Wladimir Putin. IMAGO/ZUMA Wire© IMAGO/ZUMA Wire
Manche Beobachter glauben, dass Russland den Krieg gegen die Ukraine verlieren wird. Der Osteuropa-Experte Klaus Gestwa hat nun in einem Interview erklärt, wohin Putin seinen Fokus verschieben könnte, sollte er im Nachbarland eine Niederlage einfahren.
„Der Krieg ist verloren, und man muss sich überlegen, ob man weiterkämpft, bis die letzten Ressourcen aufgebraucht sind, oder ob man nicht doch die letzten Reserven abzieht.“
Das sagte Marcus Keupp von der Militärakademie der ETH Zürich dem „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ (RND) im Juni. Er rechnet damit, dass Russland den Ukraine-Krieg im Oktober verlieren wird. Andere Experten geben sich zurückhaltender.
Klaus Gestwa von der Universität Tübingen etwa betonte im Gespräch mit dem „Münchner Merkur“ , dass man nicht wisse, wie der Ukraine-Krieg ausgehen wird. Er sagte aber auch: „Russland wird in jedem Fall enorme ökonomische Probleme bewältigen müssen.“
„Krieg ist für Putin ein Mittel, um seine Macht auszubauen“
Gestwa studierte unter anderem in Moskau und Sankt Petersburg und unterhält auch heute noch Kontakte nach Russland. Er forscht zur politischen Kultur in der Russischen Föderation.
„Krieg ist für Putin nicht das Versagen von Politik, sondern vielmehr ein wichtiges Mittel, um seine Macht zu erhalten und auszubauen.“ Immer dann, „wenn es innenpolitische Probleme gab und es um seine Zustimmungswerte nicht gut bestellt war“, seien Kriege ausgebrochen.
Und tatsächlich: Putins Russland war bereits in zahlreiche Auseinandersetzungen verstrickt. Unter anderem in Tschetschenien, Georgien und Syrien war der Kreml aktiv.
Besonders der Georgien-Krieg weist Parallelen zum Ukraine-Krieg auf. Das Land, das sich eine Grenze mit Russland teilt, wollte in den 2000er Jahren der Nato beitreten. Das gefiel Moskau nicht.
„Putins Popularität war nie größer“
„Russland hat sich um separatistische Bewegungen innerhalb Georgiens bemüht, um Georgien die Territorien Abchasien und Südossetien zu entreißen und damit in einen permanenten territorialen Konflikt zu bringen, der eine Aufnahme in die Nato unmöglich macht“, sagte Russland-Experte Gerhard Mangott dem ZDF im vergangenen Jahr.
Russland gilt als Schutzmacht der Südosseten und der Abchasen auf georgischem Territorium. Als Georgien im Sommer 2008 eine Offensive gegen eine der abtrünnigen Regionen startete, griff Russland ein und schickte Tausende Soldaten. Der Eskalation waren zahlreiche russische Provokationen vorausgegangen.
Nach nur fünf Tagen war der Krieg zu Ende. Georgien verlor die Kontrolle über Abchasien und Südossetien, Russland erkannte die Regionen als unabhängige Staaten an. Der Nato-Beitritt Georgiens rückte in weite Ferne.
„Putins Popularität war niemals größer als 2008 nach dem russisch-georgischen Krieg und 2014 nach der Krim-Annexion“, sagte Gestwa dem „Münchner Merkur“. Er glaubt, dass Georgien zum neuen Ziel einer „aggressiv-konfrontativen internationalen Politik“ werden könnte, sollte Russland im Ukraine-Krieg unterliegen.
Putin hat in Georgien alles erreicht, was er erreichen wollte
Auch heute ist die Lage in Georgien angespannt, die Gesellschaft gespalten. Es gibt immer wieder pro-europäische, aber auch pro-russische Demonstrationen.
„Viele Menschen in Georgien haben die Sorge, dass sich in ihrem Land eine kremlkritische Diaspora gründen könnte. Das böte Moskau einen weiteren Grund, um in Georgien militärisch aktiv zu werden, wenn russische Truppen dafür mobilisiert werden können“, so Gestwa.
Für wahrscheinlich hält er ein solches Szenario aber nicht, weil Moskaus Soldaten aktuell an der ukrainischen Front stehen. „Selbst die Hauptstadt Moskau lässt sich gegen 6000 bis 8000 Söldner kaum mehr verteidigen.“
Ob Georgien nach dem Ende des Ukraine-Kriegs in Putins Visier rücken könnte, wurde übrigens schon vor Monaten diskutiert. Unter anderem die Friedrich-Naumann-Stiftung beschäftigte sich mit dieser Frage.
Ex-Nato-Generalsekretär rief dazu auf, Putin ernst zu nehmen
Die Antwort: Vermutlich nicht. Schließlich habe Putin im Nachbarland so ziemlich alles erreicht, was er erreichen wollte. Georgien ist nach wie vor kein Nato-Mitglied und Russland konnte Soldaten unweit der Nato-Grenze stationieren - in Abchasien und Südossetien.
Zwischen dem Ausgang des Ukraine-Krieges und Georgiens Zukunft besteht gewiss ein Zusammenhang, heißt es in der Analyse. Es sei „nicht zu erwarten, dass ein besiegter Putin Georgien angreift“.
Und weiter: „Sollte er sich aber in seinem letzten Atemzug dazu entscheiden, so hat Georgien heute eine realistischere Chance, ein in der Ukraine geschlagenes Russland wieder zu vertreiben.“ Schließlich verfüge Georgien über eine gut geschulte, motivierte Armee.