Das Nachwuchsproblem der Bundeswehr ist noch gravierender als alle Ausrüstungslücken. Verteidigungsminister Pistorius (SPD) präsentiert erste Lösungsideen. So müsse die Truppe „öffentlich sichtbarer“ werden. Zudem nimmt er Frauen und Deutsche mit Migrationshintergrund verstärkt in den Blick.
Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD, l.) Mitte Mai beim Antrittsbesuch in der Infanterieschule Hammelburg (Bayern) picture alliance/dpa© Bereitgestellt von WELT
Zu wenig Waffen. Marode Kasernen. Zu wenig Soldaten. Das sind im Kern die drei Probleme, die Boris Pistorius (SPD) zu bewältigen hat. Dazu muss der Verteidigungsminister die drei Bundesbehörden, die für diese Aufgabenbereiche zuständig sind, auf Vordermann bringen. Sie tragen Namen, die als Zungenbrecher taugen. Und sie liegen allesamt am Rhein.
Dem Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr (BAAINBw) in Koblenz mit rund 12.000 Mitarbeitern und dem Bundesamt für Infrastruktur, Umweltschutz und Dienstleistungen der Bundeswehr (BAIUDBw) in Bonn mit rund 3000 Mitarbeitern hat Pistorius bereits neue Präsidenten verpasst: Annette Lehnigk-Emden und Roland Börger.
Am Donnerstag nun besuchte der Minister das Bundesamt für das Personalmanagement der Bundeswehr (BAPersBw) in Köln mit seinen mehr als 6800 Mitarbeitern. Dessen Präsidentin, Sabine Grohmann, ist bereits seit 2018 im Amt, eingesetzt noch von Ursula von der Leyen (CDU).
Das ist insofern interessant, als Grohmann bislang nicht sonderlich erfolgreich war. Sie ist verantwortlich für die Sicherstellung der personellen Einsatzbereitschaft der Bundeswehr, also der Behebung des vielleicht schwerwiegendsten Mangels der Streitkräfte. Denn was nützen neue Waffensysteme ohne Soldaten, die damit kämpfen? In den Worten des Ministers: „Wir brauchen ausreichendes und ausreichend motiviertes Personal, weil nur mit Männern und Frauen unsere Flugzeuge fliegen, unsere Panzer und unsere Schiffe fahren.“
Das sei neben der Materialbeschaffung seine zweite große Priorität. Chef-Personalerin Grohmann aber ist bei der Aufstockung des Militärs nur schleppend vorangekommen. 2016 war die zu Zeiten des Kalten Krieges und der allgemeinen Wehrpflicht über eine halbe Million Soldaten starke Truppe mit 177.000 Soldaten so klein wie nie zuvor in ihrer Geschichte. Seitdem gelang trotz großer Anstrengungen gerade einmal ein bescheidener Aufwuchs von rund 6000 Soldaten – das liegt weiter unter den Notwendigkeiten.
264.292 Menschen arbeiten derzeit bei der Bundeswehr, davon rund 183.000 Berufs- und Zeitsoldaten sowie freiwillig Wehrdienstleistende. Bis 2031 sollen es wieder rund 203.000 sein, wobei diese Zahl bereits 2018 festgelegt worden war, also lange vor Russlands Überfall auf die gesamte Ukraine. Seitdem sind zahlreiche neue Aufträge hinzugekommen. Doch selbst diese von der Realität längst überholte Zielmarke ist für die Armee der Freiwilligen kaum erreichbar.
Niemand weiß, wo die 20.000 zusätzlichen Soldaten angesichts des demografischen Wandels mit jährlich sinkenden Zahlen von Schulabgängern, des Fachkräftemangels, der Konkurrenz mit den Arbeitgebern in der Privatwirtschaft und der nachlassenden körperlichen Leistungsfähigkeit junger Menschen herkommen sollen. Denn die Streitkräfte haben zusätzlich einen jährlichen Regenerationsbedarf von noch einmal rund 20.000 Männern und Frauen – der in den kommenden Jahren aufgrund der Altersstruktur in der Truppe noch steigen wird.
