europäische Asylrecht und die deutsche Asylpraxis gründen auf einer „Lüge“. Und die „Heuchelei“ Europas inklusive Deutschlands besteht darin, dass wir ein nahezu unbegrenztes Asylversprechen abgegeben haben, das wir jedoch niemals einlösen würden. Oder wollen wir etwa jene 35 Millionen Afghanen als Flüchtlinge aufnehmen, die aufzunehmen wir verpflichtet wären, machten sie sich auf den Weg nach Europa und nach Deutschland?

„Niemand denkt auch nur im Traum daran, das zu tun“, sagt Thorsten Frei, der engste Vertraute von Friedrich Merz in der Unionsfraktion.

Frei ist nicht irgendwer – er ist in der Hierarchie der Union die Nummer drei – nach Fraktionschef Friedrich Merz und dem CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt. Frei ist Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der Union – also der, der den Laden zusammenhält und seinem Fraktionschef innerhalb der Fraktion die Mehrheitsfähigkeit sichert.

Deutschlands Flüchtlingspolitik wird seit mehr als zehn Jahren nicht mehr in Berlin bestimmt

Wenn Frei sich programmatisch äußert, dann für die Gesamtfraktion. Das muss man wissen, um diesen Vorgang zu verstehen: Frei verlangt die Abschaffung des individuellen Asylrechts, das er durch eine „Institutsgarantie“ ersetzen will. Und das Ganze soll auf europäischer Ebene erreicht werden, was nur ehrlich ist, denn:

Beim Asylrecht hat Deutschland schon lange nichts mehr zu sagen. Deutschlands Flüchtlingspolitik wird seit mehr als zehn Jahren nicht mehr in Berlin, sondern in Brüssel gemacht. So ist es im „Lissabon“-Vertrag geregelt, der seit 2009 in Kraft ist und deutsches Asylrecht ersetzt. In Kombination mit „liberaler“ europäischer und deutscher Rechtsprechung durch das Bundesverfassungsgericht ist ein Asylrecht entstanden, das zu den Zuständen führt, die quer durch Europa inzwischen beklagt werden.

Frei hat für die Veröffentlichung seiner Ansichten über dieses Zentralthema der deutschen Innenpolitik die Form eines Namensartikels gewählt, und zwar in der „FAZ“. Namensartikel in der „FAZ“ haben für die Union einen Signalcharakter, seitdem Angela Merkel auf diesem Weg den in der Spendenaffäre schwer belasteten CDU-Parteichef Helmut Kohl aufs Altenteil schickte.

Die Union schickt Angela Merkels „Wir-schaffen-das“-Politik aufs Altenteil

Und nun, so lässt sich lesen, was Frei veröffentlicht, schickt die Union Angela Merkels „Wir-schaffen-das“-Politik aufs Altenteil. So schonungslos wie realistisch geht Frei mit der Asylrechtspraxis in Deutschland und Europa um:

 „Dementsprechend tut Europa alles dafür, dass möglichst wenige dieses Recht in Anspruch nehmen: Wir machen uns mit Autokraten gemein, damit sie Menschen von unseren Grenzen fernhalten, und sehen weg, wenn Staaten zu illegalen Zurückweisungen an den EU-Außengrenzen schreiten. Damit möglichst wenig Menschen ihr Recht in Anspruch nehmen, knüpfen wir es an die Voraussetzung eines Antrages auf europäischem Boden und initiieren damit einen viel zu oft tödlich verlaufenden Wettlauf, in dessen Rahmen nur eines gilt: das Recht des Stärkeren.“ 

Das Ergebnis ist die alte, globale Ungerechtigkeit – eine inhumane Auswahl: Der Stärkste überlebt, die Schwächste hat keine Chance auf Asyl. Frauen und Kinder sind in der Regel chancenlos, und die Scharen junger Männer aus arabischen oder afrikanischen Ländern, meistens Muslime, gelten inzwischen auch in den sie aufnehmenden Staaten als „hochproblematisch“. Europa gelingt es nicht mehr, zwischen Schutzbedürftigen und Wirtschaftsmigranten zu unterscheiden.

Reform geht nicht mehr, eine Revolution muss her.

Gibt es überhaupt eine Alternative? Im bestehenden Asylsystem sicher nicht, sagt Frei. Der damit mehr als skeptisch schaut auf die gegenwärtig laufenden europäischen Verhandlungen. Eine grundlegende Verbesserung der Situation ist laut dem CDU-Politiker nicht zu erwarten – Frei ist der erste Spitzenpolitiker, der das offen ausspricht. Selbst die wenigen „Verschärfungen“ hatten in der Ampelkoalition für erhebliche Turbulenzen gesorgt. Die Grünen mussten einen Sonderkonvent abhalten, um ihren gesinnungsethischen Flügel bei der Stange zu halten.

Ergo: Reform geht nicht mehr, eine Revolution muss her. Thorsten Frei: „Europa kann diesen Teufelskreis nur beenden, wenn es sein Asylrecht neu gründet: Aus dem Individualrecht auf Asyl muss eine Institutsgarantie werden.“

Die Folgen wären einschneidend: Eine Antragstellung auf europäischem Boden wäre nicht länger möglich, der Bezug von Sozialleistungen und Arbeitsmöglichkeiten „umfassend ausgeschlossen“. Würde damit Europa seine Grenzen für Flüchtlinge dicht machen?

300.000 bis 400.000 Menschen über Kontingente sicher nach Europa bringen

Nein, sagt der Christdemokrat. Europa könnte ein Kontingent von Schutzbedürftigen direkt aus dem Ausland aufnehmen. Frei nennt auch Zahlen dafür: 300.000 bis 400.000 Menschen. Europa könnte dann den Schwächsten helfen – und gleichzeitig seine „Sicherheitsrisiken“ minimieren. Darüber, über die mit den Flüchtlingen eingewanderte Kriminalität, durfte in der Union faktisch nicht geredet werden, solange Angela Merkel Bundeskanzlerin war.

Es ist ein Vorschlag, der sich an den inzwischen in vielen Staaten für untragbar gehaltenen Verhältnissen ausrichtet. Er ist konsequent – und doch ist er unrealistisch. Vorerst jedenfalls. Und völlig chancenlos ist er bei der Ampelregierung. Sie macht eine Migrationspolitik, die nicht auf Begrenzung ausgerichtet ist, sondern eine, die aus geduldeten Flüchtlingen anerkannte Asylbewerber macht. Und ihnen dann einen Einbürgerungsanspruch zuspricht.

Es gibt also jetzt eine klare, demokratische Alternative. Spannend wird sein, ob die CDU da mitgeht. Sie koaliert in großen Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Hessen mit den Grünen. Und für die Grünen ist die Abschaffung des individuellen Asylgrundrechts eine einzige No-Go-Area.

Zitat

Landkreise wollen Arbeitspflicht für Flüchtlinge

Joachim Walter (CDU), Präsident des Landkreistags von Baden-Württemberg.

Joachim Walter (CDU), Präsident des Landkreistags von Baden-Württemberg.© Christian Johner/dpa/Archivbild

Mithelfen in der Altenpflege oder auf dem Bauhof: Die Landkreise in Baden-Württemberg fordern für Flüchtlinge eine Pflicht zu arbeiten - im Zweifel auch gemeinnützig. «Es wäre uns Landkreisen - auch mit Blick auf die dringend benötigte gesellschaftliche Akzeptanz - wichtig, dass Geflüchtete rasch in Arbeit kommen, hilfsweise auch in gemeinnützige», sagte der Präsident des Landkreistags Joachim Walter (CDU) einer Mitteilung zufolge. Es müsse «ohne ideologische Scheuklappen hinterfragt werden, ob das deutsche Sozialrecht bei den Geflüchteten immer die richtigen Anreize setzt».

In einer einstimmig verabschiedeten Resolution sprechen sich die Landrätinnen und Landräte dafür aus, dass «eine über die bisherigen Regelungen und Umsetzungsformate hinausgehende Verpflichtung Schutzsuchender zur Annahme von auch gemeinnütziger Arbeit etabliert und organisiert wird». Sinnvoll seien dabei auch Angebote zum weiteren Spracherwerb. Es brauche «praktikable, bürokratiearme Umsetzungsformate», sagte Walter, der auch Landrat im Kreis Tübingen ist.

