Der Bund häuft immer mehr Schulden an. Doch geht es dabei mit rechten Dingen zu? Experten haben Zweifel, nun wird das Bundesverfassungsgericht die Sache klären. Wertet es das Verhalten der Regierung als „Trickserei“, wäre der aktuelle Haushaltsstreit nichts gegen das, was dann käme.
Es ist das erste Mal, dass sich die Verfassungsrichter mit der 2009 beschlossenen Schuldenbremse beschäftigen Uli Deck/picture alliance/dpa© Bereitgestellt von WELT
Manch Ampel-Politiker wird sich, genervt vom aktuellen Haushaltsstreit, fast schon wehmütig an das Jahr 2021 erinnern. Damals hatte die Corona-Pandemie das Land fest im Griff, was ein Problem war. Aber es musste nicht gespart werden. Wegen der Krise war genug Geld da, die Schuldenbremse ausgehebelt. Kredite in Höhe von bis zu 240 Milliarden Euro durfte die damalige Bundesregierung 2021 aufnehmen, mehr als jede andere zuvor. Am Ende war das mehr Geld, als für Impfstoff, Tests und Unternehmenshilfen überhaupt ausgegeben werden konnte. Statt 240 Milliarden Euro wurden eigentlich nur 155 Milliarden Euro gebraucht.
Die gefundene Lösung: Mittels eines Nachtragshaushalts wurden 60 Milliarden Euro in den Energie- und Klimafonds verschoben, der heute Klima- und Transformationsfonds heißt, kurz KTF. Aus Corona-Hilfen wurden Klima-Hilfen. Die Kreditzusagen waren so auf Jahre hinaus gesichert, der künftige grüne Klimaminister Robert Habeck zufrieden und der liberale Finanzminister in spe, Christian Lindner, nahm es hin – inklusive Vorwürfen der Trickserei.
Dass die Sache rechtlich heikel war, das wussten die Beamten im Finanzministerium von Anfang an. Sie waren sich sicher, dass jemand juristisch dagegen vorgehen würde. Es sollte nicht lange dauern. Die CDU/CSU-Fraktion im Bundestag tat es im Frühjahr 2022. Nun beschäftigt sich der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit dem 60-Milliarden-Euro-Manöver.
Im Zentrum steht die Frage: Wie haltlos darf in Notsituationen regiert werden? Je nachdem, zu welchem Urteil die Richter kommen, könnte der aktuelle Spardruck noch gewaltig steigen. Es ist das erste Mal, dass sich die obersten deutschen Verfassungsrichter mit der nach der Finanzkrise 2009 beschlossenen Schuldenbremse beschäftigen.
Ihr Urteil, das noch eine Zeit auf sich warten lassen wird, kann nicht nur die Haushaltssorgen von SPD, Grünen und FDP in den nächsten Jahren deutlich verschärfen. Es wird auf Jahre hinaus den Umgang mit der Schuldenbremse bestimmen – in die eine oder die andere Richtung. Entweder im Sinne all jener, die einen laxen Umgang unterstützen und am liebsten noch mehr Schulden machen würden. Oder im Sinne derer, die in der Schuldenbremse ein unerlässliches Instrument zur Disziplinierung der Politik sehen – angesichts der nach oben geschossenen Staatsverschuldung mehr denn je.
Haushaltsstreit in der Ampel droht zu eskalieren
„Wenn die Schuldenbremse im Grundgesetz effektiv eine Funktion haben soll, dann muss sie auch tatsächlich irgendeine Bremswirkung entfalten“, sagt Mathias Middelberg, stellvertretender Fraktionschef der Union und zuständig für Haushaltsthemen. Die Kreditermächtigungen aus dem Jahr 2021 müssten für den konkreten Fall einer „außergewöhnlichen Notsituation“ im Sinne des Artikels 115 Abs. 2 Satz 6 des Grundgesetzes genutzt werden. Der Notfall sei die Corona-Pandemie gewesen, nicht der Klimawandel.
Das von der Ampel-Koalition angeführte Argument, die 60 Milliarden Euro würden für nachzuholende Corona-Investitionen gebraucht, hält Middelberg für ein „Schein-Argument“. Zumal auch der zeitliche Bezug fehle. Die 60 Milliarden Euro seien 2021, als die Schuldenbremse ausgesetzt war, verbucht worden, würden aber erst in den kommenden Jahren ausgegeben.
