Viele Unternehmen sorgen sich, dass sie künftig nicht genügend erneuerbar erzeugten und bezahlbaren Strom bekommen könnten. Foto: dpadata-portal-copyright=© Bereitgestellt von Handelsblatt
Die Debatte um zu hohe Energiepreise in Deutschland entzweit Wirtschaft und Bundesregierung. Es geht um den Fortbestand der Koalition – und die Zukunft der deutschen Industrie.
Der Streit um einen staatlich subventionierten Industriestrompreis für Deutschland spitzt sich zu. In Teilen der Industrie sorgt vor allem die anhaltende Ablehnung vonseiten der FDP und Finanzminister Christian Lindner für Unverständnis.
„Der Finanzminister spart am falschen Ende“, sagt der Chef der Münchener Wacker Chemie, Christian Hartel, dem Handelsblatt. Ein zeitlich begrenzter Industriestrompreis werde sich letztlich volkswirtschaftlich bezahlt machen. „Deshalb müsste der Finanzminister eigentlich der Erste sein, der sich dafür ausspricht.“
Das Thema ist der nächste große Konflikt in der zerstrittenen Ampelregierung: Die Grünen machen sich mit Wirtschaftsminister Robert Habeck seit Monaten für eine staatlich gestützte Senkung der hohen Elektrizitätspreise stark, mit der energieintensive Industrie in den nächsten Jahren beim grünen Umbau gestützt würde. Die FDP sperrt sich gegen die teure Maßnahme, auch der Industrieverband DIHK hat Bedenken gegen einen subventionierten Strompreis.
Damit nimmt die SPD-Fraktionsführung eine deutlich stärker fordernde Haltung ein als Bundeskanzler Olaf Scholz, der bislang zumindest den Eindruck erweckt, gegen einen Industriestrompreis zu sein.
Industriestrompreis rückt Grundzwist der Bundesregierung in den Fokus
Jetzt ist die Frage, wie sich Olaf Scholz künftig in der Debatte positioniert. Er hält eine „Dauersubvention mit der Gießkanne“ für falsch. Was auf den ersten Blick nach einer Ablehnung des Konzepts der Grünen klingt, lässt sich auf den zweiten Blick mit den Forderungen der SPD-Fraktion in Einklang bringen: Denn dort geht es ebenso wie bei den Vorstellungen der Industrie um eine zeitlich klar begrenzte Förderung.
„Wenn ich den Bundeskanzler beim Wort nehme, kann ich ganz entspannt bleiben, denn er hat von Dauersubventionen gesprochen, die ja ökonomischer Unfug wären“, sagt der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil (SPD). „Dem stimme ich zu. Nur, dass es darum nicht geht. Aus meiner Sicht ist das letzte Wort in dieser Frage tatsächlich noch nicht gesprochen.“
Der Industriestrompreis rückt den immer problematischer werdenden Grundzwist der Bundesregierung einmal mehr in den Fokus: Der Finanzminister drängt darauf, die Schuldenbremse einzuhalten. Aber große Transformationsprojekte wie die Energiewende erfordern nach Meinung von Grünen und Teilen der SPD hohe staatliche Fördergelder.
Bei dem Streit geht es politisch auch um das Fortbestehen der Ampelkoalition – und wirtschaftlich aus Sicht vieler Akteure um eine Grundsatzentscheidung für die Zukunft der deutschen Industrie.
