Zitat von Gast am 29. September 2023, 06:07 Uhr
Migration: Scholz spricht Machtwort: Deutschland gibt Asylblockade in der EU auf
Polen, Ungarn, Tschechien und einigen anderen Ländern sind die vorgeschlagenen Regeln beim Asylrecht nicht hart genug. Foto: dpadata-portal-copyright=© Bereitgestellt von Handelsblatt
Außenministerin Baerbock lehnte eine wichtige EU-Verordnung ab, damit drohte der ganzen Asylreform die Blockade. Nun hat sich der Kanzler eingeschaltet – und entschieden.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) setzt sich mit einem Machtwort über die Einwände der Grünen gegen die geplante Reform des europäischen Asylrechts hinweg.
Deutschland werde einen Kompromiss nicht aufhalten, erfuhr das Handelsblatt aus Regierungskreisen. Der Kanzler habe die Grünen über seine Entscheidung am Mittwoch im Kabinett informiert, hieß es.
Damit scheint in Brüssel der Weg für die sogenannte EU-Krisenverordnung frei zu sein, über die die Innenminister der Mitgliedstaaten am Donnerstag beraten wollen. Diese soll in Extremsituationen greifen, etwa dann, wenn andere Staaten versuchen, Migranten gegen Europa zu „instrumentalisieren“ – so wie es der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko im Herbst 2021 getan hat.
Der Entwurf sieht vor, die Rechte von Flüchtlingen im Krisenfall erheblich einzuschränken. So sollen noch mehr Menschen in Lagern festgehalten werden dürfen, bis zu acht Monate lang.
Auf diese Weise will die EU verhindern, dass ein „Massenzustrom“ dazu führt, „dass das Asyl-, Aufnahme- oder Rückführungssystem eines Mitgliedstaats nicht mehr funktionsfähig wäre“, wie es in dem Verordnungstext heißt.
Asylreform: Grüne lehnten Krisenverordnung der EU ab
Deutschland ist nach Angaben Faesers einer der „zentralen Antreiber dieser Reform“. Genau das wolle sie jetzt auch am Donnerstag mit ihren europäischen Amtskolleginnen und Amtskollegen deutlich machen. Die Neuordnung der europäischen Asylpolitik sei „der wichtigste Schritt zu einer deutlichen Begrenzung irregulärer Migration“.
Doch die Grünen waren bis zuletzt anderer Ansicht. Die Krisenverordnung lehnten sie entschieden ab. Sie sei genau das Gegenteil von dem, was man mit der geplanten Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (Geas) eigentlich erreichen wolle, nämlich Ordnung, sagte Irene Mihalic, parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen im Bundestag, noch am Mittwochmorgen. „Mit einem Nein zur Krisenverordnung blockieren wir das Chaos.“
Verwirrung um Position der Grünen im Streit um Asylreform
Mihalics Argumentation: Wenn die Krisenverordnung Teile des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems wieder außer Kraft setzen könne, „dann haben wir wahrscheinlich am Ende die Situation, dass Anreize gesetzt werden für die Weiterleitung großer Zahlen unregistrierter Flüchtlinge Richtung Deutschland“. Dies könne die Bundesregierung nicht verantworten.
Ähnlich hatte sich Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) vor ein paar Tagen geäußert – und damit in Brüssel erhebliche Verwirrung gestiftet.
Denn zuvor hatte Deutschland der Krisenverordnung aus humanitären Bedenken die Zustimmung verweigert. So begründeten auch die Grünen im Europaparlament ihre Ablehnung. Der grüne Migrationspolitiker Erik Marquardt etwa beklagte die „Legalisierung von Leid“. Auch Damian Boeselager (Volt), der sich im EU-Parlament der Grünenfaktion angeschlossen hat, kritisierte, dass der Vorschlag darauf hinausliefe, „Gefangenenlager für Asylbewerber“ einzurichten.
Für südeuropäische Länder wie Italien ist die Regelung von Krisenfällen dagegen von entscheidender Bedeutung. Ohne sie steht der gesamte Kompromiss infrage, mit dem die EU-Staaten im Juni eine siebenjährige Selbstblockade in der Migrationspolitik überwunden hatten. Bundeskanzler Scholz sprach damals von einer „historischen Einigung“, die zeige, „dass die EU ihre Differenzen auch bei den kontroversesten Themen überwinden kann“.
Asylreform der EU: Keine Mehrheit ohne Deutschland
Nun versucht der Kanzler, seine Koalition mit einem Machtwort auf Linie zu bringen. Dass dies nötig war, liegt an den Mehrheitsverhältnissen im europäischen Rat, in dem die EU-Staaten organisiert sind. Ohne deutsche Zustimmung wäre die Krisenverordnung wohl gescheitert.