„Kommt der Bundesfinanzminister mit dieser neuen Buchungssystematik durch, ist die Schuldenbremse des Grundgesetzes faktisch erledigt“, sagt er. Dann könnten in Notlagenjahren wie zuletzt willkürlich Milliardensummen auf Vorrat aufgenommen werden, um damit Ausgabenwünsche in den Nicht-Notlagenjahren zu finanzieren.
Die Bundesregierung sieht das anders. Es gebe sehr wohl einen direkten Zusammenhang zur Corona-Pandemie, verteidigt sie das Manöver. Denn ihretwegen seien in den Jahren 2020 und 2021 rund 53 Milliarden Euro weniger investiert worden als noch 2019 erwartet. „Insofern erweisen sich die für mehrere Jahre vorgesehenen 60 Milliarden Euro keinesfalls als außer Verhältnis zu den Krisenfolgen“, heißt es in der 72 Seiten umfassenden Stellungnahme der Bundesregierung aus dem Mai vergangenen Jahres.
Es gelte, die krisenbedingt eingebrochene Investitionstätigkeit zu beleben und die notwendige Transformation zu einer klimaneutralen Volkswirtschaft zu befördern. Verfasst wurde die Stellungnahme von den beiden Rechtsprofessoren Alexander Thiele von der Business & Law School in Berlin und Joachim Wieland von der Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer.
Wie viele von den 60 Milliarden Euro bislang ausgegeben wurden und damit zur Stabilisierung der Wirtschaft nach der Pandemie beigetragen haben, vermag das Bundesfinanzministerium nicht zu sagen. Ein Blick auf den Füllstand des KTF weckt Zweifel, dass es um einen größeren Betrag geht. Denn der Pegel sank zuletzt nicht, er stieg sogar. Nach Zahlen des Ministeriums waren Ende vergangenen Jahres knapp 91 Milliarden Euro in dem Sondertopf – fünf Milliarden Euro mehr als Anfang 2022.
Das liegt daran, dass sich der Fonds nicht nur aus Schulden speist, hinzu kommen laufende Einnahmen aus dem Handel mit Emissionsrechten und dem CO₂-Preis. Außerdem brauchen viele Investitionen einen gewissen Vorlauf. Die Mittel können also schon verplant, aber noch nicht abgeflossen sein. Trotz dieser unterschiedlichen, zum Teil gegensätzlichen Effekte lässt sich zumindest sagen: Die Zahlen liefern kaum Argumente dafür, dass das Geld dringend gebraucht wurde, um während der Corona-Krise ausgefallene Investitionen nachzuholen.
Was aber geschieht, wenn die Verfassungsrichter zu dem Schluss kommen sollten, dass die Umwidmung der Kreditermächtigungen von Corona zu Klima verfassungswidrig war? Die Antwort der Rechtsexperten der Bundesregierung klingt lapidar: Dies habe „keine, jedenfalls keine schweren Nachteile“, schreiben sie in ihrer Stellungnahme. Dies kann sich allerdings nur darauf beziehen, wie ein festgestellter Verstoß gegen das Grundgesetz wieder geheilt werden könnte, nicht darauf, welche Mühen das für die künftige Haushaltspolitik mit sich brächte.
Die Richter könnten laut Thiele und Wieland anordnen, dass bereits eingegangene finanzielle Verpflichtungen bei der Schuldenbremse erst dann berücksichtigt werden, wenn die Mittel tatsächlich abfließen. Oder die Richter könnten vorschreiben, dass die unzulässige Verschuldung prioritär abgebaut werden muss. „Damit würden dann zwar andere politische Prioritäten zurückgestellt. Das wäre jedoch eine notwendige Folge der dann verbindlich festgestellten Verfassungswidrigkeit des Zweiten Nachtragshaushalts 2021“, heißt es in der Stellungnahme.
Es gäbe weniger Geld, noch weniger, würde manch Ampel-Politiker sagen. Der aktuelle Haushaltsstreit wäre nichts gegen das, was dann käme.