Bundeskanzler Scholz hat die sicherheitspolitische und militärische Handlungsfähigkeit Deutschlands nicht mit Druck verfolgt und fast ein Jahr quasi untätig verstreichen lassen. Das hat damit zu tun, dass sich die deutsche Politik in Punkto Russland in einer gefährlichen Denkblase eingenistet hat.
Bundeskanzler Olaf Scholz. Michael Kappeler/dpa© Michael Kappeler/dpa
Die Zeitenwende, die Bundeskanzler Scholz ankündigte, kommt nicht voran. Zum Jahresende 2022 beklagte die Wehrbeauftragte Eva Högl, dass weder die Strukturen zur rascheren Beschaffung für die Bundeswehr geschaffen worden seien, noch ausreichend Personal rekrutiert wurde – 20.000 Dienstposten seien nicht besetzt – und die Ausstattung sei schlechter als vor dem Krieg.
Damals hatte Heeres-Inspekteur Generalleutnant Alfons Mais gesagt: „Die Bundeswehr, das Heer das ich führen darf, steht mehr oder weniger blank da.“ Nach zehn Monaten Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt, steht die Bundeswehr noch schlechter da.
Högl bemängelt jetzt, es fehle der Bundeswehr „an persönlicher Ausstattung wie Helmen, Rucksäcken, Schutzwesten sowie kleinerem und großen Gerät – von Funkgeräten, Munition bis zu Panzern... Die Bundeswehr hat fast von allem zu wenig."
Deutschland leidet unter seiner sicherheitspolitischen Trittbrettfahrer-Mentalität
Zwar wird immer wieder darauf hingewiesen, dass Deutschland sicher, weil durch die NATO-Verbündeten geschützt sei. Doch ist dies genau die sicherheitspolitische Trittbrettfahrer-Mentalität, die Deutschland schon lange vorgeworfen wird. Gleichzeitig beachtet diese Nachlässigkeit die deutschen Verpflichtungen gegenüber die NATO nicht ausreichend.
Warum hat der Bundeskanzler die sicherheitspolitische und militärische Handlungsfähigkeit nicht mit mehr Druck verfolgt und fast ein Jahr, ein Viertel seiner Regierungszeit, quasi untätig verstreichen lassen?
Eine Antwort findet sich, wenn gefragt wird, auf welchem Weg Scholz meint, dass der Krieg in der Ukraine beendet werden kann. In einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ sagte Bundeskanzler Scholz Mitte Dezember 2022 über die Beendigung des Kriegs: „Russland muss einsehen, dass das so nicht weitergeht. Putin muss den Krieg beenden, Truppen zurückziehen und so die Möglichkeit für eine gegenseitige Verständigung schaffen.“
Die Konstanz, mit der Scholz von „Meinungsverschiedenheiten“ spricht, ist ein bedeutsamer Hinweis darauf, was er wirklich denkt
Die anschließende Frage: „Halten Sie es denn für möglich, dass das 2023 passiert? Und was können Sie dafür tun?“ beantwortete er so: „Wann wir an diesen Punkt gelangen, kann ich heute nicht sagen. Wichtig ist, dass wir trotz der großen Meinungsverschiedenheiten den Gesprächsfaden mit Russland nicht abreißen lassen. Wenn wir nicht sprechen, wird es noch unwahrscheinlicher, dass Russland den Krieg beendet.“
Über die Formulierung, dass es „Meinungsverschiedenheiten“ mit Russland gäbe, ist schon ausreichend Kritik geschrieben worden. Am treffendsten fand ich diejenige, die ausführte, Meinungsverschiedenheiten bestünden, ob Pizza Hawaii sich in den Grenzen des guten Geschmacks bewegt (ich konnte mich der Kritik leider nicht anschließen, weil für mich dabei keine Meinungsverschiedenheiten möglich sind, die Antwort ist eindeutig: nein).
