Beim Berliner Büro der China-Denkfabrik Merics stellte Aussenministerin Annalena Baerbock am Donnerstag Deutschlands erste China-Strategie vor. Britta Pedersen / DPA© Bereitgestellt von Neue Zürcher Zeitung Deutschland
Schon der Ort der Verkündung war ein Signal. Aussenministerin Annalena Baerbock stellte Deutschlands erste nationale Strategie im Umgang mit China nicht in ihrem Ministerium oder den Räumen der Bundespressekonferenz vor, sondern beim «Mercator Institute for China Studies» (Merics). Die Denkfabrik unterliegt seit über zwei Jahren Sanktionen von Chinas Kommunisten. Die Botschaft ist eindeutig: In Zukunft nimmt Berlin weniger Rücksicht auf das Befinden Pekings.
Vor allem in den Wirtschaftsbeziehungen zum Reich der Mitte soll sich einiges ändern. «Wir können uns einfach kein zweites Mal, das leisten, was wir uns durch den russischen Angriffskrieg leisten mussten», sagte Baerbock am Donnerstag. «Nämlich über 200 Milliarden Euro gesamtgesellschaftlich dafür aufzuwenden, dass wir uns aus einer Abhängigkeit befreit haben.»
Die neue Strategie buchstabiert aus, was die «Ampel» schon länger kommuniziert: Die Interessen Deutschlands und jene deutscher Unternehmen sind nicht deckungsgleich. Der Staat wird in Zukunft weniger Risiken des China-Geschäfts übernehmen und bei einseitigen Importabhängigkeiten soll gegengesteuert werden.
Unternehmen müssen Risiken vermehrt selbst tragen
China produziere etwa 96 Prozent des weltweiten Galliums stellte Baerbock gleich zu Beginn ihrer Rede klar. Erst vor wenigen Tagen schränkte Peking den Export des seltenen Rohstoffes ein, der unter anderem zur Herstellung von Bildschirmen benötigt wird. Diese und ähnliche Abhängigkeiten nutze China für die Durchsetzung politischer Ziele, ist in der Strategie festgehalten.
Daher vertrat Baerbock wieder einmal das Credo des «de-risking», der Risikominimierung im wirtschaftlichen Umgang mit China. Einer Abkopplung («decoupling») vom chinesischen Markt erteilte sie, wie Kanzler Olaf Scholz, eine Absage.
Ein zentrales Instrument hierbei sind die staatlichen Investitionsgarantien. Diese sind Versicherungen, die der deutsche Staat Unternehmen ausspricht, die im Ausland operieren. Die Firmen zahlen dafür eine Gebühr, sind aber bei politischen Risiken wie Enteignungen oder einem militärischen Konflikt abgesichert.
«In guten Zeiten auf die unsichtbare Hand des Marktes zu vertrauen und in schwierigen Zeiten, in Krisenzeiten nach dem starken Arm des Staates zu verlangen – das wird auf Dauer nicht funktionieren», sagte Baerbock. Nur um noch deutlicher nachzuschieben: «Deshalb werden Unternehmen, die sich in hohem Masse vom chinesischen Markt abhängig machen, in Zukunft das finanzielle Risiko verstärkt selbst tragen müssen.»
Konkret ist in der Strategie eine Deckelung der Investitionsgarantien festgeschrieben, so wie sie Wirtschaftsminister Robert Habeck bereits im vergangenen November angekündigt hatte. Unternehmen müssen geopolitische Risiken stärker internalisieren, staatliche Investitionsgarantien sollen die Summe von drei Milliarden Euro pro Unternehmen pro Land nicht übersteigen.
Kann China auch in Zukunft Hafen-Anteile kaufen?
Auch chinesische Investitionen in Deutschland nimmt die Strategie in den Blick. Im vergangenen Jahr war im Kabinett ein Streit um eine Beteiligung der chinesischen Reederei Cosco an einem Terminal des Hamburger Hafens entbrannt. Am Schluss setzte sich der Kanzler durch, die Chinesen konnten mit einer Minderheitsbeteiligung in Höhe von 24,99 Prozent einsteigen.
«Dem Schutz Kritischer Infrastrukturen, zu denen insbesondere die Telekommunikations-, Daten-, Energie- und Verkehrsinfrastruktur zählen, kommt eine wichtige Bedeutung zu», heisst es in der Strategie. Was das allerdings konkret bedeutet, bleibt offen. In dem Strategiedokument verweist die Regierung auf ein noch zu verabschiedendes Gesetz, das definieren soll, «welche Sektoren sowie welche Unternehmen und Einrichtungen zu den Kritischen Infrastrukturen gehören.»