Zustimmung für die Forderung der Landräte kommt von den Gemeinden in Baden-Württemberg. «Unser Sozialstaat hilft denen, die Hilfe brauchen. Der Staat muss jedoch erwarten dürfen, dass jeder Einzelne dann auch im Rahmen seiner Möglichkeiten zum Gelingen der Gesellschaft beiträgt – beispielsweise auch über eine gemeinnützige Arbeit», sagte Steffen Jäger, Präsident des Gemeindetags. Unterstützung werde etwa in Bereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge benötigt, etwa auf Bauhöfen - sowie im Alten- und Pflegebereich sowie generell in Mangelberufen.

Zudem fordern die Landrätinnen und Landräte erneut eine Absenkung der Standards bei der Aufnahme, Unterbringung und Betreuung von Flüchtlingen - auch bei älteren unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen. Außerdem müssten die deutschen Sozialleistungen für Schutzsuchende europaweit harmonisiert werden. Dazu gehöre, neu nach Deutschland kommenden Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz statt des Bürgergelds zu zahlen.

«Auch wenn wir Landkreise zu unserer humanitären Verantwortung stehen und dies tagtäglich unter Beweis stellen, ist es doch so, dass wir immer häufiger an unsere Leistungsgrenzen stoßen», sagte Walter weiter. Weil der Aufwand für Unterbringung und Versorgung so groß sei, leide auch die Integration der Menschen. «Ich fürchte ernsthaft, dass uns dies am langen Ende gesamtgesellschaftlich auf die Füße fallen wird. Integration ist bekanntlich ein Langstreckenlauf, und wir stolpern auf den ersten Metern», sagte Walter.

Die Kommunen im Südwesten forderten außerdem erneut mehr Geld vom Bund. Dabei gehe es neben den Kosten für Unterbringung und Lebensunterhalt auch um die Kosten für Kita, Schule und Integrations- und Sprachkosten, die oft von den Kreisen bezuschusst würden. Wer wie der Bund die Rahmenbedingungen für den Zuzug von Geflüchteten setze, müsse auch für die kommunalen Folgekosten einstehen, sagte Walter. Hier gelte das Verursacherprinzip. «Genauso klar ist aber auch, dass wir die Erstattung unserer Geflüchtetenkosten vom Land einfordern werden, wenn der Bund säumig bleibt.»

Zitat

Lage „hochdramatisch“ - Zahl der Asyl-Erstanträge in Deutschland wächst 2023 stark an

Asylsuchende in einer Erstaufnahmestelle dpa

Asylsuchende in einer Erstaufnahmestelle dpa© dpa

Die Zahl der Asylanträge in Deutschland steigt laut einem neuen Bericht des Bundesamts für Migration 2023 stark an. Im Vergleich zum ersten Halbjahr 2022 wurden 77,5 Prozent mehr Erstanträge gestellt. Die Kommunen ächzen unter den daraus folgenden Herausforderungen.

Der Halbjahres-Bericht des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) zeigt laut „Bild“-Zeitung: Die Zahl der Asylanträge in Deutschland ist im ersten Halbjahr 2023 im Vergleich zum Vorjahr stark gestiegen. Von Januar bis Juni wurden 162.271 Anträge gestellt. Davon sind 150.166 Erstanträge. Im ersten Halbjahr 2022 waren das noch 84.583 - eine Steigerung um 77,5 Prozent.

  • Zahl der Erstanträge Januar bis Juni 2023: 162.271
  • Zahl der Erstanträge Januar bis Juni 2022: 84.583

Zahl der Asylsuchenden aus der Türkei steigt besonders stark an

Aus welchen Ländern kommen besonders viele Geflüchtete, die Erstanträge stellen:

  • Afghanistan: 27.310 (+80 Prozent)
  • Syrien: 24.492 (+77 Prozent)
  • Türkei: 19.208 (+209 Prozent)

Im Jahr 2022 gab es insgesamt 217.774 Asylanträge in Deutschland - ein neuer Höchststand in den Jahren nach der Flüchtlingskrise 2015 (knapp 500.000) und 2016. Nun könnte es noch einmal deutlich mehr geben. Wie die „Bild“-Zeitung weiter schreibt, waren mehr als zwei Drittel der Erstantragsteller unter 30 Jahre alt. 71,6 Prozent der Asylsuchenden waren Männer.

Polizeigewerkschafts-Boss sieht „hochdramatische“ Lage

Die Kommunen ächzen schon lange unter dem stärker werdenden Zustrom - auch unter dem Einfluss der vielen Ukrainer, die in Folge des Krieges nach Deutschland gekommen sind. Die „Bild“-Zeitung zitiert den Chef der Deutschen Bundespolizeigewerkschaft, Heiko Teggatz: „Es ist zweifelsfrei belegt, dass die auf den Flüchtlingsgipfeln vereinbarten Maßnahmen kläglich gescheitert sind.“ Die Entwicklung sei “hochdramatisch" und Länder und Kommunen könnten bald „keine Menschen mehr anständig unterbringen“.

Auch der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer warnte jüngst in einem Beitrag für die Tageszeitung „Welt“: „Wenn wieder Wohnraum für Geflüchtete geschaffen und umgewidmet wird, protestieren immer mehr Menschen und fragen, wo sie selbst wohnen sollen.“

Zitat

„Das löst eine abschreckende Kettenreaktion aus, und das soll es auch“

Die starke illegale Migration über Osteuropa alarmiert die Polizeigewerkschaften. Sie warnen vor einer noch stärkeren Migrationsbewegung im Herbst. Auch an den Grenzübergängen zu Polen und Tschechien müsse es etwa die Möglichkeit zu Zurückweisungen geben. Der Hebel liegt bei der Innenministerin.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) Revierfoto/dpa/picture alliance; Geisler-Fotopress/picture alliance; Montage: Infografik WELT

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) Revierfoto/dpa/picture alliance; Geisler-Fotopress/picture alliance; Montage: Infografik WELT© Bereitgestellt von WELT

Die illegale Migration nimmt weiter drastisch zu. Bis Ende Juni registrierte die Bundespolizei mehr als 45.300 unerlaubt nach Deutschland eingereiste Personen, 50 Prozent mehr als im entsprechenden Vorjahreszeitraum. Zudem liegen die Zuwanderungszahlen erfahrungsgemäß in der zweiten Jahreshälfte stets deutlich über denen aus dem ersten Halbjahr. Sachsens Innenminister Armin Schuster (CDU) und die Gewerkschaft der Polizei (GdP) warnen daher vor einer noch stärkeren Migrationsbewegung im Herbst und sorgen sich vor allem um die bisher schlechter gesicherten Grenzen Richtung Osteuropa.

Tatsächlich wurden im Juli laut Bundespolizei binnen einer einzigen Woche bereits 2233 illegal Einreisende aufgegriffen, knapp die Hälfte davon an der polnischen und tschechischen Grenze. Früher kamen die meisten Personen ohne Visum, Aufenthaltstitel oder Ausweispapiere über Süd-Routen ins Land, also über die Schweiz und vor allem aus Österreich. Das hat sich zuletzt deutlich geändert. Unter anderem würden Migranten etwa aus Syrien, Afghanistan oder Ägypten zunehmend über Belarus in die Europäische Union geschleust, um diese zu destabilisieren, so der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, Alexander Throm (CDU). Im ersten Halbjahr lag die Zahl der unerlaubten Übertritte aus dem Osten in manchen Monaten bereits über jener aus Österreich, wo seit 2016 stationäre Grenzkontrollen bestehen.

„Es ist dringend notwendig, endlich den rechtlichen Status der Bundespolizei an den Grenzen zu Polen und Tschechien zu ändern“, sagt der GdP-Vorsitzende für die Bundespolizei, Andreas Roßkopf, WELT. Noch weigere sich Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) aber, die notwendigen Schritte in Brüssel zu unternehmen. „Daher dürfen die Bundespolizisten bei illegalen Übertritten im Osten niemand zurückweisen, anders als in Bayern.“ Bei einem Treffen mit Faeser Mitte August wolle die Gewerkschaft sämtliche Argumente erneut vorbringen, so Roßkopf. Auch der GdP-Bundesvorsitzende Jochen Kopelke und der Chef der Bundespolizei in der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), Heiko Teggatz, fordern die Bundesregierung dringlich zum Handeln auf.

Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) hatte kürzlich bei einem Treffen mit ihrem tschechischen Amtskollegen Jan Lipavsky erneut betont, dass die Bundesregierung keine stationären Kontrollen wolle. Täglich pendelten über die deutsch-tschechische Grenze 70.000 Menschen, für die Arbeit, Besuche oder zum Einkauf – das seien der „Pulsschlag der Regionen und der Pulsschlag Europas“, so Baerbock. Gerade die Corona-Pandemie habe gezeigt, wie sehr geschlossene Grenzen schaden könnten. Faeser argumentiert ähnlich.

