Kanzler Olaf Scholz und AfD-Vorsitzender Tino Chrupalla (v.l.). Foto: dpa Picture-Alliance data-portal-copyright=© Bereitgestellt von Wirtschaftswoche
Die Ampelkoalition als Berliner Kindergartenkabinett. Es drohen zwei Jahre Boulevardtheater fürs jeweilige Stammpublikum – und eine Fortsetzung der AfD-Festspiele.
Man kann es bald wirklich nicht mehr hören, lesen, schreiben: Die Ampel wollte „mehr Fortschritt wagen“ und ließ sich für einen neuen politischen Stil feiern; man versicherte sich wechselseitig des Respekts vor den konträren Positionen der Partner und versprach den Deutschen, die Summe rot-grün-gelber Einzelanliegen zu hebeln; die Aufgabe sei groß (Robert Habeck) – und das Land könne sich nach 16 vermerkelten Jahren darauf verlassen, dass es keiner „Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners“ mehr zum Opfer falle, sondern künftig von „der größten politischen Wirkung“ profitieren werde (Olaf Scholz).
Die Wahrheit ist: Finanzminister Christian Lindner (FDP) hat vor ein paar Monaten die Kindergrundsicherung von Familienministerin Lisa Paus (Grüne) rüde ausgebremst und es genossen, die Kollegin dabei ziemlich blöd aussehen zu lassen. Jetzt, wen wundert’s, rächt sich Paus und grätscht brutal Lindners Steuerentlastungspläne für die Wirtschaft ab – auch wenn sie dabei abermals blöd aussieht, zutiefst kindisch nämlich, und dabei der Ampel den Start in die zweite Regierungshalbzeit vermiest. Mein Förmchen, dein Förmchen. Berliner Kindergartenkabinett.
Auf diese Koalition können die Deutschen nicht mehr bauen
„Das hat mich sehr fassungslos gemacht, dass es sofort mit Streit weitergeht“, sagt SPD-Chef Klingbeil, wie immer bemüht, den sorgenden Erzieher zu mimen: Wir auch, lieber Lars, wir auch. Aber menno, der schon halbstarke Jürgen will sich das nicht bieten lassen und teilt sofort gegen den kleinen Lars aus auf X, formely known as Twitter: „In der Tat, hat sich über die Sommerpause wenig geändert. Im Zweifel ist die SPD immer auf der Seite der FDP.“ Wie gemein!
Nein, auf diese Koalition können die Deutschen nicht mehr bauen. Schon gar nicht im Sinne des Lateinischen „coalescere“, was so viel bedeutet wie „zusammenwachsen“ und „gedeihen“, also einen Prozess des Verbindens und Verschmelzens bezeichnet. Die Ampel hat sich nach der krachenden Niederlage der Armin-Laschet-Union im Herbst 2021 in einer kurzen Phase des irrationalen Überschwangs befunden und gleich in den ersten Findungswochen ihr Gruppenkohäsions-Maximum erreicht – der Rest, wir erleben es, ist ein unaufhaltsamer Zerfallsprozess, den auch keine öffentlichen Scheinschulterschlüsse, Kanzlermachtworte oder Mesebergklausuren mehr werden aufhalten können.
Zu groß ist der kulturelle Ekel, den vor allem Liberale und Grüne füreinander empfinden. Zu tief gekränkt sind die Grünen von der sozialliberalen Front, die sich in den vergangenen sechs Monaten gegen sie gebildet hat, von der Missgunst des Kanzler(amte)s und seines Adjutanten im Finanzministerium. Zu groß ist die Schadenfreude darüber, dass die je anderen beiden Parteien in Umfragen noch ein bisschen schlechter wegkommen als man selbst. Anders gesagt: Die Deutschen müssen sich auf zwei lange Jahre des politischen Boulevardtheaters gefasst machen, der Ränke- und Intrigenspiele, des obstruktiven Miteinanders – und der vereinten Gegnerschaft.
Lesen Sie auch: Klimakrise war gestern
Die Alternative für Deutschland (AfD) dürfte es freuen. Sie findet inzwischen viel Zuspruch, weil sie rechtsextrem ist und obwohl sie rechtsextrem ist, das ist wohl der Schlüssel zum Verständnis ihres jüngsten, abermaligen Aufschwungs: Sie versammelt Gesinnungs- und Protestwähler hinter sich, Überzeugte und vom politischen Restangebot Unüberzeugte. Das ist auch deshalb alarmierend, weil man bei einer Addition der Extremwähler, Protestwähler, Kleinparteienwähler und Nichtwähler inzwischen leicht auf 50 Prozent der Deutschen kommt, die dem politischen Betrieb so fern stehen, dass sie von ihrem grundsätzlichen Einverständnis mit der Demokratie nicht einmal mehr alle vier Jahre Zeugnis abgeben wollen.
Eine frische Umfrage der Körber-Stiftung bestätigt soeben den Befund: 54 Prozent der Deutschen entwickeln inzwischen ein „weniger großes“ oder „geringes“ Vertrauen in ihre Demokratie – im Herbst 2021 waren es nur ein knappes Drittel. Und sogar 71 Prozent sind der Meinung, führende Leute in Politik und Medien lebten in ihrer eigenen Welt, schauten auf den Rest der Bevölkerung herab.
