Die EU-Kommission will die Schuldenregeln in Europa reformieren. Scharfe Kritik an ihrem Vorschlag kommt jetzt vom Bundesrechnungshof. Es sei „de facto“ ein Abschied von den Maastricht-Kriterien, kritisieren die Kontrolleure. Bundestag und Regierung müssten jetzt ein Signal senden.
Beim Ringen um neue EU-Schuldenregeln spielt Finanzminister Lindner eine Schlüsselrolle dpa/Olivier Matthys© Bereitgestellt von WELT
Der Bundesrechnungshof übt scharfe Kritik am Vorschlag der EU-Kommission zur Reform der Schuldenregeln in Europa. „Es fehlen verbindliche Vorgaben, die den Abbau zu hoher Schulden zügig und nachhaltig sicherstellen“, heißt es in einem Prüfbericht an den Haushaltsausschuss des Bundestages, der WELT vorliegt.
Durch den Reformvorschlag würden langfristig stabile Finanzen innerhalb der Europäischen Union infrage gestellt. Der Rechnungshof fordert die Bundesregierung auf, sich konsequent für „ausreichend ambitionierte und verbindliche“ Vorgaben zur Reduzierung der Schuldenstände der EU-Mitgliedsländer einzusetzen.
Ab 2024 sollen die Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspaktes, der 1997 zu Vermeidung von Schuldenkrisen in Europa eingeführt wurde, wieder aktiviert werden. Sie sind seit 2020 ausgesetzt – zunächst wegen der Corona-Pandemie, dann wegen des Ukraine-Kriegs. Wobei auch davor immer wieder gegen die sogenannten Maastricht-Kriterien verstoßen wurde, ohne dass die Kommission entsprechende Strafen verhängt hätte.
Während hoch verschuldete Staaten wie Griechenland und Italien, aber auch Frankreich und Spanien, eher flexible Sparziele wollen, drängen andere EU-Staaten wie Deutschland, Österreich, Dänemark und viele osteuropäische Länder auf messbare Regeln.
Der Bundesrechnungshof sieht in dem von der EU-Kommission Ende April präsentierten Reformvorschlag eine Reihe von Schwachstellen. Vor allem fehle die Festlegung auf einen „endlichen und überschaubaren Zeitraum“, in dem die Schuldenstandsquote auf den Maastricht-Referenzwert von 60 Prozent des Bruttoinlandsproduktes zurückgeführt werden muss.
Vermeidung einer Schuldenkrise in Europa
Welcher Zeitraum es maximal sein sollte, müsse politisch entschieden werden. „Der Bundesrechnungshof hat aber erhebliche Zweifel, dass ein Zeitraum von 60 Jahren oder mehr angemessen ist“, heißt es in dem Bericht.
Ein Problem sieht der Bundesrechnungshof auch darin, dass die EU-Kommission bei der Frage, ob überhaupt ein übermäßiges Defizit vorliegt und ein entsprechendes Verfahren eingeleitet wird, einen „erheblichen Ermessensspielraum“ hat. Die Beamten der obersten Bundesbehörde mit Sitz in Bonn sehen das ursprüngliche Ziel des Stabilitäts- und Wachstumspaktes in Gefahr, nämlich die Vermeidung einer Schuldenkrise in Europa.
„Ein Regelwerk, das den Schuldenabbau zeitlich derart ausufern ließe, würde das Signal senden, dass sich die Europäische Union de facto vom Maastricht-Schuldenstandskriterium und damit von langfristig tragfähigen öffentlichen Finanzen in den Mitgliedstaaten verabschiedet“, lautet der Schlusssatz des Prüfberichts.
Die Bundesregierung habe in ihrem Vorstoß zwar „eine bessere Durchsetzung der Regeln, einschließlich einer regelbasierten Einleitung und Durchführung von Defizitverfahren“ gefordert, räumt der Rechnungshof ein. Bislang löse der Vorschlag der EU-Kommission diese zentrale Forderung aber nicht ein. Das Konzept der Bundesregierung sieht beispielsweise vor, dass Mitgliedstaaten mit hohen Schuldenständen die Verbindlichkeiten jährlich in Höhe von einem Prozent ihrer Wirtschaftsleistung abbauen müssen.
Bundesrechnungshof sieht Parlamentarier in der Pflicht
Der Bundesrechnungshof geht von „herausfordernden Verhandlungen“ in den kommenden Monaten aus und sieht deshalb nicht nur die Bundesregierung, sondern auch die Parlamentarier in der Pflicht. „Der Deutsche Bundestag sollte daher die Position der Bundesregierung stärken, indem er ihr in einer Stellungnahme Leitplanken für diese Verhandlungen gibt“, heißt es in dem Bericht.
Gestützt auf einen solchen Beschluss könne sich die Bundesregierung dann mit noch mehr Nachdruck dafür einsetzen, „verbindliche Mindestvorgaben im Regelwerk zu verankern sowie Auslegungs- und Ermessensspielräume der EU-Kommission zu begrenzen“.
Unterstützung dafür kommt aus den Reihen der größten Oppositionsfraktion im Bundestag. „Wir teilen die Bedenken des Bundesrechnungshofs, dass der Vorschlag der EU-Kommission die Einhaltung der Maastricht-Kriterien nicht sicherstellt“, sagt Christian Haase, haushaltspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, gegenüber WELT.
Um das Verhandlungsmandat der Bundesregierung zu stärken, sollten die Koalitionsfraktionen den Vorschlag aufgreifen und in einem Bundestagsbeschluss Positionen schriftlich fixieren. Die Union werde sich einem solchen Vorgehen nicht verschließen. „Angesichts der monetären und politischen Bedeutung halte ich ein solches Vorgehen für zwingend erforderlich“, sagt Haase.
Aus den Reihen der Koalitionsfraktionen äußert sich zunächst nur Otto Fricke, haushaltspolitischer Sprecher der FDP, zu der Rechnungshof-Forderung. „Ich finde viele der Anregungen des Hofes richtig“, sagt Fricke. Für eine Stellungnahme des Bundestages sehe er derzeit aber keine Mehrheit in der Koalition.