Zitat von Gast am 22. Mai 2023, 08:43 Uhr
Uneinigkeit beim THC-Grenzwert
Bekifft am Steuer? Lauterbach schlittert in nächstes Cannabis-Dilemma
Sollten nach der Cannabis-Legalisierung lockere Regeln beim Autofahren gelten? Union und Ampel streiten sowieso – doch selbst Wissenschaftsexperten sind uneinig.
Berlin – Nach zwei kleinen Bier kann sich ein erwachsener Mann juristisch gesehen ans Steuer setzen. In der Regel ist der Grenzwert von 0,5 Promille dann noch nicht erreicht. Verzichtet er auf Alkohol und hat stattdessen vor einem Tag einen Joint geraucht, ist er dran. So will es das aktuelle Gesetz. Die Ampel denkt laut über neue Regeln nach – klammert das Thema im bisherigen Gesetzesentwurf aber nahezu komplett aus. Auch, weil wissenschaftliche Erkenntnisse rar und selbst die Experten der Grenzwertkommission uneinig sind, wie Merkur-Recherchen zeigen.
Uneinige Cannabis-Grenzwertkommission: „Es gibt keine wissenschaftliche Evidenz“
Karl Lauterbach, Joint im Auto© Jörg Carstensen/picture alliane//Imagebroker/Imago (Imago)
Cannabis und Straßenverkehr werden in einer aktuellen Version des Gesetzentwurfs nur sporadisch behandelt. Die bisherigen Regelungen sollen „evaluiert“ werden, heißt es da. Es fehlen konkrete Angaben, ob und wenn ja, wie der aktuelle Grenzwert angepasst werden soll. Das Papier liegt unserer Redaktion vor. Da es noch in der regierungsinternen Abstimmung ist, kann sich daran noch etwas ändern. Laut Gesundheitsministerium sollen „Fachgremien“ in die Entscheidung miteinbezogen werden. Was sagen die Experten?
Gemeint sein dürfte damit vor allem die Grenzwertkommission (GWK): Ein Beratungsgremium für die Bundesregierung, das den bisherigen Grenzwert im Jahr 2002 festgelegt hat. 20 Jahre später diskutiert die Gruppe über eine mögliche Anpassung. Bisher konnten sich die zehn Mitglieder – überwiegend Rechtsmediziner – aber nicht auf einen THC-Grenzwert einigen.
Der Münchner Rechtsmediziner Matthias Graw warnt vor höheren Grenzwerten und sagt unserer Redaktion: „Es gibt keine wissenschaftliche Evidenz, dass dadurch die Verkehrssicherheit nicht gefährdet wird.“ Cannabis-Konsum betreffe zehn Prozent der Bevölkerung, die Verkehrssicherheit 100 Prozent. Von einer Erhöhung des Grenzwertes würden vor allem Menschen profitieren, die viel konsumieren. „Also diejenigen, die als grundsätzlich fahrungeeignet angesehen werden.“
GWK-Mitglied Volker Auwärter sieht es gänzlich anders. Er ist Laborleiter der Forensischen Toxikologie in Freiburg und kann sich eine Anpassung auf 3,5 Nanogramm vorstellen. „Es gibt aus einer Perspektive der Verkehrssicherheit heraus für mich keine nachvollziehbaren Gründe dafür, dass bei Cannabis eine „Nulltoleranz“ gelten soll, während bei Alkohol ein Risikogrenzwert herangezogen wird“, sagt Auwärter. Wissenschaftlicher Konsens sei es, dass das Risiko, unter Cannabiseinfluss einen Unfall zu verursachen, im Bereich des Risikos bei einer „moderaten Alkoholisierung“ zwischen 0,1 und 0,5 Promille liegt. Seine Erkenntnisse veröffentlichte er zusammen mit anderen Mitgliedern der Grenzwertkommission, unter anderem mit GWK-Chef Stefan Tönnes.