Schon Angela Merkel glaubte, die AfD wegignorieren zu können
Umso irritierender, dass die Ampel sich offenbar auch eines Interesses an der inhaltlichen Auseinandersetzung mit der AfD enthoben meint. Schon Angela Merkel glaubte, die AfD gleichsam wegignorieren zu können. Unter Scholz verlegt sich die Form der politischen Distanzgewinnung nicht mehr von der Kraft des besseren Arguments zur demonstrativen Missachtung – sondern von der diskursiven Begründung zur juristisch bewehrten Drohung.
Das Problem: Wenn die AfD als Verdachtsfall vom Verfassungsschutz nicht nur beobachtet wird, sondern der Verfassungsschutz seine Beobachtung auch noch permanent zur Protokoll gibt; wenn SPD-Chefin Saskia Esken ein Verbotsverfahren gegen die Partei nicht mehr ausschließen mag und Innenministerin Nancy Faeser dem thüringischen AfD-Chef Björn Höcke die Rückkehr in den Schuldienst verweigern will – dann könnte leicht der Eindruck entstehen, man traue sich nicht mehr zu, den Zulauf zur AfD im Wege des politischen Wettstreits zu stoppen.
Rhetorische Fallbeilurteile unterstreichen den Eindruck. Wer die AfD im Handumdrehen als „europafeindlich“ markiert, (Arbeitgeber-Chef Rainer Dulger) oder als Partei, die „unseren Wohlstand aufs Spiel setzt“ (BDI-Geschäftsführerin Tanja Gönner); wer sie als Garanten der „Verarmung“ bekämpft (CSU-Chef Markus Söder), sollte sie je an den Schalthebeln der Macht sitzen oder wer sie umgekehrt wie Scholz „ganz zuversichtlich“ belächelt als politische Scheinkraft, die „bei der nächsten Bundestagswahl nicht besser abschneiden wird als bei der letzten“ (10,3 Prozent) – der riskiert mit seinen Einsatz-Ohrfeigen nicht nur, der AfD viel mehr oder weniger Bedeutung beizumessen als ihr gebührt, sie künstlich aufzublasen oder dreiaffengleich kleinzureden, sondern auch den Vorwurf, er lenke ab von den Widersprüchlichkeiten der regierenden Migrations-, Europa-, Energie- und Wirtschaftspolitik.
Um es klar zu sagen: Die AfD ist anno 2023 noch weit entfernt davon, den Wohlstand dieses Landes aufs Spiel setzen zu können – dafür ist derzeit immer noch allein die Ampel zuständig. Sie täte daher gut daran, mehr in die Kohärenz ihrer Wirtschaftspolitik als in Gedanken an ein Verbot der politischen Abbruchunternehmer zu investieren – (nur) dann schrumpft auch die AfD wieder auf Zwergengröße zusammen: 4,5 Prozent ist das Ziel! Illusorisch? Ach was. Die meisten Bürger in Deutschland wünschen sich noch immer einen Staat, der sie möglichst nicht behelligt (etwa im Heizungskeller) und schon gar nicht gesinnungsethisch betümelt (sie wie die Höckes und Weidels dieser Welt) – und der ansonsten schlicht funktioniert, wenn man ihn braucht: als Garant von Sicherheit und Ordnung – und als Dienstleister, der ihnen bei Bedarf das Leben erleichtert: Wozu sonst halten sie sich diesen Staat? Wofür sonst überweisen sie ihm ihre Steuern? Warum sonst bezahlen sie Parteien und Politiker?
Mehr Exzellenz wagen – das ist das eine. Das andere, das einfache, bringt vielleicht niemand in diesen Wochen so gut auf den Punkt wie Herbert Reul (CDU) aus der schönen Kleinstadt Leichlingen, fernab von Berlin: „Wir dürfen den Menschen nicht zu viel versprechen“, denn „wir Politiker haben schon viel zu oft nicht geliefert“. Der Innenminister von Nordrhein-Westfalen ist überzeugt, dass der Staat sich weitgehend zurückziehen muss auf seine basalen Aufgaben, weil „der normale Bürger viel normaler ist als wir glauben“.
Die Deutschen, so Reul, wollen keinen Rechtsstaat, der Deals mit mächtigen Konzernen oder mit kriminellen Bossen von Familienclans abschließt. Sie wollen Ämter, die reibungslos Dinge für sie erledigen. Wollen unbehelligt Schwimmbäder besuchen. Und sicher U-Bahn fahren können. „Läuft der Alltag rund und sicher, sind die Menschen auch für Veränderungen zu gewinnen“, sagt Reul mit Blick auf die anstehenden Transformationsaufgaben und den Aufstieg der AfD: „Probleme benennen, Schritt für Schritt bearbeiten – und nie vorgeben, etwas hundertprozentig lösen zu können – das ist im Wirbel der Zeit das Fundament von allem.“