Wie die Polizeigewerkschaften verlangt auch die Opposition im Bundestag, die irreguläre Migration an der Grenze zu Polen und Tschechien nicht weiter aus dem Ruder laufen zu lassen. Faeser dürfe „nicht länger wegschauen“, mahnt die Vize-Fraktionschefin der Union, Andrea Lindholz (CSU). Die AfD-Bundesvorsitzende Alice Weidel ist allerdings überzeugt, dass die Forderung der Polizeigewerkschaften ungehört bleibe: „Die Ampel-Regierung hat wiederholt gezeigt, dass sie gar nicht gewillt ist, die massenhafte Einwanderung in die deutschen Sozialsysteme auch nur zu begrenzen.“

Frankreich als Vorbild?

Die Krux liegt in der sogenannten Notifizierung, die laut Gewerkschaften dringend angegangen werden müsste. Dafür müsste die Bundesinnenministerin von der EU grünes Licht erbitten, wenn sie eine Grenze stärker kontrollieren lassen will. GdP-Bundeschef Kopelke schlug daher gerade vor, die gesamte Grenze in Ostdeutschland notifizieren zu lassen, um dort „ein System der flexiblen Kontrollen an wechselnden Schwerpunkten wie in Frankreich zu ermöglichen“.

Einwänden, diese Notifizierung führe automatisch zur Einrichtung stationärer Grenzkontrollen, die Faeser nicht will und nur als „Ultima Ratio“ akzeptiert, weist Gewerkschafter Roßkopf zurück. Zwar müssten in der Tat in Brüssel sämtliche Grenzübertretungsstellen konkret beantragt werden. Zwischen Bayern und Österreich sind das lediglich fünf Orte, wo auch tatsächlich stationäre Kontrollpunkte eingerichtet wurden. Die Genehmigung ist temporär, im Juni hat Faeser sie erneut um ein halbes Jahr verlängert.

„Das Beispiel Frankreich zeigt aber, dass ein Land auch einfach sämtliche Grenzübergänge auflisten und notifizieren kann“, so Roßkopf. Anfang Mai hatte Frankreich, befristet zunächst auf ein halbes Jahr, für seine Grenzen und auch den Luftraum die Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen in Brüssel beantragt.

„Nach erfolgter Notifizierung kann flexibel und je nach Lage entschieden werden, ob auf feste Kontrollposten oder Schleierfahnder gesetzt wird“, erläutert Roßkopf. Auch letztere hätten dann aber die rechtliche Befugnis zur Zurückweisung, was derzeit in Richtung osteuropäischer Nachbarländer noch nicht der Fall sei.

Der Bayern-Chef der Polizeigewerkschaft DPolG, Jürgen Köhnlein, betont, wie erfolgreich variable Grenzkontrollen seien. „Standkontrollen, wie sie an der deutsch-österreichischen Grenze ja schon praktiziert wurden, sprechen sich herum, dann werden Ausweichrouten gewählt. Deshalb sind wir hier für eine Stärkung der Schleierfahndung.“ Zugleich müsse es aber die Möglichkeit geben, Kontrollen direkt an der Grenze durchzuführen – und das gehe eben nur durch eine Notifizierung. „Deshalb sind die Voraussetzungen zu schaffen. Wie dann die Kontrollen durchgeführt werden, muss eng mit der Bundespolizei abgestimmt werden.“

Allerdings warnt Roßkopf vor übersteigerten Erwartungen. Die Notifizierung sei eine Erweiterung der Möglichkeiten, löse aber das Problem der illegalen Übertritte nicht. „Zurückgewiesen werden darf nur, wer bereits Asyl in einem anderen EU-Land beantragt hat oder für den eine Wiedereinreisesperre besteht.“ Immerhin sei das aber an der bayerisch-österreichischen Grenze im vergangenen Jahr in 15.000 Fällen gelungen, betont Heiko Teggatz von der DPolG. „Das ist durchaus eine spürbare Entlastung.“

Außerdem hoffe er: „Das löst eine abschreckende Kettenreaktion aus, und das soll es auch. Dadurch würde nämlich beispielsweise Tschechien signalisiert, ihre Grenzen Richtung Ungarn und Slowakei besser zu schützen. Denn wer an der deutsch-tschechischen Grenze ankommt, hat womöglich schon vier EU-Staaten durchreist, ohne Asyl zu beantragen. Das heißt für mich als Praktiker: Irgendwas funktioniert hier in Schengen nicht richtig.“

Um für die Monate mit stark steigender illegaler Migration im Herbst ausreichend vorbereitet zu sein, müsse die Option für Grenzkontrollen baldmöglichst geschaffen werden, mahnt Sachsens Innenminister Schuster. Das sei auch mit Blick auf zunehmende Aggressivität der Schleuser wichtig. Diese pferchten immer mehr Menschen in ihre Autos und seien teils höchst riskant unterwegs; bei der Flucht eines überfüllten Kleintransporters sei im Juli eine Frau gestorben.

Die Notifizierung in Brüssel und die Abstimmung mit den Nachbarstaaten dauerten rund einen Monat. „Wann die Grenzkontrollen dann tatsächlich eingeführt würden, wäre damit noch nicht beschlossen. Aber wir sind ab September handlungsfähig und könnten sie einführen, wenn es notwendig wird.“

Zitat

436 Millionen Euro im Monat - Staat zahlt Hunderttausenden arbeitsfähigen Flüchtlingen Bürgergeld

Über Polen eingereiste Migranten in der Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber in Eisenhüttenstadt. dpa

Über Polen eingereiste Migranten in der Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber in Eisenhüttenstadt. dpa© dpa

In Deutschland fehlen viele Arbeitskräfte, andererseits beziehen 587.000 erwerbsfähige Zuwanderer etwa aus Syrien, Afghanistan und Irak Bürgergeld. Gesamtkosten pro Monat: rund 436 Millionen Euro. Die CDU fordert nun eine Arbeitspflicht für diese Menschen.

Wer sich die Mühe macht, die zahlreichen Tabellen im jüngst erschienenen „Migrationsmonitor“ der Bundesagentur für Arbeit (BA) zu durchforsten, stößt auf interessante Fakten.

Etwa auf die Zahl der erwerbsfähigen Menschen aus „Asylherkunftsländern“ wie Syrien und Afghanistan, die Bürgergeld beziehen (Regelsatz 502 Euro), früher Hartz IV genannt.

Im März 2023 waren das exakt 587.006 Männer und Frauen.

Sie erhielten in dem Monat insgesamt 436 Millionen Euro Bürgergeld, durchschnittlich also 743 Euro. Darin enthalten sind Barauszahlungen bzw. Überweisungen sowie die Kosten der Unterkunft, wie die BA auf Anfrage von FOCUS online bestätigte.

Bürgergeld für anerkannte, arbeitsfähige Asylbewerber

Der Großteil dieser Bürgergeld-Empfänger ist in den vergangenen Jahren nach Deutschland geflüchtet und hat Asyl erhalten, einige sind hier geboren. Alle haben ein Aufenthaltsrecht und erfüllen die gesetzlichen Voraussetzungen, um Bürgergeld zu erhalten.

Die Hauptherkunftsländer sind Syrien (321.000), Afghanistan (112.000), Irak (77.500) und Iran (25.900). Weitere Länder, die in dieser Statistik erfasst werden: Eritrea, Nigeria, Pakistan und Somalia.

Zum Verständnis: Die 587.006 betroffenen Bürgergeld-Empfänger gelten als „erwerbsfähig“, könnten also grundsätzlich mindestens drei Stunden am Tag arbeiten. Für manche von ihnen scheidet das objektiv aus, etwa weil sie gerade einen Integrationskurs belegen oder ihre Kinder betreuen müssen.

Der überwiegende Teil der Gruppe – insgesamt 467.074 anerkannte Asylbewerber – wird in der Statistik jedoch als arbeitslos geführt. Diese Menschen könnten also „sofort eine Beschäftigung aufnehmen“, so Christian Ludwig, Sprecher der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg, gegenüber FOCUS online.

87 Prozent der Arbeitslosen haben keinen Berufsabschluss

Dass dies nicht geschieht, hat verschiedene Gründe. So dürfte eine Rolle spielen, dass viele anerkannte Flüchtlinge kein oder nur wenig deutsch sprechen. Manche dürften auch an behördlichen Auflagen oder bürokratischen Hürden scheitern. Nicht wenige sind schlichtweg noch zu unqualifiziert, um bestimmte Jobs zu machen.