Wacker Chemie: Investitionen in deutsche Solar-Wertschöpfungskette auf der Kippe
Wacker-Chef Hartel sagt: „Die kommenden Jahre werden anstrengend. Es gibt zwei Varianten, damit umzugehen: Entweder man schreckt vor den Kosten zurück, oder man begreift das als große Chance, um unser Land mit neuen Technologien nach vorn zu katapultieren.“
Hartel droht explizit nicht mit dem vielgefürchteten Thema Abwanderung. Die Chemiewerke in Deutschland seien für Jahrzehnte konzipiert, mit vielen Verflechtungen zwischen Zulieferern und Herstellern. „Wir können nicht einfach umziehen.“ Aber: „Wenn wir etwas Neues aufbauen, überlegen wir uns genau, wo die Rahmenbedingungen am besten sind.“
Wacker Chemie produziert Polysilizium – ein Produkt, aus dem sich Computerchips, aber auch Solarzellen herstellen lassen. Im Chipbereich haben die Münchener einen Marktanteil von 50 Prozent. „Wir sind noch in der Lage, aufgrund der Qualität unseres Materials trotz der hohen Kosten angemessene Preise zu erhalten. Deshalb bauen wir diesen Bereich in Deutschland aus.“
Aber im Solarbereich habe China einen Marktanteil von 90 Prozent. „Wenn wir in Europa und Deutschland eine Solar-Wertschöpfungskette aufbauen wollen, brauchen wir einen günstigen Strompreis. Sonst ist ein Ausbau in diesem Bereich für uns absolut nicht machbar, und auch der Betrieb bestehender Kapazitäten ist in Gefahr.“
Mit seinem Appell stößt Hartel in die gleiche Richtung wie vor wenigen Tagen eine Allianz großer Industriegewerkschafen wie der IG BCE, IG Metall und des Deutschen Gewerkschaftsbunds sowie Wirtschaftsverbänden mehrerer Branchen. Auch sie hatten in einem gemeinsamen Papier einen Industriestrompreis gefordert.
„Wenn wir auf die Auswirkungen eines zu hohen Strompreises warten, ist es zu spät“
Ähnlich äußerte sich Weil: „Wir hätten in den vergangenen Monaten einige Investitionsvorhaben mehr realisieren können, wenn wir Klarheit für Investoren hätten, dass wir in Deutschland verlässliche Industriestrompreise haben werden.“
Beispielsweise habe eine Papierfabrik in der niedersächsischen Stadt Varel „unter den Bedingungen, die wir derzeit nun einmal haben“, Abstand von einem neuen, geplanten Standort in Wilhelmshaven genommen.
Weil sagte, es gehe bei der Energiepreisfrage nicht nur um bestehende Industrie, sondern auch um große Ansiedlungschancen für Zukunftsindustrien wie beispielsweise die Batteriezellproduktion. So eine Chance könne man nutzen oder eben nicht. „Ich glaube, dass in diesen Monaten ökonomisch Weichen gestellt werden, die weit über die nächsten Monate hinausreichen“, so Weil.
Tim Meyerjürgens, Deutschlandchef des Übertragungsstromnetzbetreibers Tennet, schätzt das Thema Energiepreise als entscheidend für den Erhalt der Industrie ein. Im Gespräch mit dem Handelsblatt sagte er: „Wenn wir warten, bis wir die Auswirkungen eines zu hohen Strompreises sehen, ist es zu spät. Industrie, die weg ist, kommt nicht wieder.“ Seiner Einschätzung nach wird sich der Strombedarf in Deutschland bis 2045 verdreifachen.
Langfristig werde günstiger Strom aus erneuerbaren Energien den Wirtschaftsstandort sichern, gibt sich Meyerjürgens überzeugt. „Aber wir müssen gewährleisten, dass wir in der Übergangsphase nicht so hohe Strompreise haben, dass Firmen abwandern und es später gar keinen Wirtschaftsstandort Deutschland mehr gibt.“
FDP: Industriestrompreis paradox
Doch auf der Gegenseite mehrt sich der Protest gegen die staatliche Strompreissubvention. Der FDP-Fraktionsvize und Haushaltsexperte Christoph Meyer sagte dem Handelsblatt: „Was SPD und Grüne mit ihrem Industriestrompreis machen wollen, ist paradox.“ Erst habe das Abschalten der Kernkraftwerke den Strom verteuert. Jetzt solle eine grundgesetzliche Notlage konstruiert werden, um den Strompreis schuldenfinanziert dauerhaft zu subventionieren. „Das ist wie der Versuch, ein Symptom zu lindern, das man selbst hervorgerufen hat.“
Auch aus der Wirtschaft gibt es Stimmen gegen einen Industriestrompreis, der ja nur für bestimmte Betriebe gelten soll. Die Deutsche Industrie- und Handelskammer unterstrich am Donnerstag ihre Bedenken gegen eine Bevorzugung bestimmter energieintensiver Firmen. Eine Senkung der Stromsteuer und eine schnellere Ausweitung des Stromangebots seien die bessere Alternative, heißt es. Davon könnte die deutsche Wirtschaft in der gesamten Breite profitieren.