SPD und Grüne verfolgen unterschiedliche Chinapolitik
Wie bei der Cosco-Beteiligung offensichtlich wurde, haben Grüne und SPD bei der China-Politik grundsätzlich andere Prioritäten. Während Baerbocks Partei Menschenrechte und Sicherheit wichtig sind, fürchten Sozialdemokraten die wirtschaftlichen Einbussen bei einem konfrontativen China-Kurs.
Ein im November geleakter Entwurf der China-Strategie aus dem Auswärtigen Amt schlug noch einen sehr viel schärferen Ton als das am Donnerstag veröffentlichte Dokument an.
Nun ist in der Strategie festgehalten, dass sich die Regierung der «möglichen wirtschaftlichen und sozialen Folgewirkungen» neuer Regulierungen von ausländischen Direktinvestitionen bewusst sei. Auch auf die anschliessende Passage wird vor allem das Kanzleramt besonders Wert gelegt haben: «Ausserhalb des Investitionsprüfverfahrens nutzen wir alle bestehenden, wirtschaftlich sinnvollen und nachhaltigen Möglichkeiten vollumfänglich, um Standorte und Arbeitsplätze zu sichern.»
Der SPD-Aussenpolitiker Nils Schmid stellte in der anschliessenden Podiumsdiskussion klar, welche Punkte der Kanzlerpartei in der China-Strategie besonders wichtig sind: Die industriepolitische Stärkung des Standort Deutschlands sowie ein «abgestuftes de-risking», also keine allzu strenge Kontrolle von Wirtschaft und Investitionen aus China.
Bei Taiwan widerspricht Deutschland Macron
Deutschlands Partner in Asien wie Südkorea oder Japan wird vor allem die unmissverständliche Reaktion Berlins auf die zunehmenden Aggressionen Pekings im Südchinesischen Meer sowie in der Strasse von Taiwan beruhigen. Zum Thema Taiwan hält die Strategie fest: «Eine militärische Eskalation würde auch deutsche und europäische Interessen berühren.»
Damit setzt sich Deutschland klar von der aussenpolitischen Position Frankreichs ab. Im April hatte der französische Präsident Emmanuel Macron auf dem Rückflug aus China gesagt, dass Europa bei dem Thema Taiwan riskiere, in Krisen hineingezogen werden, «die nicht unsere sind».
Auf die Umsetzung kommt es an
In der ersten deutschen China-Strategie steht wenig, was man nicht so schon von «Ampel»-Ministern in den letzten Monaten gehört hätte. Dennoch ist die Strategie in Teilen konkreter als die enttäuschende Nationale Sicherheitsstrategie und dazu ein Zeugnis des veränderten Blicks der grössten Volkswirtschaft Europas auf China. Das Dokument benennt klar «unfaire Praktiken» Pekings, die eine «Gefahr» für Deutschland sind. Worte, die der früheren Bundeskanzlerin Angela Merkel niemals über die Lippen gekommen wären.
Es kommt allerdings auf die Umsetzung der Strategie an. Denn wenn als ein Zaubermittel für mehr Diversifizierung neue Freihandelsabkommen wie jenes mit den Mercosur-Staaten genannt werden, muss man sich fragen, wie realistisch das ist. Das Abkommen mit dem lateinamerikanischen Wirtschaftsbund wird bereits seit 1999 verhandelt, ohne dass es bisher ratifiziert wurde.
Oder wenn in der Strategie versprochen wird, die freiheitliche demokratische Grundordnung gegen chinesische Einflussnahme zu schützen, fragt man sich, warum Deutschland bei der Pressekonferenz anlässlich der deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen Chinas Wunsch respektierte, keine Fragen von Journalisten zuzulassen.
Auch die Wissenschaft moniert die fehlenden Handlungsperspektiven, die sich aus dem Strategiedokument ergeben. Am Donnerstag sagte die Ökonomin Katrin Keim vom Kieler Institut für Weltwirtschaft: «Der häufige Einsatz der Standardformulierung ‹sich für Ziel X einzusetzen›» zeige «mangelndes perspektivisches Denken». Wie der deutsche Industriestandort in Zukunft konkret verteidigt werde, bleibe im Verborgenen.
Deutschland hat in seinem Verhältnis zu China am Donnerstag offiziell einen neuen Weg beschritten. Wie es das Ziel erreicht, bleibt unklar.