Laut dem „Migrationsmonitor“ der BA haben 87 Prozent der arbeitslosen Menschen aus den Asylherkunftsländern keinen Berufsabschluss. Gerade mal 4,3 Prozent absolvierten eine schulische oder betriebliche Ausbildung. Und lediglich 7,3 Prozent verfügen über einen akademischen Abschluss.

Dass Hunderttausende erwerbsfähige Zuwanderer Bürgergeld erhalten, ohne vom Staat in die Pflicht genommen zu werden, halten führende Politiker der CDU für nicht länger hinnehmbar. Sie fordern eine Arbeitspflicht für anerkannte Flüchtlinge.

CDU-Experte Throm: „Arbeit ist Schlüssel zur Integration“

Alexander Throm, Innenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, sagte zu FOCUS online: „Deutschland hat mehr als eine Million Asylmigranten aufgenommen und geschützt, auf diese Leistung können wir stolz sein.“

Allerdings dürfe es nicht sein, dass trotz des enormen Bedarfs an Arbeitskräften „nach wie vor fast jeder zweite Zuwanderer aus den Asylherkunftsländern Sozialhilfe bezieht“. Throm: „Diese Menschen müssen wir schnell in den Arbeitsmarkt bringen. Arbeit ist der Schlüssel zur Integration.“

Der Innenexperte schlägt deshalb vor: „Anerkannte Asylbewerber sollten verpflichtend bei gemeinnützigen Tätigkeiten eingebunden werden, solange sie noch keinen Arbeitsplatz haben.“ Als Beispiele nennt der Christdemokrat „Pflege- und Gartenarbeiten in öffentlichen Grünanlagen, Reinigungs- und Instandhaltungsarbeiten in Gemeinden oder Aufgaben in der Jugend-, Kranken-, und Altenhilfe“.

Mit seinem Vorstoß für verpflichtende Integrationsdienste mit gemeinnützigen Tätigkeiten steht Throm nicht allein da.

Der Staat darf nicht nur fördern, er muss auch fordern

Erst kürzlich verabschiedeten Landrätinnen und Landräte aus Baden-Württemberg eine Resolution mit gleicher Stoßrichtung. Sie sieht vor, Schutzsuchende dazu zu verpflichten, Arbeit anzunehmen, gegebenenfalls auch in gemeinnützigen Bereichen.

„Es wäre uns Landkreisen – auch mit Blick auf die dringend benötigte gesellschaftliche Akzeptanz – wichtig, dass Geflüchtete rasch in Arbeit kommen, hilfsweise auch in gemeinnützige“, so der Präsident des Landkreistags Joachim Walter (CDU). Es müsse „ohne ideologische Scheuklappen hinterfragt werden, ob das deutsche Sozialrecht bei den Geflüchteten immer die richtigen Anreize setzt“.

Ähnlich sehen das viele Gemeinden in Baden-Württemberg. „Unser Sozialstaat hilft denen, die Hilfe brauchen. Der Staat muss jedoch erwarten dürfen, dass jeder Einzelne dann auch im Rahmen seiner Möglichkeiten zum Gelingen der Gesellschaft beiträgt – beispielsweise auch über eine gemeinnützige Arbeit“, erklärte Steffen Jäger, Präsident des Gemeindetags.

CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt forderte unterdessen „ein neues Leistungssystem für Flüchtlinge, das unterhalb des Bürgergeldes anzusiedeln ist“. Dobrindt sprach sich für „eine stärkere Mitwirkungspflicht der Asylbewerber“ aus. Für sie müsse es ein Arbeitsangebot geben, das „Teil einer Integrationsleistung ist“. Wer die Arbeit verweigere, müsse mit Leistungskürzungen rechnen, so Dobrindt.

Kritik an Rufen nach Arbeitspflicht für Flüchtlinge

Kritik an den Rufen nach einer Arbeitspflicht kommt unter anderem vom Flüchtlingsrat Baden-Württemberg. Die Forderung verkenne die rechtliche und tatsächliche Situation vieler Betroffener und erwecke fälschlicherweise den Eindruck, geflüchtete Menschen wollten nicht arbeiten. Einschränkungen durch Wohnsitzauflagen machten eine Arbeitsaufnahme oft unmöglich. Ausländische Bildungsabschlüsse würden zu wenig anerkannt. Ausreichende Deutschkenntnisse fehlten oft.

Die Landtags-SPD in Baden-Württemberg meinte, dass der Vorschlag der Kreise angesichts des „behördlichen Schwergangs“ kaum umzusetzen sei. „Menschen wollen arbeiten, aber sie müssen lange auf die Erlaubnis warten“, so Innenexperte Sascha Binder.

Die Behörden schafften es bereits jetzt kaum, Verfahren in angemessener Zeit abzuarbeiten. „Wer jetzt fordert, sie sollten eine allgemeine Arbeitspflicht überwachen und umsetzen, darf gerne erklären, woher die Kapazitäten kommen sollen.“

Throm kontert die Kritik: „Die Argumente von Flüchtlingsrat und dem SPD-Abgeordneten Binder gehen schlicht an der Rechtslage und der Realität vorbei. Alle anerkannten Flüchtlinge dürfen arbeiten, alle anderen grundsätzlich nach drei Monaten. Tatsächlich sind aber eine Vielzahl der anerkannten Flüchtlinge auch noch nach Jahren Bürgergeldbezieher ohne Arbeit. Dies gilt es zukünftig zu verhindern.“

Zitat

Migrationskrise in Deutschland - Asyl-Anträge von Türken steigen um 203 Prozent

Die Anzahl der Asylbewerber in Deutschland hat in den ersten sieben Monaten dieses Jahres im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 78 Prozent zugenommen. Julian Stratenschulte/dpa

Die Anzahl der Asylbewerber in Deutschland hat in den ersten sieben Monaten dieses Jahres im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 78 Prozent zugenommen. Julian Stratenschulte/dpa© Julian Stratenschulte/dpa

Die Asylbewerberzahlen in Deutschland steigen drastisch an. Der Vergleich zum Vorjahr zeigt die wachsende Migrationskrise.

Die Anzahl der Asylbewerber in Deutschland hat in den ersten sieben Monaten dieses Jahres im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 78 Prozent zugenommen. Laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) wurden allein im Juli 23.674 Asyl-Erstanträge gestellt, was einem Anstieg von 79 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat entspricht.

Insgesamt erreichten das BAMF bis Ende Juli diesen Jahres 175.272 Asylerstanträge. Mit den Folgeanträgen beläuft sich die Gesamtzahl auf 188.967 Anträge. Das berichtet die „Welt“.

Historisch gesehen gab es demnach nur in vier anderen Jahren eine stärkere Asylzuwanderung als 2023. Die Hauptnationalitäten der Antragsteller in diesem Jahr sind Syrer, Afghanen und Türken. Besonders bemerkenswert ist der Anstieg der Anträge von Türken um 203 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum.

Trotz Ablehnungen gelingen nur wenige Abschiebungen

Das BAMF hat in diesem Jahr mehr Anerkennungen erteilt als in den meisten vorherigen Jahren. Von allen 153.912 Entscheidungen bis Ende Juli wurden 52 Prozent mit einem Schutztitel versehen. Dies ist vor allem auf die hohe Anzahl von Syrern und Afghanen zurückzuführen, die fast immer einen Schutztitel erhalten. Bei den Türken lag die Anerkennungsquote bei 15 Prozent.

Trotz der Ablehnung bleiben viele Asylbewerber in Deutschland, da Abschiebungen nur etwa 1.000 Mal pro Monat gelingen, wie die „Welt“ weiter berichtet. Anerkannte Asylbewerber erhalten in der Regel bald nach ihrer Ankunft ein Daueraufenthaltsrecht.

Es gibt auch Diskussionen über mögliche Verschärfungen der Einwanderungspolitik. So legte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) unlängst Vorschläge für strengere Abschiebungsregeln vor. Kritik aus der Opposition folgte prompt. Alexander Throm, innenpolitischer Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, bezeichnete die neuen BAMF-Zahlen laut „Welt“ als „dramatisch“ und kritisierte Faeser erneut in diesem Zusammenhang.

Zitat

Die folgenschwere Rücksicht auf grüne Befindlichkeiten

Der Migrantenzuzug könnte vermindert werden, ohne unsere Werte aufzugeben. Doch die Ampel-Regierung lässt einen entsprechenden Vorschlag auf EU-Ebene scheitern – aus Rücksicht auf den grünen Koalitionspartner. Der tönt indes alles nieder, was nicht ins eigene moralisch saubere Weltbild passt.