Cannabis-Dilemma um Studien: „Man müsste die Leute abhängig machen“
Vergangenes Jahr bilanzierte der Deutsche Verkehrsgerichtstag, dass der Grenzwert so streng ist, „dass er den Nachweis des Cannabiskonsums ermöglicht, aber nicht zwingend einen Rückschluss auf eine verkehrssicherheitsrelevante Wirkung zulässt.“ Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung der Versicherer, sieht in den aktuellen Regeln deshalb ein „Verbot durch die Hintertür“. Cannabis-Konsum und Fahrzeughaltung schließe sich de facto aus. Denkbar sei eine leichte Anpassung auf drei Nanogramm, wenngleich Brockmann den aktuellen Grenzwert aus Sicht des Unfallschutzes ebenso vertretbar findet. Denn: „Es gibt keine valide Studie, nach der wir sagen können, ab welchem Wert es verkehrsgefährdend ist.“
Warum ist es so schwierig, einheitliche wissenschaftliche Erkenntnisse zu erreichen? Das GWK-Mitglied Thomas Daldrup schrieb dazu in einer Fachzeitschrift: „Die vorhandene Datenlage reicht nicht aus, um auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse Grenzwerte zu definieren.“ Oder wie ein anderes Mitglied im Gespräch mit dem Münchner Merkur sagt: „Man müsste die Leute Cannabis-abhängig machen, um gute Vergleichswerte zu haben.“ Das sei ethisch nicht haltbar und die Anhebung des THC-Grenzwerts insgesamt eine politische Entscheidung, keine wissenschaftliche.
Vergangenes Jahr gab es Gespräche der GWK mit der Bundesregierung, doch seitdem herrscht kaum Kontakt. In den aktuellen Gesetzgebungsprozess scheint die Gruppe bisher nicht miteingebunden, wie GWK-Mitglieder unserer Redaktion erzählen. Vom aktuellen Gesetzentwurf hätte die GWK aus den Medien erfahren. Die Grenzwertkommission ist dem Verkehrsministerium untergestellt. Das Haus von FDP-Minister Volker Wissing erklärte auf Anfrage, die Erkenntnisse der GWK würden „angemessen berücksichtigt“ werden. Die Entscheidung erfolge „auf wissenschaftlicher Basis“. Doch diese Basis scheint aktuell zu fehlen.
Cannabis-Grenzwert: Ampel-Politiker fordern deutliche Anpassung
Im Bundestag steht das Thema ebenfalls auf der Agenda. In den jeweiligen Ausschüssen kriegen sich vor allem Abgeordnete der Union mit den Legalisierungsarchitekten der Ampel in die Haare. „Kein Fahren unter Einfluss von Cannabis“, sagt CSU-Gesundheitspolitiker Stephan Pilsinger dem Münchner Merkur. „Nur weil eine Substanz straffrei erhältlich ist, wird sie nicht automatisch ungefährlich.“
Legalisierungsbefürworter wie der Grünen-Politiker Lukas Benner sehen das anders. Er ist im Rechtsausschuss des Bundestags für Straßenverkehrsrecht zuständig und bringt auf Anfrage eine Anpassung auf 5 Nanogramm ins Spiel. „Wer nicht berauscht ist, sollte auch nicht bestraft werden.“ Ampelkollegin Kristine Lütke, drogenpolitische Sprecherin der FDP, nennt drei bis vier Nanogramm als Ansatzpunkt. „Das ist nicht nur vertretbar, sondern sinnvoll.“ Teils noch höhere Werte forderte einst die Linke. Die AfD lehnt die Cannabis-Legalisierung wie die Union kategorisch ab.
Solange sich die Bundesregierung nicht auf einen neuen Grenzwert einigen kann, bleibt das aktuelle Gesetz. Selbst bei niedrigen THC-Werten können die Behörden bisher eine Medizinisch-Psychologische-Untersuchung (MPU) anordnen. Die als „Idiotentest“ bekannte Prüfung ist schwieriger als gedacht und kostet obendrein mehrere hundert Euro. Florian, 26 und Student aus Bayern, machte mit der MPU bereits Bekanntschaft. Auf einem Festival konsumierte er Cannabis und fuhr einen Tag später mit dem Auto nach Hause. Bereits am Abend vor der Abreise habe er nichts mehr konsumiert. Er geriet in eine Polizeikontrolle. Drogentest positiv, Führerschein weg.