Auf dem Tag Industrie gibt es nur ein kurzes höfliches Lob für Olaf Scholz. Dann bricht der Ärger der Branche über ihn herein. Statt des angekündigten Wirtschaftswunders lähme die Politik den Standort Deutschland. Der Kanzler zeichnet die Lage deutlich positiver.
Schätzen Deutschlands aktuelle Lage ziemlich unterschiedlich ein: Bundeskanzler Olaf Scholz (l, SPD) und Siegfried Russwurm, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie picture alliance/dpa© Bereitgestellt von WELT
Dass es kein Heimspiel werden würde für Olaf Scholz beim Tag der Industrie, hatte der Kanzler wohl schon vor seinem Auftritt geahnt. Seit Monaten wird in der deutschen Industrie über die immer größeren Standortnachteile wie die hohen Energiepreise geklagt, viele Unternehmen drohen offen mit Abwanderung oder zumindest damit, künftig neue Fabriken nur noch im Ausland eröffnen zu wollen.
Entsprechend fiel das höfliche Lob des Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Siegfried Russwurm, zu Beginn seiner Rede kurz aus: Man unterstütze die Bundesregierung bei ihrer Hilfe für die Ukraine und begrüße auch, dass sich die Regierung gegen eine komplette Abkopplung von China entschieden habe. Dennoch rücke der „Systemwettbewerb zwischen China und demokratischen Staaten“ immer mehr in den Fokus.
Das Motiv der Rede des obersten Industrievertreters ist klar: Deutschland muss schnell handeln, aber die Regierung rede bislang vor allem. Statt der benötigten fünf neuen Windräder sei in den vergangenen Monaten durchschnittlich eben nur eines gebaut worden. „Das Delta zwischen Ambition und Umsetzungspraxis wird täglich größer“, kritisierte Russwurm.
Er stimme der Analyse des Kanzlers zu, wenn er sage, Deutschland habe sich „mit Vorschriften eingemauert“, aber nun müsse eben auch die Umsetzung der angekündigten Gegenmaßnahmen folgen. „Vieles von dem, was Sie sagen, findet sich nicht im Handeln der Bundesregierung wieder“, stellte Russwurm fest.
Auch wenn es einigen Unternehmen in der Industrie noch immer gut gehe, nehme die Investitionszurückhaltung in Deutschland zu. „Momentan beschäftigen sich immer mehr Unternehmen bis weit in den Mittelstand damit, einen Teil ihrer Wertschöpfung aus Deutschland weg zu verlagern“, sagt der BDI-Präsident. Man sei sich zwar im Ziel einig, dass man die Industrie auf eine klimaneutrale Produktion umstellen wolle, trotzdem müsse die Regierung schnell die Voraussetzungen schaffen, dass die Unternehmen zu wettbewerbsfähigen Preisen mit Energie versorgt werden. „Der Strom muss 24 Stunden am Tag fließen – auch bei Dunkelflaute“, mahnte Russwurm.
Dafür müssten schnell nicht nur Stromnetze ausgebaut werden, sondern auch neue Kraftwerke geplant und gebaut werden. Das gehe viel zu langsam voran. „Mit Luftschlössern und Powerpointfolien können wir die Energiewende nicht schultern“, sagte Russwurm.
Gleichzeitig müsse man dafür klare Prioritäten setzen. „Unser Land hat eine lange Agenda, es gibt viel mehr Nachholbedarf als Möglichkeiten und Ressourcen“, sagte der BDI-Präsident. Das Prinzip „Mit dem Kopf durch die Wand“ führe „zu nichts Gutem“. „Wir müssen priorisieren, was dringend ist und was zurückgestellt werden kann, was wir uns leisten können und auf was wir verzichten müssen“, so Russwurm.
Zumindest in diesem Punkt war sich der Industriepräsident mit dem Bundeskanzler einig. Doch Scholz wollte die Verantwortung für die lange Liste der aufgestauten Aufgaben nicht allein auf der Regierung sitzen lassen.
Zwar stelle sich die Frage, „warum so vieles liegengeblieben ist“, gab der Kanzler zu. Aber auch die Wirtschaft habe eben lange nicht auf die nötigen Veränderungen gedrängt: „Der Status quo war bei vielen Unternehmen ziemlich populär“, erinnerte Scholz Russwurm von der Bühne.
Man befinde sich inzwischen in „außerordentlich stürmischen und herausfordernden Zeiten“, nachdem es vorher eine Phase ziemlich bequemer Rahmenbedingungen gegeben habe, Geld habe lange nichts gekostet, die Inflation war niedrig. „Dass eine solche Ausnahmezeit nicht ewig währen würde, war eigentlich klar“, sagte der Kanzler.
Doch inzwischen sei man „vom Reden ins Handeln gekommen“, außerdem habe man „alle Horrorszenarien vermieden, von denen im vergangenen Jahr die Rede war“, sagte Scholz. Es sei eben nicht zu einer Gasmangellage gekommen, eine tiefe Rezession sei vermieden worden.
Drei Prioritäten im Haushalt, ansonsten wird gespart
Doch das sei eben auch mit großen Hilfspaketen in den vergangenen Krisenjahren erkauft worden. Das sei richtig gewesen, aber: „Genauso richtig ist, dass wir diese Ausnahmesituation nicht zum Normalzustand werden lassen.“ Dass man nun wieder sparen und sich nicht alles leisten könne, sei „nach den Ausnahmejahren vielleicht gewöhnungsbedürftig“, so Scholz.
Er nannte drei Prioritäten, an denen sich der nächste Bundeshaushalt ausrichten werde: die Sicherheit des Landes, die Umstellung auf eine klimaneutrale Industrienation und den Erhalt des sozialen Zusammenhalts in Deutschland.
Diese Prioritätensetzung bedeute aber auch: „Manche Subvention und manches Förderprogramm wird auf dem Prüfstand stehen“, sagte Scholz. Gleichzeitig dürfe man die Zukunft des Landes aber auch nicht zu negativ sehen. So entwickle sich Deutschland gerade zu einem gefragten Standort für die Halbleiterfertigung in Europa. „Es läuft gerade alles auf Deutschland zu, das ist mal eine gute Nachricht“, sagte der Kanzler.
Die Probleme, die insbesondere in den vergangenen Wochen und Monaten die Ampelkoalition von einer Krise in die andere taumeln ließen, sind für Scholz nicht mehr als eine Randnotiz. „Dass das nach Jahren des Stillstands nicht ohne Knirschen abgeht, liegt auf der Hand“, sagte der Kanzler. „Wir haben gerade noch rechtzeitig die Kurve gekriegt und jetzt quietscht es ab und zu, weil die Kurve so scharf ist.“