Der Kritik schließen sich selbst Unternehmer an, die energieintensiven Industrien wie der Chemie nahestehen. „Ich bin gegen einen Industriestrompreis“, sagte Stefan Messer, Aufsichtsratschef des Industriegaseherstellers Messer Group, dem Handelsblatt. „Es ist keine langfristige Strategie zum Erhalt der Industrie. Viel besser ist es, mit voller Kraft für die Bereitstellung preiswerter Energie zu sorgen.“ Auch Messer hält Steuersenkungen für geeigneter.
25 bis 30 Milliarden Euro für Industriestrompreis bis 2030
Trotz aller Kritik: Angesichts der lauter werdenden Forderungen nach einem Industriestrompreis hoffen Befürworter wie Wacker-Chef Hartel auf einen konkreten Plan für einen Industrie- oder Transformationsstrompreis bis Ende des Jahres.
Der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck hat bereits im Mai ein erstes Konzept für solch einen staatlich geförderten Preis für energieintensive Unternehmen vorgelegt. Darin war die Rede von sechs Cent pro Kilowattstunde Strom – ein Cent mehr als jetzt von der SPD-Fraktion gefordert. Im zweiten Halbjahr 2022 bezahlten Industrieunternehmen im Durchschnitt 19,86 Cent pro Kilowattstunde. Die Kosten für sein Konzept beziffert Habeck bis 2030 auf 25 bis 30 Milliarden Euro. Viel Geld angesichts der harten Debatten um die Schuldenbremse.
Industriestrompreis: SPD will Sechs-Punkte-Plan Anfang der Woche beschließen
Für die Bundesregierung gilt es jetzt, ihre unterschiedlichen Grundsatzvorstellungen übereinzubringen. Die SPD will Anfang nächster Woche auf ihrer Klausurtagung in Wiesbaden ihr Konzept zum Industriestrompreis und ihren Sechs-Punkte-Plan beschließen.
In dem Plan fordert die Bundestagsfraktion neben einem Transformationsstrompreis Maßnahmen in verschiedensten Themenbereichen, um die Wirtschaft digitaler und klimaneutral zu machen.
Die Vizevorsitzende der SPD-Fraktion, Verena Hubertz, sagt: „Um unsere wirtschaftliche Stärke zu sichern, brauchen wir weiterhin massive staatliche und private Investitionen: in neue Industrieansiedlungen ebenso wie in Forschung und Entwicklung, in die Transformation bestehender Unternehmen ebenso wie in Start-ups, die zu Dax-Konzernen von morgen werden können.“ Die SPD setze auf eine aktive Industriepolitik, die die Ansiedlung von Zukunftsbranchen wie Mikroelektronik, Windkraft, Photovoltaik oder Batteriezellen unterstütze.
Besonders fördern will die SPD aber Investitionen in Klimaschutzmaßnahmen. „Die mit dem Wachstumschancengesetz geplante Klima-Investitionsprämie ist dafür ein wichtiger Baustein, den wir weiter stärken wollen“, so Hubertz. „Die Investitionsprämie muss dabei so ausgestaltet sein, dass sie schnell und auch für mittelständische Unternehmen einen wirksamen Anreizeffekt für klimafreundliche Zukunftsinvestitionen gibt.“
Dieses Paket, so heißt es in dem Papier, solle „im Rahmen der letztlich zur Verfügung stehenden Mittel umgesetzt werden“. Eine Formulierung, die den Knackpunkt der Ampeldebatte umschreibt – und weiteren Diskussionsstoff für die Kabinettsklausur der Bundesregierung auf Schloss Meseberg in der kommenden Woche schafft.