Freut sich auf das grüne Wirtschaftswunder: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) auf der Hannover Messe© dpa
Die Älteren erinnern sich: Die Industrie der Bundesrepublik boomte – Fernseher, Fernreisen und VW-Käfer waren plötzlich für Normalbürger erschwinglich. Sonne statt Sorgen, „Wohlstand für alle“ als Slogan für das Wirtschaftswunder der Fünfziger- und Sechzigerjahre.
Diese Zeiten kommen zurück. Das zumindest verspricht Olaf Scholz. Durch die grüne Transformation der Wirtschaft, also den Umbau von Fabriken und Produkten hin zur Klimaneutralität, seien Wachstumsraten wie zu Zeiten des Wirtschaftswunders möglich, sagt der SPD-Kanzler.
Der Schlüssel für ein mögliches Wirtschaftswunder ist die Industrie. Sie steuert knapp ein Viertel zur deutschen Wirtschaftsleistung bei und hat seit 1990 ihre Treibhausgasemissionen um gut 40 Prozent reduziert. Jetzt kommt die Herkulesaufgabe: Bis zum Jahr 2045 muss sie die verbliebenen 60 Prozent Emissionen einsparen – und die Welt mit so vielen Elektroautos, Wärmepumpen und effizienten Maschinen versorgen, dass der Wohlstand hierzulande steigt und nicht sinkt.
Im Widerspruch zum Kanzler
Am größten sind die Hoffnungen noch im Maschinenbau. Entscheidend für die Branche, die in Deutschland über eine Million Menschen beschäftigt, ist die Frage, ob sie der globale Ausrüster für die Energiewende werden kann oder von der asiatischen und amerikanischen Konkurrenz das Wasser abgegraben bekommt. Die Maschinenbauer hoffen auf gute Geschäfte, weil Kunden und Investoren emissionsarme Produkte und Prozesse erwarten – vor allem rechnen sie mit einem riesigen Markt für grüne Technologien.
Das Beratungsunternehmen BCG taxiert in einer Studie, was auf dem Feld der grünen Technologien zu holen ist: Demnach ist bis 2040 global mit einem Umsatzvolumen von mehr als 25 Billionen Dollar zu rechnen – vor allem für erneuerbare Energien, also Solaranlagen und Windräder mit 9 Billionen Dollar, für Stromnetze mit 7 Billionen Dollar sowie für Energiespeicherung mit 4 Billionen Dollar. Wenn es den Maschinenbauern, die selbst für 0,2 Gigatonnen Emissionen verantwortlich sind, gelingt, sich hiervon ein nennenswertes Stück zu sichern, stehen die Zeichen auf Wachstum.
Deutschland mit „guter Ausgangsposition“ bei grünen Technologien
KfW-Chefvolkswirtin Fritzi Köhler-Geib sagt: „Der globale Markt für grüne Technologien wird Projektionen zufolge bis 2030 um rund 7 Prozent pro Jahr wachsen. Deutschland als zweitgrößter Exporteur von Umwelt- und Klimaschutzgütern mit einem Weltmarktanteil von 12 Prozent hat hier eine gute Ausgangsposition.“ Ein Selbstläufer ist das nicht, wie die traurige Geschichte deutscher Photovoltaikanlagenhersteller zeigt. Sobald neue Technologie zur Massenware wird, bekommt Deutschland Wettbewerbsnachteile.
Auch in der Autobranche werden die Marktanteile wegen des Siegeszugs der E-Autos neu verteilt. Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft hat errechnet, dass sich in dieser Industrie 260.000 Beschäftigte mit Verbrennerantrieben, Antriebsstrang und Abgasreinigung befassen. Ihre Arbeitsplätze sind am stärksten gefährdet – auch weil neue Rivalen wie BYD und Tesla auf den Elektromarkt drängen und den deutschen Markenherstellern Marktanteile streitig machen.
Die China-Probleme von Volkswagen
In China, auf dem größten Automarkt der Welt, steht für Deutschland am meisten auf dem Spiel. Sinnbildlich dafür steht Volkswagen, der größte Autohersteller Europas. Erst 7 Prozent der 8,3 Millionen produzierten Fahrzeuge aus dem VW-Konzern hatten 2022 einen vollelektrischen Antrieb. Dieses Jahr sollen es 10 Prozent werden, 2030 in Europa 70 Prozent, bevor dann schrittweise die letzten Verbrenner auslaufen.