Ende der 80er-Jahre verfasste der Philosoph Hermann Lübbe einen Essay, der die Überschrift „Politischer Moralismus: Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft“ trug. Der Titel sagt bereits alles – und lässt sich in der herrschenden Stimmung als Sinnspruch des Tages jeden Morgen wiederholen. „Das Gewissen als scharfrichterliche Instanz“ fällt mittlerweile täglich sein Urteil.

Der CDU-Politiker Jens Spahn muss es derzeit erleben. Er hatte am Sonntag vorgeschlagen, die EU-Außengrenzen für Migranten zu schließen. Man kann diesen Vorschlag für hilfreich oder abwegig halten. Man kann verärgert darauf hinweisen, dass Jens Spahn eine solche Idee in die Debatte hätte werfen können, als er noch im Kabinett der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) saß und über politischen Einfluss verfügte; kurzum, man kann ihm vorwerfen, dass sein Vorstoß heute wohlfeil ist.

Das Tremolo der Empörung besonders aufseiten der Grünen aber ist nichts weiter als der Versuch, mit der Moraltrompete niederzutönen, was nicht ins Weltbild passt.

Ampel verhindert wirkungsvolles Vorgehen

Erregen darf man sich trotzdem, aber nicht über Spahn, sondern über die aktuelle Bundesregierung. Zwar verweisen Bundesinnenministerin Nancy Faeser und Bundeskanzler Olaf Scholz (beide SPD) seit Wochen darauf, dass sich die Europäische Union endlich auf eine härtere Gangart in der Zurückweisung nicht anerkannter Asylbewerber geeinigt habe.

Doch verschweigen sie, dass die Europäer eine viel wirksamere Abwehr geplant hatten: Auf dem Gipfel im Juni hatten sie durchsetzen wollen, dass Migranten künftig auch in Transitstaaten zurückgeführt werden können; also in Staaten, aus denen sie zwar nicht kommen, aber durch die sie gezogen waren, oder auch in Staaten, die zur Aufnahme von Migranten für eine gewisse Zeit bereit wären. Dieser Vorschlag hätte die europäischen Staaten durchaus entlastet und gleichzeitig die Abschreckung für Menschen erhöht, die gezielt nach Deutschland, in die Niederlande oder nach Schweden streben.

Der Vorschlag fiel durch. Er scheiterte auf Druck aus Berlin. Die Ampel-Regierung war mit Blick auf den grünen Koalitionspartner nicht bereit, auch nur zu erwägen, künftig Migranten so lange außerhalb der EU zu belassen, bis ihr Antrag auf Asyl bearbeitet ist.

Seit Jahren wissen wir, wie sich der Zuzug von Migranten vermindern ließe, ohne unsere Werte aufzugeben. Jener Vorstoß der meisten EU-Mitglieder wäre ein Schritt dorthin gewesen. Dass er aufgrund der Ampel-Regierung ausblieb, hilft nur einem: der AfD.

Zitat

Pauschal-Abschiebung von Clanmitgliedern? „Forderung von Frau Faeser reiner Populismus“

Die Bundesinnenministerin will Clankriminelle abschieben, auch wenn sie keine Straftaten begangen haben. NRW-Innenminister Reul (CDU) wirft ihr vor, damit eine allzu leichte Lösung vorzugaukeln – und erklärt, welcher Weg effektiver sei. Am Clan-Begriff hält er trotz grüner Kritik fest.

Herbert Reul (CDU), 70, Innenminister von Nordrhein-Westfalen picture alliance/Flashpic/Jens Krick

Herbert Reul (CDU), 70, Innenminister von Nordrhein-Westfalen picture alliance/Flashpic/Jens Krick© Bereitgestellt von WELT

WELT: Herr Reul, Clankriminelle mit doppeltem Pass sollen ihre deutsche Staatsbürgerschaft verlieren. Die unionsgeführten Bundesländer, darunter auch Nordrhein-Westfalen, wollen das rechtlich prüfen lassen. Was soll damit erreicht werden?

Herbert Reul: In Nordrhein-Westfalen haben gut 53 Prozent der Tatverdächtigen nur oder auch die deutsche Staatsangehörigkeit. Das heißt, eine Abschiebung ist schlicht nicht möglich. Wenn wir die Staatsbürgerschaft aberkennen könnten, könnten wir zumindest in diesen Fällen eine Abschiebung versuchen.

Die große Lösung ist das natürlich nicht, sondern lediglich der Versuch, an einer wichtigen Stellschraube zu drehen. Das ist juristisch hochkomplex. Da reicht eine Zugehörigkeit zu einem Clan selbstverständlich nicht aus. Mit Sicherheit müsste man für solch einen Schritt im Einzelfall Straftaten beziehungsweise kriminelles Verhalten nachweisen.

WELT: Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hat jüngst die pauschale Abschiebung von Clankriminellen ins Spiel gebracht, selbst wenn sie keine Straftat begangen haben. Wie realistisch ist das?

Reul: Die Forderung von Frau Faeser ist reiner Populismus. Ich kann doch niemanden abschieben, nur weil er Mitglied eines Clans ist. Da schürt die Bundesinnenministerin auch einen Generalverdacht gegen ganze Familien. Uns geht es nur um die Kriminellen innerhalb der Clans.

Diese Nummer von Frau Faeser bedient Stimmungen und erweckt den Eindruck, dass das alles ganz schnell und leicht geht. Das ist kein kluger Beitrag, sondern führt nur zu mehr Enttäuschungen, und das nutzt am Ende nur der AfD. Bei Clankriminellen können Abschiebungen angesichts der Nationalitäten auch nicht das zentrale Instrument sein, sondern es geht um Bekämpfung von Kriminalität.

WELT: Was ist aus Ihrer Sicht effektiver?

Reul: Eine Bargeldobergrenze beim Erwerb von teuren Gütern wie Autos, Uhren oder Schmuck zum Beispiel hätte eine große Wirkung zur Verhinderung von Geldwäsche. Ich hätte auch keine Einwände gegen die Einführung einer Beweislastumkehr. Das muss aber juristisch gut geprüft sein. Das würde bedeuten, dass derjenige, der eine große Menge an Bargeld oder Wertsachen besitzt, nachweisen muss, dass sie aus legalen Geschäften stammen. So etwas würde die Clankriminalität viel stärker treffen als Debatten über Abschiebungen, die am Ende doch nicht stattfinden.

WELT: Im neuen „Lagebild Clankriminalität“ 2022 für NRW sind mehr Tatverdächtige und Straftaten durch Clankriminelle dokumentiert. Verstärkt sich das Problem, oder wird durch verstärkte Ermittlungsarbeit mehr aufgedeckt?

Reul: Vermutlich beides. Wir haben die Kontrollen seit 2017 fast verdoppelt, und wir finden fast bei jeder Razzia etwas. Wir stören die Kreise der Kriminellen, und dadurch kommt auch mehr zum Vorschein.

WELT: Nach wie vor gibt es Kritik am verwendeten Clan-Begriff, insbesondere aus den Reihen der Grünen. Der Integrationsbeauftragte der Stadt Essen spricht sogar von „Sippenhaft“. Ist der Begriff letztlich doch zu heikel, weil er sich zu sehr auf Ethnien und Familiennamen bezieht?

Reul: Das höre ich schon seit Jahren. Es ist durchaus mit Risiken verbunden, diesen Begriff zu verwenden. Das ist mir klar. Aber ich betone immer wieder, dass es nur um die Kriminellen geht und nicht um ganze Familien.

Deswegen nennen wir Familiennamen auch nicht öffentlich. Den Tatverdächtigen mit einem der 116 als relevant identifizierten Familiennamen im Lagebild ordnen wir mehr als 6500 Straftaten zu, an mehr als 660 waren Kriminelle mit demselben Nachnamen beteiligt, insbesondere im Ruhrgebiet. Das ist doch ein wichtiges Strukturelement für die Ermittlungsarbeit. Das darf natürlich nicht dazu führen, dass jeder mit einem dieser Namen gleich als kriminell gilt. Ausgangspunkt muss immer kriminelles Handeln sein.

WELT: Gibt es Hinweise, dass über Migration gezielt kriminelle Clan-Strukturen gestärkt werden und personeller Nachschub rekrutiert wird?

Reul: Es gibt da nur Gerüchte und Vermutungen, aber keine Beweise. Es gibt doch eine generelle Herausforderung für uns: Wenn viele zu uns kommen, denen es nicht gut geht und die nicht ordentlich hier arbeiten können, dann besteht die Gefahr, dass sie in die Kriminalität abrutschen oder sich neue Gruppen bilden.

