Hülsenproduktion ;des deutschen Rüstungskonzerns Rheinmetall. Urs Flueeler / Keystone© Bereitgestellt von Neue Zürcher Zeitung Deutschland
Deutschland ist heute noch weniger verteidigungsfähig als zum Zeitpunkt des russischen Überfalls auf die Ukraine vor gut 15 Monaten. Das schlussfolgert die Unionsfraktion im Bundestag aus den Antworten, die ihr jetzt die Bundesregierung auf einen umfangreichen Fragenkatalog zu den Vorräten an Munition gegeben hat.
Demnach hat die Bundeswehr der Ukraine für ihren Kampf eine grosse Menge an Munition zur Verfügung gestellt. Doch bis heute wurde davon so gut wie nichts nachbeschafft. «Die Untätigkeit der Bundesregierung hier ist wirklich beunruhigend», sagte der verteidigungspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Florian Hahn, am Dienstag.
In dem mehr als 70 Fragen umfassenden Katalog hat die grösste Oppositionsgruppe im Deutschen Bundestag von der Regierung einen genauen Überblick über die vorhandenen und die seit Februar 2022 bestellten Munitionsmengen haben wollen. Doch die vom Verteidigungsministerium erteilten Antworten enthalten so gut wie keine Angaben dazu. Zur Begründung heisst es, es handele sich um Informationen, die «in besonders hohem Masse das Staatswohl berühren und daher selbst in eingestufter Form nicht beantwortet werden können». Das Dokument liegt der NZZ vor.
Regierung «schlägt sich hinter die Büsche»
Für Verteidigungsexperte Hahn sind die neuerlichen Antworten daher «symptomatisch für die Diskrepanz zwischen dem, was die Regierung postuliert, und dem, was sie auf die Strasse bringt». Deutschland habe bei der Munitionsbeschaffung ein weiteres halbes Jahr «verschlafen».
Ingo Gädechens, Haushalts- und Verteidigungsexperte der Christlichdemokraten, klagte, die Regierung Scholz «schlägt sich hinter die Büsche, indem sie auf Geheimhaltung verweist». Es sei inakzeptabel, dass das Parlament im Dunkeln gelassen werde darüber, wie viel Munition die Bundeswehr in den kommenden Jahren benötige, gleichzeitig aber das dafür benötigte Geld genehmigen solle.
In der Tat lassen die Antworten die Bundesregierung, vor allem aber das Verteidigungsministerium einmal mehr schlecht dastehen. Es ist aus Sicherheitsgründen noch nachvollziehbar, dass konkrete Umfänge vorhandener Munition nicht beziffert werden. Doch andere Aussagen lassen daran zweifeln, dass die «Ampel» in Berlin den Ernst der sicherheitspolitischen Lage voll erkannt hat.
Darauf lässt etwa die Antwort auf die Frage schliessen, welche Planungen die Regierung habe, um Verträge mit der Rüstungsindustrie einzugehen, die langfristige Fertigungskapazitäten für Munition garantieren. In Anbetracht des absehbar weiter hohen Munitionsbedarfs der Ukraine und vieler Nato-Staaten sowie der leeren Lager der Bundeswehr könnte dies eine sinnvolle Massnahme sein, um den von der Nato geforderten Vorrat für 30 Kriegstage in Deutschland in den kommenden Jahren sicher auffüllen zu können.
Doch das Verteidigungsministerium teilte dazu mit, dass derartige Planungen nicht bestünden. Als Grund führt es aus, die «Vorhaltung von Fertigungskapazitäten wäre ein Paradigmenwechsel im gegebenen ordnungspolitischen Rahmen und in letzter Konsequenz ein Einstieg in eine Staatswirtschaft». Deutschlands Wirtschaft orientiere sich jedoch an Marktperspektiven und Renditeerwartungen. Ihre Produktionskapazitäten würden durch konkrete Aufträge und mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartende Aufträge begründet.
Munitionsproduktion bleibt den Marktgesetzen überlassen
Damit macht die deutsche Regierung deutlich, dass sie die für die Sicherheit des eigenen Landes, aber auch die für den Verteidigungskampf der Ukraine so essenzielle Munitionsproduktion weiter den Gesetzen des freien Marktes überlassen will. Sie kommt dabei zu einem widersprüchlichen Schluss. Einerseits stellt sie fest, dass es bei einzelnen Komponenten wie Treibladungspulver und Sprengstoff durch die «aktuell stark ansteigende Nachfrage zu weiter ansteigenden Lieferzeiten» komme. Andererseits geht sie davon aus, dass die gestiegene Nachfrage nach Munition in Europa «zu einer effektiveren Auslastung bestehender Fertigungskapazitäten» führe und «marktwirtschaftliche Anreize zu deren Ausbau» setze.
Mit welchen Engpässen und Schwierigkeiten die Munitionsherstellung derzeit zu kämpfen hat, sollte der Bundesregierung indes hinlänglich bekannt sein. Auf dem «Munitionsgipfel» Ende November war das Bundeskanzleramt dazu im Gespräch mit sieben deutschen Rüstungsunternehmen.