Ob das schnell genug ist, bleibt abzuwarten, denn in der Volksrepublik schmelzen schon jetzt die Marktanteile und Gewinne. Auch in Europa und Amerika müssen die Wolfsburger sich strecken und investieren viele Milliarden Euro, auch um einen möglichst großen Teil der Wertschöpfung für E-Autos abzudecken und in der neuen Mobilität Beschäftigung zu sichern. 670.000 Menschen arbeiten global für VW, mehr als 100.000 davon am Stammsitz Wolfsburg und anderen niedersächsischen Standorten wie Hannover und Emden. Möglichst viele der Stellen sollen erhalten bleiben, auch wenn klar ist, dass die Belegschaft kleiner wird, weil E-Autos sich mit weniger Aufwand herstellen lassen. Etliche Funktionen fallen weg. Aber gleichzeitig entstehen neue, etwa in der Batteriefabrik Salzgitter, die VW für rund 2 Milliarden Euro aus dem Boden stampft.
Während im Maschinenbau und bei den Autoherstellern der Kampf um künftige Marktanteile entscheidend ist, steht für eine andere Schlüsselbranche, die Chemieindustrie, die Frage im Vordergrund, wie sie selbst klimaneutral produzieren soll, ohne dabei unterzugehen. Die gute Nachricht: Schon 2019, bei seiner ersten Analyse dieser Art, konstatierte der Branchenverband VCI, eine klimaneutrale Produktion sei bis 2050 möglich, wenn auch unter erheblichem finanziellen und technologischen Aufwand.
26 bis 40 Milliarden Euro Kosten für Chemiebranche
Ende April hat der Verband die „Roadmap“ leicht angepasst: Die für den klimaneutralen Umbau in Szenarien errechneten Mengen an grünem Strom, grünem Wasserstoff, Biomasse und Kunststoffabfällen fallen nun zwar etwas geringer aus, sie bleiben aber neben den Finanzen die größte Herausforderung. Die Kosten für die Industrie je nach Szenario: 26 bis 40 Milliarden Euro.
Dabei schwingt eine Menge Hoffnung mit, denn noch immer fehlt es an nahezu allem: So wird der Strombedarf der Industrie nach Schätzung des VCI bis 2045 auf rund 500 Terawattstunden steigen. Das ist in etwa so viel wie die aktuelle Stromproduktion von Deutschland, die zudem noch zu erheblichen Teilen fossil erzeugt wird. Der Grünstrom müsse auch für eine ganze Zeit zu einem „Transformationsstrompreis“ von 4 bis 6 Cent je Kilowattstunde zur Verfügung stehen. Wie die Debatte um so einen „Industriestrompreis“ zeigt, ist es bei Weitem nicht sicher, ob der Staat bereit ist, die Energie länger zu subventionieren. Und woher soll all der grüne Wasserstoff kommen? Hinzu kommt, dass neue Technologien für die Produktion, etwa die Elektrifizierung der Großanlagen („Cracker“), kaum über Pilotphasen hinaus sind.
Volkswirtschaftlich macht all das keinen Grund zur Hoffnung. „Eher Schweiß und Tränen als großer Boom“, sagte Ifo-Präsident Clemens Fuest der F.A.Z. kürzlich. Anders als zu Wirtschaftswunderzeiten würden durch die Transformation keine zusätzlichen Produktionskapazitäten in Deutschland geschaffen, es werde bestenfalls ein alter Kapitalstock ersetzt. „Der Wohlstand steigt dadurch nicht.“
KfW-Volkswirtin Köhler-Geib fasst zusammen: „In einer Zeit großer Umbrüche hängen die Wachstumsaussichten in Deutschland davon ab, wie wir die Herausforderungen bewältigen, vor die uns der demographische Wandel, der Klimawandel und die Digitalisierung stellen.“ Und das Kiel Institut für Weltwirtschaft rechnet vor, dass das Produktionspotential in Deutschland im Jahr 2026 knapp 0,8 Prozent betragen wird. Dieses Potential beschreibt, wie die Wirtschaftsleistung bei einer normalen Auslastung wächst. Es wäre dann nur noch halb so hoch wie vor einigen Jahren.