WELT: Ein anderes sicherheitspolitisches Problem sind die sogenannten Grauen Wölfe der türkischen ultranationalistischen Ülkücü-Bewegung, die in Verbänden und Vereinen organisiert sind. Laut Verfassungsschutz gelten sie als größte rechtsextremistische Vereinigung in Deutschland. Die Fraktionen im Bundestag fordern ein Vereinsverbot. Was halten Sie davon?

Reul: Ich finde es wichtig, dass ein Vereinsverbot geprüft wird. Wenn es gehen würde, hätte ich nichts dagegen, aber dafür muss es erst gerichtsfest sein. Da muss man gründlich sein.

WELT: Immer wieder gibt es Berichte, dass Politiker von SPD und CDU beim Besuch des Fastenbrechens oder anderen kommunalpolitischen Terminen, in engen Kontakt mit Grauen Wölfen kommen. Wie soll man sich als Politiker gegen eine solche Nähe schützen?

Reul: Es ist oft schwer sofort zu erkennen, auf wen man trifft oder wer einen anspricht. Vor allem bei den vielen Terminen, die Politiker machen. Aber deshalb nicht mehr zu Terminen zu gehen, ist auch keine Lösung. Man muss zumindest versuchen, sich im Vorfeld so gut wie möglich zu informieren. Ich versuche, so etwas früh zu klären, aber ein Restrisiko bleibt. Man muss eine größere Sensibilität haben, aber das darf nicht dazu führen, dass man keinen Kontakt mehr zu Migrantenorganisationen hat.

WELT: Ist Ihnen das selbst auch schon einmal passiert?

Reul: Zum Glück nicht. In einigen Fällen wurde ich auch rechtzeitig vorher gewarnt und habe mich von bestimmten Begegnungen ferngehalten.

Zitat

Migranten an der deutsch-polnischen Grenze: Passschnipsel in der Toilette

Arbeiten an der Belastungsgrenze: Ein Polizist überwacht den Eingang des Gewahrsamsbereichs der Bundespolizeiinspektion Ludwigsdorf.

Arbeiten an der Belastungsgrenze: Ein Polizist überwacht den Eingang des Gewahrsamsbereichs der Bundespolizeiinspektion Ludwigsdorf.© Hannes Jung

Die zwei Männer aus Afghanistan haben es eigentlich schon geschafft. Gemeinsam mit 15 weiteren Erwachsenen und einem Jungen hängen sie in einem kleinen Raum ab; einige liegen auf Pritschen, einen Arm über das Gesicht gelegt, andere stehen am Fenster und schauen durch die Jalousie nach draußen auf die Autobahn.

Die Luft steht in dem kleinen Gebäude am einstigen Grenzübergang Ludwigsdorf bei Görlitz, direkt an der A 4 nach Polen. „Wir verstehen nicht, dass wir zurücksollen“, sagt einer der Männer aufgeregt in gebrochenem Englisch. „Alle dürfen bleiben, nur wir sollen zurück nach Polen. Warum?“ Die beiden hätten da wohl etwas falsch verstanden, sagt einer der Bundespolizisten. Hier, im sogenannten Check-out-Raum, warteten nur Migranten, die in eine der drei sächsischen Erstaufnahmeeinrichtungen nach Chemnitz, Dresden oder Leipzig weiterfahren dürften.

Migranten an der deutsch-polnischen Grenze: Passschnipsel in der Toilette

Migranten an der deutsch-polnischen Grenze: Passschnipsel in der Toilette© F.A.Z.

Pro Tag etwa 100 illegale Einreisen

„Inzwischen greifen wir pro Tag durchschnittlich hundert Menschen auf, die illegal eingereist sind“, sagt Ivonne Höppner, Sprecherin der Bundespolizeiinspektion Ludwigsdorf.

„Inzwischen greifen wir pro Tag durchschnittlich hundert Menschen auf, die illegal eingereist sind“, sagt Ivonne Höppner, Sprecherin der Bundespolizeiinspektion Ludwigsdorf.© Hannes Jung

Der Raum ist die letzte Station eines viele Stunden dauernden Prozederes, bei dem die Mi­granten registriert, durchgecheckt und erstversorgt werden. In den sonst verlassenen einstigen Abfertigungsgebäuden herrscht in diesen Tagen Hochbetrieb, und ein Ende ist nicht abzusehen. Bereits seit Jahresbeginn wächst die Zahl der Menschen, die hier via Polen illegal nach Deutschland einreisen, und jetzt im Sommer ist sie noch einmal stark gestiegen.

Abwarten: Migranten vor der Fahrt zur Erstaufnahmeeinrichtung

Abwarten: Migranten vor der Fahrt zur Erstaufnahmeeinrichtung© Hannes Jung

Im gesamten Jahr 2021 griff die Bundespolizei in Deutschland knapp 58.000 Menschen auf, die illegal über die Grenze gekommen waren. In diesem Jahr sind es schon bis Ende Juli so viele. Der Großteil kommt über Belarus und Polen oder über die Balkanroute via Serbien, Ungarn sowie über die Slowakei und die Tschechische Republik nach Deutschland.

Die Grenzregionen zu Polen in Ostsachsen und zur Tschechischen Republik im Erzgebirge sind inzwischen Brennpunkte des zunehmenden Migrationsgeschehens, das sich auch in der stark zunehmenden Zahl an Schleusungen widerspiegelt. Kaum ein Tag vergeht, an dem die Polizisten nicht überladene Autos oder Kleintransporter erwischen, in die viel zu viele Menschen gepfercht sind, um sie für immense Summen nach Deutschland zu bringen.

Am Montagmorgen gegen 2.30 Uhr etwa wollte die deutsch-polnische Streife auf der A 4 in Polen einen Ford Transit stoppen. Der Fahrer gab Gas, raste über die Grenze nach Deutschland, ließ den Wagen auf der Überholspur ausrollen, sprang aus dem Fahrzeug und versuchte, über die Gegenfahrbahn zu entkommen. Zugleich öffneten sich die Türen zum Laderaum, aus dem – wie die Beamten später feststellten – 18 Menschen sprangen und nun ebenfalls über die Fahrbahnen liefen. Zurzeit ist hier wegen Bauarbeiten die Geschwindigkeit auf 80 Kilometer pro Stunde begrenzt, dennoch war, zumal in der Dunkelheit, die Lage lebensgefährlich für alle Beteiligten.

Der Bundespolizei gelang es, alle Migranten nebst Fahrer wieder einzusammeln. Sie alle stammen aus der Türkei, der Schleuser wurde festgenommen, ebenso wie auf polnischer Seite drei Georgier, die mutmaßlich an der Schleusung beteiligt waren. Nur wenige Stunden später entdeckten die Beamten auf der hier parallel zur A 4 verlaufenden Bundesstraße 6 einen Citroën Jumper ebenfalls mit polnischem Kennzeichen. Am Steuer saß eine Frau, die der Aufforderung, anzuhalten, folgte. Als sie die Türen zum Laderaum öffnete, kamen 26 Menschen aus Syrien zum Vorschein, sie waren stehend hineingepresst. Die Fahrerin, eine 41 Jahre alte Frau aus der Ukraine, wurde festgenommen.

Die Bundespolizei hat eine einstige Fahrzeugreparaturhalle und ein Nebengebäude zu einer „Bearbeitungsstraße“ umgebaut.

Die Bundespolizei hat eine einstige Fahrzeugreparaturhalle und ein Nebengebäude zu einer „Bearbeitungsstraße“ umgebaut.© Hannes Jung

„Inzwischen greifen wir pro Tag durchschnittlich hundert Menschen auf, die illegal eingereist sind“, sagt Ivonne Höppner von der Bundespolizeiinspektion Ludwigsdorf. Das seien mehr als doppelt so viele wie vor einem Jahr. Allein am vergangenen Wochenende waren es 210 Mi­granten, die zum Teil bei Kontrollen entdeckt oder nach Hinweisen von Bürgern aufgegriffen wurden.

„Wir arbeiten hier am Limit“

Die Schleuser setzen ihre „Fracht“ meist schnell nach dem Grenzübertritt ab, sodass die Menschen dann oft orientierungslos umherlaufen. So fand die Polizei in Ostsachsen am Samstag 13 türkische Staatsbürger an einer Tankstelle und 21 Männer und zwei Frauen aus Syrien an einer Bushaltestelle. Darüber hinaus sammelten die Einsatzkräfte in mehreren Dörfern insgesamt 18 syrische und sieben türkische Staatsbürger ein, darunter fünf Kinder. Am Sonntag ging es ähnlich weiter: 13 Menschen aus Syrien, acht aus Afghanistan sowie je vier aus Somalia, Eritrea und der Türkei sowie bei zwei Aufgriffen jeweils knapp zwei Dutzend Syrer. Und da hatte der Tag gerade erst begonnen.