Seitdem dürfte der Regierung klar sein, dass sich beispielsweise viele Pulver- und Sprengstoffproduzenten, bei denen die deutschen Munitionshersteller bisher einkauften, direkt oder indirekt in chinesischer Hand befinden und diese Firmen seit geraumer Zeit nicht mehr an westliche Munitionshersteller liefern. So wurde es zumindest vor dem Gipfel von deutschen Rüstungsunternehmen kolportiert. In einer Antwort der Bundesregierung an die Union im Bundestag heisst es indes, «bedeutsame Abhängigkeiten von chinesischen Zulieferern sind in diesem Bereich nicht bekannt».
Doch das stimmt nicht. Die Haltung chinesisch geführter Unternehmen führt dazu, dass sich die verbliebenen europäischen Sprengstoff- und Pulverhersteller vor Aufträgen kaum retten können. So kalkulieren deutsche Munitionsproduzenten derzeit mit einer Lieferzeit für Sprengstoff von zwei bis drei Jahren. Der deutsche Rüstungskonzern Rheinmetall hat darauf reagiert und vor wenigen Monaten für 1,2 Milliarden Euro den spanischen Munitions- und Sprengstoffhersteller Expal gekauft. Ausserdem will das Unternehmen in Sachsen eine Pulverfabrik bauen.
Trägheit der Bundesregierung gefährdet deutsche Sicherheit
In Anbetracht des weltweit massiv gestiegenen Munitionsbedarfs und der langen Lieferzeiten gefährde die Trägheit der Bundesregierung bei der Munitionsbeschaffung inzwischen die Sicherheit Deutschlands. So stellt es die Union dar. Doch es waren die von der christlichdemokratischen Kanzlerin Angela Merkel geführten Regierungen, die über zwei Jahrzehnte die Bundeswehr vernachlässigt haben.
Vor sechs Jahren hat die damalige Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen bei einem Treffen der Nato-Verteidigungsminister in Brüssel einer Tischvorlage über das Nato-Planungsziel zugestimmt. Damit verpflichtete sich Deutschland, der Allianz bis Ende 2031 für den Kriegsfall folgende militärische Fähigkeiten zur Verfügung zu stellen: drei Heeresdivisionen mit zehn Kampfbrigaden, zwei multinationale Air Groups, 15 Kampfschiffe, dazu Logistik, Sanitäter und weitere Kräfte.
Davon ist Deutschland heute meilenweit entfernt. Selbst wenn es die Waffensysteme für diese Truppen geben sollte, fehlt doch die Munition. So sollen etwa die 15 Kampfschiffe, also Fregatten und Korvetten, im Kriegsfall mindestens dreimal voll aufmunitioniert (Grundbeladung) in See stechen können. Doch je nach Einsatzrolle reicht der Vorrat an Flugabwehr- und Seezielflugkörpern, an Munition für Schiffsgeschütze und an Minen gerade einmal, um jedes Schiff einmal voll aufzumunitionieren.
Ähnlich dramatisch sieht es nach NZZ-Recherchen auch in der Luftwaffe und im Heer aus. So verfügt die Luftwaffe gerade einmal über etwas mehr als 100 Mittelstreckenraketen «Meteor», die im Luftkampf mit gegnerischen Flugzeugen gebraucht werden. Nicht besser steht es mit der Munition zur Bekämpfung von Bodenzielen aus der Luft. Von 600 Marschflugkörpern «Taurus», beschafft vor zirka zehn Jahren, sind derzeit nur etwa 150 einsatzbereit.
Katastrophaler Munitionsbestand bei der Artillerie
Im Heer spricht beispielsweise die Artillerietruppe seit Jahren von einem «katastrophalen Munitionsbestand». So soll es für die gut einhundert Panzerhaubitzen 2000 derzeit zirka 9000 Granaten mit Suchzünder (SMArt 155) und zirka 10 000 konventionelle Sprenggranaten geben. Zur Einordnung: Die Ukraine hat nach Angaben von Kriegsbeobachtern wie dem österreichischen Generalstabsoffizier Markus Reisner in den weniger intensiven Kampfperioden täglich etwa 4000 bis 6000 Sprenggranaten verschossen.
Nicht besser sieht es bei der Raketenartillerie aus. Diese Waffengattung spielt im Krieg in der Ukraine seit Beginn eine immense Rolle. Das von den USA gelieferte «Himars»-System half den ukrainischen Truppen im vergangenen Sommer entscheidend, die Russen zu stoppen und an einigen Frontabschnitten zurückzuschlagen. Auch die Bundeswehr hat ein System, das mit «Himars» nahezu identisch ist. Dafür hatte sie ungefähr 1200 Lenkkörper beschafft und vor gut vier Jahren nochmals 900 weitere nachgeordert.
Einen Teil dieser Raketen gab das deutsche Heer im vergangenen Jahr an die Ukraine ab, die ihrerseits nach Angaben von Militärexperten zwischen Juli und September 2022 täglich zwischen zwölf und 24 dieser Raketen verschoss. Das machte in Summe über drei Monate 1000 bis 2000 Raketen. Die Bundeswehr hat bis heute keinen dieser Flugkörper nachbestellt.