Er wage noch keine Prognose, ob die Zielmarke von 203.000 realistisch zu erreichen sei, sagte Pistorius. „Wir tun alles dafür, aber vielleicht müssen wir die Zahl auch mal überprüfen – sowohl nach unten wie nach oben.“ Das sei bislang noch nicht geschehen. Für ihn sei es zunächst primär, die Bewerberzahlen zu steigern, frei werdende Stellen wieder zu besetzen und Zeitsoldaten, die länger bleiben wollten und gebraucht würden, zu halten. Die Bedingungen dafür seien schwierig und würden noch schwieriger.
Pistorius und die „praktische Begreifbarkeit“
Immerhin brachte Pistorius Ideen, wie es zu schaffen sein könnte, mit nach Köln: „Unser Ziel muss sein, die Bundeswehr öffentlich sichtbarer zu machen. Wir müssen dahin gehen, wo die Menschen sind, und nicht darauf warten, dass die Menschen zur Bundeswehr kommen.“ Es gehe „um praktische Begreifbarkeit, um Anfassen, um In-Berührung-Kommen mit denjenigen, die die Jobs schon machen“.
Der Bewerbungsprozess müsse schneller werden, es brauche neue Wege in der Werbung, die Personalbindung müsse effektiver und mehr Frauen sowie Staatsbürger mit Migrationsgeschichte müssten gewonnen werden. „Wir können noch mehr schaffen, es gibt einiges zu tun“, sagte Pistorius. Er sei „zuversichtlich, ohne euphorisch zu sein“.
Die Frage einer Journalistin, ob er aufgrund seiner großen Beliebtheit in der Bevölkerung nicht selbst als Rekrutierer tätig werden müsse, nahm der Minister als Scherz: „Interessanter Ansatz. Ich frage mal meine Experten, ob meine Popularität dafür ausreicht.“
Aber die Frage hat einen wahren Kern. Denn die Eigenschaften, die Pistorius so beliebt machen, sind im Personalwesen der Bundeswehr nicht überall verbreitet. Statt Mut zu Ehrlichkeit und Klartext, Entscheidungsfreude, Ahnung von der Sache und überdurchschnittlichem Engagement ist eher der Hang zu Schönfärberei verbreitet.
Deutlich wurde das erst vorige Woche, als das Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) eine im Auftrag des Bundesministeriums der Verteidigung erstellte und mit ihm abgestimmte „Bewerber-Studie 2022“ veröffentlichte. Darin wurde die These vertreten, dass es der Truppe nicht an Bewerbern mangele und die Personalrekrutierer sich den Luxus erlaubten, nur 30 Prozent davon einzustellen. Das entspreche nicht der Realität, sagte Generalarzt Lale Bartoschek, Abteilungsleiterin für Personalgewinnung im BAPersBw. So habe es im Jahr 2022 44.000 Bewerber gegeben, 36.000 von ihnen seien zum Auswahlverfahren erschienen und 18.600 eingestellt worden – also rund jeder Zweite. Zwar liege die Zahl der Interessenten deutlich höher, aber das seien eben keine Bewerber.
Auch im Wissenschaftsbetrieb wurde die Studie aufgrund ihrer mangelnden Repräsentativität mit Verwunderung zur Kenntnis genommen. Das Ergebnis, dass es genügend Bewerber gebe und die auch noch überdurchschnittlich gebildet seien, fußt auf einer Online-Umfrage, an der sich im Zeitraum von Mai und Juli 1311 Interessenten beteiligten. Von denen, die das Bewerbungsverfahren tatsächlich absolvierten, meldeten sich nur 290 zurück. Aus dieser Datenbasis ließen sich kaum allgemeingültige Schlussfolgerungen ziehen, heißt es auch im BAPersBw, sie diene womöglich eher der „Innenkommunikation“, sprich: der Schönfärberei.
Die ist aber auch dem Personalamt nicht fremd. So behaupten die Chefrekrutierer, die bescheidene Ausrüstungslage spiele für die Attraktivität der Streitkräfte zumindest bei den Bewerbern keine größere Rolle. Denen gehe es eher um Coolness des Berufs, Kameradschaft und heimatnahe Verwendung. Und es gebe ja auch Material, nur eben nicht immer in ausreichender „Stückzahl und Einsatzbereitschaft“, so Bartoschek. Jene Rekruten, die in Truppenteile des Heeres kommen, die ihr Material gerade an die schnelle Einsatztruppe der Nato oder die im Aufbau befindliche Division 2025 abgeben und selbst nahezu blank dastehen, werden das anders sehen.