Die Bundespolizei in Ludwigsdorf ist inzwischen ziemlich überlastet. Unterstützung erhält sie von der Bundesbereitschaftspolizei, deren Kräfte sich zugweise im Wochenrhythmus abwechseln. Diese Woche sind es 32 Polizisten aus Uelzen, die an der gesamten Kette von der Regis­trierung der Migranten bis zur Überweisung in eine Erstaufnahmeeinrichtung eingesetzt sind. Provisorisch haben sie dafür die einstige Fahrzeugreparaturhalle sowie ein Nebengebäude zu einer „Bearbeitungsstraße“ umgebaut. Die Halle ist mit Bauzäunen in mehrere Räume geteilt, Planen dienen als Sichtschutz, Spanplatten als provisorischer Fußboden.

„Wir arbeiten hier am Limit“, sagt Pascal Ludolfs, der Zugführer aus Uelzen, der den Überblick zu behalten versucht. An der westlichen Giebelwand dösen die „Neuankünfte“ im Schatten: drei Männer und eine Frau aus Nepal, zwei Männer aus Indien, zwei aus Afghanistan, alle mittleren Alters. Es ist drückend heiß.

Vier Monate seien sie unterwegs gewesen, über Russland, Belarus und Polen nach Deutschland gekommen, erzählt ein Nepalese. „Deutschland ist sehr gut“, sagt er auf Englisch. Ihr Plan sei jedoch, nach Portugal weiterzureisen. Die Inder dagegen wollen in Deutschland bleiben. Auf ihrem Weg bis an die Grenze seien sie tagelang ohne Essen gewesen, erzählt der Jüngere der beiden. In Belarus seien sie in den Bauch und auf die Beine geschlagen worden, auch das Handy habe man ihnen gestohlen. Jetzt warten sie auf die Registrierung.

Die meisten Migranten haben nicht viel bei sich

Jeder von ihnen bekommt ein gelbes Armband mit einer Nummer, dieselbe wiederum klebt an einer Plastikbox, in der alle ihre Habseligkeiten verstaut werden. „Meist ist das nicht viel“, erzählt Ludolfs. Ein Handy, Ringe, etwas Bargeld. Manche hätten einen Beutel oder kleinen Rucksack mit etwas Kleidung dabei, die meisten jedoch kämen ohne Gepäck.

In einem Lagerraum steht hier – neben Wasser und Lebensmitteln – auch ein Regal mit Spenden: Pullover, T-Shirts, Schuhe sowie Spielzeug. Hinter dem Registriertisch im Regal liegen Formulare in gut zwei Dutzend Sprachen, darunter auch kurdische Dialekte wie Sorani und Bahdini oder Dari, Paschtu und Farsi, die unter anderem in Afghanistan gesprochen werden. „Wir haben auch einen Kollegen, der Arabisch spricht“, sagt Ludolfs. „Das hilft sehr.“

Die Papiere dienen der Registrierung und Aufklärung. Dass etwa das jeweilige Konsulat der illegal eingereisten Menschen informiert werden kann, lehnten fast alle ab. Die Gefahr, einen neuen Pass ausgestellt zu bekommen und gar in ihre Heimat zurückkehren zu müssen, sei vielen zu groß, sagt Ludolfs. An diesem Vormittag liegt nur in einer der Boxen ein afghanischer Pass. Die meisten hätten gar keine Papiere; erst am Morgen haben Mitarbeiter Passschnipsel aus einer der Toiletten gefischt. Ab und an finden die Beamten auch bei der auf die Registrierung folgenden Durchsuchung noch Papiere in Schuhen oder Unterwäsche.

Nacheinander gehen die Menschen in die einzelnen Kontrollbereiche. Einer davon ist an diesem Morgen geschlossen, weil zuvor ein Mann mit einer mutmaßlich ansteckenden Hautkrankheit aufgefallen war. Ihn hat der Rettungsdienst ins Krankenhaus gebracht. Für die Polizisten, die hier in Schutzwesten arbeiten, ist das alles andere als leichte Arbeit.

Doch die Stimmung ist ruhig unter den Migranten, beinahe apathisch. „Selten ist jemand aufgebracht“, sagt Ludolfs. „Die meisten sind einfach nur müde und zufrieden, Deutschland erreicht zu haben.“ An der folgenden Station prüfen die Beamten Dokumente – falls vorhanden – sowie Fingerabdrücke. So können sie sehen, ob die Menschen schon einmal einen Asylantrag in einem EU-Staat gestellt haben.

Meistens sei das nicht der Fall, sagt Ludolfs, weshalb die Menschen auch nicht zurückgeschickt werden könnten. Auf dem Gang hängen Whiteboards, auf denen Datum, Ort und Anzahl der aufgegriffenen Menschen notiert sind, die jetzt etwa einen Tag lang in Ludwigsdorf bleiben; sie sind hier auch wegen illegalen Grenzübertritts in Gewahrsam.

Gerade staut es sich an der Befragungsstation, weil ein somalischer Dolmetscher fehlt. Er kommt erst kurz vor Mittag aus Dresden am Bahnhof in Görlitz an, dann geht es weiter. Die Erwachsenen liegen erschöpft auf Feldbetten, vor der Halle aber ist Lachen zu hören. Kinder haben eine blaue Plane auf dem Asphalt ausgebreitet, sie spielen mit Plüschtieren und Bausteinen.

Wer Arabisch spricht, darf jetzt vor, der Dolmetscher ist gerade da. Ob die Fluchtgeschichten und persönlichen Schicksale auch belastend für die Polizisten sind? „Ich achte auf meine Leute, dass es ihnen gut geht“, sagt Ludolfs. An Bahnhöfen, wo sie auch oft eingesetzt seien, gebe es zum Teil noch härtere Schicksale. „Die meisten verarbeiten das sehr professionell.“ Freilich ähnelten sich auch viele Geschichten. Männer aus Syrien berichteten meist, vor dem Wehrdienst geflüchtet zu sein, andere erzählten von Krieg und politischer Verfolgung in ihrem Heimatland – weil sie es tatsächlich erlebt haben oder weil sie glauben, dass damit ihre Chance zu bleiben steigt.

Auch zu Schleusern und Routen stellen die Polizisten Fragen, doch häufig seien die Antworten unergiebig. „Manche wissen noch, ob ein Mann oder eine Frau am Steuer saß, aber viel mehr erfahren wir oft nicht.“ Die Fahrer der Schleusertransporte wiederum sind oft nur kleine Lichter. Die Hintermänner der Banden, die laut Aussage der Bundespolizei mit dem Schleusen von Menschen inzwischen mehr Geld als mit Drogen- und Waffenschmuggel verdienen, werden nur selten gefasst.

Doch ist das „Geschäft“ lebensgefährlich. Erst Ende Juli überschlug sich auf der A 17 bei Pirna ein Kleintransporter auf der Flucht vor der Polizei. Eine auf der Ladefläche eingepferchte Frau starb, sieben weitere Personen, darunter auch Kinder, wurden schwer verletzt. Ob sich Ereignisse wie diese unter Migranten herumsprechen, wissen die Beamten nicht. Und selbst wenn: Die Menschen nehmen das Risiko offensichtlich in Kauf.

Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) warnte deshalb am Montag vor einem Kontrollverlust. „Aktuell wird die Migration weder von der EU noch der Bundesrepublik, sondern von kriminellen Strukturen wie Schlepperorganisationen gesteuert.“ Auch deshalb plädierte er abermals für eine gesellschaftsübergreifende Kommission, die Wege für eine gesteuerte Migration finden soll. Etwa 200.000 Migranten im Jahr seien verkraftbar, sagte Kretschmer. Derzeit bewege man sich jedoch auf das Doppelte zu.

Zugleich forderte er abermals temporäre Grenzkontrollen, weil über Polen und die Tschechische Republik mehr Flüchtlinge einreisten als irgendwo sonst in Deutschland. Die Bundespolizisten in Ludwigsdorf wollen nicht sagen, ob ihnen Grenzkontrollen die Arbeit erleichtern. Weniger Migranten würden es deshalb wohl ohnehin nicht werden.

Nach der Befragung müssen die Erwachsenen zum Erkennungsdienst, wo Abdrücke aller Finger genommen und Fotos von ihnen gemacht werden. Das dient auch den Ermittlungen wegen illegaler Einreise, die meistens zwar eingestellt werden. Vor allem aber sind die Menschen nun im deutschen Ausländerzentralregister vermerkt, und zugleich wird europaweit geprüft, ob sie schon einmal straffällig geworden sind.