Mit Polen und Ungarn lehnen zwei EU-Länder die europäische Asylpolitik grundsätzlich ab. Auch Staaten wie Österreich und Tschechien sperrten sich gegen die Reform. Das bedeutet: Die nötige qualifizierte Mehrheit kann nur zustande kommen, wenn Deutschland sich bewegt.
Die Migrationskrise hat sich in den vergangenen Monaten erheblich verschärft und in mehreren Mitgliedstaaten Sorgen vor Stimmzuwächsen rechtspopulistischer, antieuropäischer Parteien bei den Europawahlen im kommenden Juni geschürt. Gerade deshalb sei es wichtig, dass die EU in der Migrationsfrage Handlungsfähigkeit beweise, hieß es in Brüssel.
Seit der Flüchtlingskrise von 2015 ist kaum ein Thema in Europa politisch so aufgeladen wie die Migration. Etliche Versuche, einen Kompromiss zu finden, scheiterten. Erst in diesem Jahr gelang ein Durchbruch. Im Sommer einigten sich die Innenminister auf eine Reform, der zufolge jeder Ankömmling an den EU-Außengrenzen strikt überprüft und registriert wird. Wer nur eine geringe Aussicht auf Schutz in der EU hat, muss sein Asylverfahren an den Außengrenzen durchlaufen und wird bei einer Ablehnung direkt zurückgeschickt.
Die EU verspricht sich davon eine erhebliche Entlastung und mehr innereuropäische Solidarität bei der Verteilung von Geflüchteten. Doch als Deutschland kurz nach dem Kompromiss von Anfang Juni ankündigte, die ergänzend geplante Krisenverordnung nicht mittragen zu wollen, geriet die gesamte Konstruktion ins Wanken.
Machtwort von Kanzler Olaf Scholz überrascht die Grünen
Scholz erkannte die Gefahr offenbar. Es ist das zweite Mal in der Regierungszeit der Ampelkoalition, dass der Kanzler ein Machtwort gegen die Grünen spricht. Ende Oktober vergangenen Jahres ließ Scholz in einem Brief an seine Minister wissen, dass die drei verbleibenden Atommeiler bis Mitte April weiterlaufen könnten – gegen den Widerstand der Grünen. Der Konflikt hatte sich über Monate hingezogen.
Die Entscheidung des Kanzlers in der Asylreform traf die Grünen unvorbereitet. In der Fraktion war man sich bis zuletzt sicher, dass die Krisenverordnung in der jetzigen Form nicht kommen werde.
Die ablehnende Haltung der Grünen-Spitze ist ein Zugeständnis an den linken Flügel, der mit zunehmendem Unmut auf die Regierungsbeteiligung der Grünen schaut. Migration und eine humane Flüchtlingspolitik gehören zu grünen Kernthemen.
Nun steht die Partei düpiert da. Eine Resthoffnung richtet sich noch auf mögliche Gespräche zwischen dem Bundesinnenministerium und der spanischen Ratspräsidentschaft. Aus der Fraktion hieß es, es sei gut, dass es „neue Verhandlungen gebe, um die Schwachstellen der Krisenverordnung zu beheben”. Ob diese aber „mehrheitsfähige Fortschritte ergeben, muss sich zeigen”.
Der Spielraum für Zugeständnisse an die Grünen ist auf EU-Ebene stark begrenzt. Man könne vielleicht ein paar Details ändern, aber „wenn man sich zu weit auf eine Seite zubewegt, verliert man die andere Seite“, sagte ein EU-Diplomat, der in die Verhandlungen involviert ist.
Die Bundesinnenministerin, die am Mittwoch auch Kontrollen an den Grenzen zu Tschechien und Polen ankündigte, richtet den Blick schon nach vorn – und unterstreicht die Bedeutung des Asylkompromisses: „Nur wenn künftig die Außengrenzen geschützt werden, wird das Europa der offenen Grenzen im Inneren noch eine Zukunft haben“, sagte Faeser am Mittwoch. Es gehe darum, die „zentrale Errungenschaft“ für die Bürgerinnen und Bürger und für Handel und Wirtschaft in der EU zu erhalten.
Auch die wirksame und dauerhafte Entlastung der Kommunen in Deutschland gelinge nur mit dem gemeinsamen europäischen Asylsystem, fügte die Ministerin hinzu: „Denn nur so wird die Verantwortung für Geflüchtete in Europa gerechter verteilt.“
Bevor die Reform in Kraft treten kann, muss Position der Mitgliedstaaten mit der des EU-Parlaments und der EU-Kommission in Einklang gemacht werden, dafür gibt es in Brüssel das sogenannte Trilog-Verfahren.
Das EU-Parlament hatte vergangene Woche klargestellt, dass es die Verhandlungen über die Asylreform erst aufnehmen werde, wenn sich der Regierungen auf die Krisenverordnung verständigt haben. „Das europäische Parlament kann nicht in Gespräche eintreten, solange nicht alles auf dem Tisch liegt“, bekräftige der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei, Manfred Weber, am Mittwoch.