Anschließend erläutern ihnen die Beamten, wiederum mit Dolmetschern, wie es nun für sie weitergeht: Im bereits erwähnten Check-out-Raum erhalten jeweils fünf Menschen eine Gruppenfahrkarte für die Bahn. Sie bekommen ihre persönlichen Sachen zurück sowie gut ein Dutzend Formulare in ihren Landessprachen, wo abermals alle Erläuterungen stehen. Sammeltaxis bringen sie zum Bahnhof nach Görlitz, von wo sie in die ihnen zugewiesene Erstaufnahmeeinrichtung (EAE) fahren.

Dort kämen die allermeisten dann auch tatsächlich an, heißt es aus der dafür im Freistaat zuständigen Landesdirektion. Aufgrund der steigenden Zahl an Migranten hat die Behörde die Kapazität der drei EAE um ein Viertel auf rund 8000 Plätze erweitert. Bei der Polizei in Ludwigsdorf wiederum reicht der Platz längst nicht mehr aus. Inzwischen leiten die Beamten neu aufgegriffene Menschen auch an andere Dienststellen in Sachsen weiter.

Zitat

Erste Asyl-Zwangszuweisungen: Rathaus wird zum Flüchtlingsheim – „Die Situation ist prekär“

Bürgermeister ärgert sich über Politik

Erste Asyl-Zwangszuweisungen: Rathaus wird zum Flüchtlingsheim – „Die Situation ist prekär“

Bürgermeister Andreas Rammler an seinem Schreibtisch

Bürgermeister Andreas Rammler an seinem Schreibtisch© Arndt Pröhl

Erstmals kommt es in Bayern zu Zwangszuweisungen von Flüchtlingen. Eine der betroffenen Gemeinden ist Sachsenkam. Bürgermeister Andreas Rammler berichtet, wie er mit der Herausforderung umgeht.

Sachsenkam – Sachsenkam ist eine 1300-Einwohner-Gemeinde im Kreis Bad Tölz-Wolfratshausen. Zehn Geflüchtete aus der Ukraine sind dort seit Februar 2022 aufgenommen worden. Aber die aktuelle Unterbringungsquote konnte Sachsenkam – wie viele andere Kommunen auch – nicht erfüllen. Deshalb werden diesen Monat Flüchtlinge zwangszugewiesen – ob es Unterkünfte gibt oder nicht. Bürgermeister Andreas Rammler (Unabhängige Wählerschaft) berichtet, wie er damit umgeht.

Ihrer Gemeinde werden in wenigen Tagen Flüchtlinge zwangszugewiesen. Wissen Sie, wie viele?

Ja, vier Personen im September und im Oktober noch mal vier. Wir wissen aber weder, aus welchem Land die Menschen kommen, noch, ob Kinder darunter sind. Auch wie es nach Oktober weitergeht, ist noch völlig offen. Aber ich denke, wir müssen mit weiteren Zwangszuweisungen rechnen.

Sie hatten dem Landratsamt gemeldet, dass es in Sachsenkam grade keine Unterbringungsmöglichkeiten gibt. Wo werden die Menschen nun wohnen?

Wir haben mehrere Aufrufe an unsere Bürger gestartet und sie gebeten, Unterbringungsmöglichkeiten zu melden. Das hat nicht viel gebracht. Auch wir als Kommune haben keine leerstehenden Gebäude.

Andere Gemeinden opfern ihre Turnhallen...

Dagegen wehre ich mich. Während der Pandemie ist für viele Kinder der Sport nicht möglich gewesen. Wir wollen nicht, dass sie die Turnhalle nun wieder verlieren. Städte oder größere Gemeinden tun sich leichter, sie haben oft mehrere Turnhallen, sodass die Vereine ausweichen können. Wir haben nur eine Halle und einen Verein mit 900 Mitgliedern. Für ein 1300-Einwohner-Dorf ist das enorm. Ich habe Angst, dass Trainer oder Übungsleiter aufgeben, wenn wir die Halle nun wieder schließen.

„Das ist ein drastischer Schritt“: Erste Asyl-Zwangszuweisung nach Sachsenkam

Welche Alternativen haben Sie?

Wir haben das Rathaus. Der erste Stock wird von Chören und Yogagruppen genutzt. Von diesen Räumen wollen wir nun einen Teil so umbauen, dass er für Geflüchtete genutzt werden kann. Dort könnten wir 13 Personen unterbringen. Man muss aber ganz klar sagen: Es geht in vielen Kommunen nur noch um die Unterbringung der Menschen, von Integration sind wir weit, weit entfernt.

Haben Sie wie andere Kommunen über ein Containerdorf nachgedacht?

Ja, das haben wir diskutiert. Uns wurde aber signalisiert, dass wir frühestens in einem halben Jahr Container oder Zelte bekommen könnten. Das hilft uns in der jetzigen Situation nicht.

Vor einem halben Jahr kamen auch schon viele Flüchtlinge. Warum haben Sie damals kein Containerdorf geplant?

Zum einen, weil wir kein freies Grundstück dafür haben. Außerdem hatten wir gehofft, dass die Bundesregierung etwas unternimmt. Dass sie die Hilfeschreie der Kommunen in ganz Deutschland und vor allem in den Grenzregionen erhört. Sie fordern seit Monaten, dass die Zuwanderung begrenzt wird und Grenzkontrollen eingeführt werden. Das wird aber völlig ignoriert. Wir waren überzeugt, Berlin würde darauf reagieren.

Wie überraschend kam für Sie die Nachricht, dass es nun Zwangszuweisungen geben wird?

Dass es dazu kommen könnte, hatte der Landrat im Vorfeld angekündigt. Es hat mich aber überrascht, dass es nun tatsächlich dazu kommt. Das ist ein drastischer Schritt. Bisher hat es so was meines Wissens nicht gegeben. Die Situation ist wirklich prekär – und sie belastet mich als Bürgermeister sehr. Die Mitteilung, dass wir im September und Oktober Menschen unterbringen müssen, hat mich im Urlaub erreicht – der war für mich danach mehr oder weniger gelaufen.

Haben Sie Verständnis für das Landratsamt?

Grundsätzlich ja. Die sind ja genauso in der Bredouille wie wir Kommunen, sie bekommen die Flüchtlinge von den Bezirksregierungen zugewiesen. Und die von der Landesregierung. Auch die Landratsämter suchen händeringend nach Unterkünften. Das Problem wird von Berlin einfach bis nach Sachsenkam durchgereicht – wir Kommunen stehen in der Kette einfach ganz unten und fühlen uns hilflos.

Fühlen Sie sich als Bürgermeister alleingelassen?

Nicht nur alleingelassen. Ich habe das Gefühl, dass es keinen interessiert, wie die Kommunen diese Herausforderung stemmen sollen. Viele sind am Anschlag. Als ehrenamtlicher Bürgermeister engagiere ich mich für meine Gemeinde, von ihr bin ich gewählt worden, nicht für die große Weltpolitik. Wir Bürgermeister werden nun aber mit Problemen belastet, die wir nicht steuern können und die auch nicht zu unseren eigentlichen Pflichtaufgaben gehören.

Das Rathaus in Sachsenkam

Das Rathaus in Sachsenkam© Bereitgestellt von Merkur

Welche Hilfen würden Sie sich aus Berlin wünschen?

Uns wird immer Geld in Aussicht gestellt. Mit Geld allein ist es aber nicht getan. Wir brauchen Kindergartenplätze, Erzieher, die die Kinder betreuen. Der Wohnungsmarkt ist angespannt. Die Zuwanderung muss gebremst werden, um die Menschen, die jetzt da sind, integrieren zu können. Dazu gehört auch, Abschiebungen von ausreisepflichtigen Asylbewerbern umzusetzen.

Können die Geflüchteten in Sachsenkam langfristig Wohnungen finden?

Das ist ein Ding der Unmöglichkeit – schon für Einheimische ist es schwierig. Wir liegen im Speckgürtel von München. Mit zusätzlichen Wohnungssuchenden wird das Problem größer. Das verändert auch die Stimmung.

Wie hat sie sich verändert?

Viele Menschen haben Ängste. Einige fürchten, dass unser Sozialsystem überlastet wird. Andere sind beunruhigt, weil sie nicht wissen, wer zu uns kommt. Das Rathaus, wo die Menschen untergebracht werden, ist direkt neben dem Kindergarten und dem Spielplatz. Es gibt Vorbehalte. Und einige davon kann ich nachvollziehen, andere sind wohl unbegründet. Als Bürgermeister suche ich das Gespräch und versuche zu beruhigen. Aber ich mache mir Sorgen, dass die Stimmung kippt.