Da Bundeskanzler Scholz auch bei seinem Besuch in Moskau vor dem russischen Angriff auf die Ukraine von „Meinungsverschiedenheiten“ sprach, ist das besonders bemerkenswert. Denn anscheinend hat sich im Denken des Bundeskanzlers mit Russlands Angriff und seiner Zeitenwende nichts derart Gravierendes geändert, dass er sein Vokabular abändern wollte. Und das, wo er tagein, tagaus mit der Beobachtung konfrontiert wird, dass Sprache Wirklichkeit schafft und den Formulierungen deshalb große Bedeutung zukommt, so dass inzwischen Arzt oder Apotheker weichen sollen. Insofern ist die Konstanz, mit der er von „Meinungsverschiedenheiten“ spricht ein bedeutsamer Hinweis darauf, was Scholz wirklich denkt.
Professor Thomas Jäger, Lehrstuhl für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln. Jäger© Jäger
Selbst in der Bundesregierung gibt es keine einheitliche Linie in der Ukrainepolitik
Scholz wies vor der oben zitierten Formulierung darauf hin, die deutsche Unterstützung für die Ukraine würde weiterhin drei Leitlinien folgen, nämlich erstens, die Ukraine nach Kräften zu unterstützten, zweitens, eine direkte Konfrontation der NATO mit Russland zu verhindern und drittens, Alleingänge Deutschlands zu unterlassen.
Offensichtlich aber ist, dass die Unterstützer der Ukraine völlig unterschiedliche Schlüsse aus dem Krieg Russlands gezogen haben, wie es erst vor kurzem deutlich wurde, als die Bundesregierung Polen Patriot-Abwehrsysteme anbot, Polen vorschlug, diese der Ukraine zu liefern, Deutschland dies ablehnte und die USA verkündeten, sie werden die Patriot-Systeme an die Ukraine liefern.
Selbst in der Bundesregierung gibt es keine einheitliche Linie in der Ukrainepolitik, denn FDP und Grüne sprechen gegenüber Scholz in dieser Frage nicht so, als wären sie in einer gemeinsamen Regierung. Grüne und FDP fordern, der Ukraine den Kampfpanzer Leopard 2 zu liefern, Scholz und die SPD lehnen dies ab. Was also ist das Ziel, das der Bundeskanzler mit der Unterstützung der Ukraine verfolgt? Dazu ist das oben zitierte Interview aufschlussreich.
Bundeskanzler Olaf Scholz. Michael Kappeler/dpa© Michael Kappeler/dpa
Scholz hat es bisher abgelehnt, zu formulieren, Russland müsse diesen Krieg verlieren
Denn Scholz hat es bisher abgelehnt, zu formulieren, Russland müsse diesen Krieg verlieren. Abgesehen davon, dass Russland nur der Landraub verweigert werden kann und niemand die Absicht verfolgt, Russland hinter seinen territorialen Grenzen anzugreifen, soll ansonsten mit der Formulierung, Russland müsse den Krieg verlieren, darauf hingewiesen werden, dass die imperialistischen Absichten Russlands von außen mit wirksamer Gegenmacht gegenüber Russland beschränkt werden sollen. Scholz' Formel, Russland dürfe nicht gewinnen, die Ukraine nicht verlieren, hat da einen anderen Zungenschlag, denn hierin steckt, dass Russland zwar eine Niederlage erfährt, aber es soll in seinen Ansprüchen nicht durch Macht beschränkt werden. Es soll die Lage einsehen.
In diese Richtung geht eben auch die oben zitierte Antwort von Scholz. „Russland muss einsehen…“ - und um diese Einsicht zu erlangen, müsse man miteinander sprechen. Nun hat Russland seine Ziele im Krieg von Beginn an stets klar und deutlich formuliert. Sie lauten: die Anerkennung der Annexionen, die Demilitarisierung der Ukraine, der Liquidierung der Eliten und ihrer Unterstützer und die Auslöschung des gegen Russland gerichteten „Ukrainischen“ sowie die Demilitarisierung des Landes.
Es ist deshalb auf den ersten Blick nicht erkennbar, auf welcher Basis Scholz mit der russischen Seite sprechen möchte. Denn diese von Russland jederzeit betonten Ziele nennt er einen Diktatfrieden, den es zu verhindern gilt. Aber wie?
Die Einsicht soll den Krieg beenden, nicht die gegen Russland aufgebotenen Machtmittel
Scholz' Antwort lautet: durch Gespräche, die zu einer Einsicht führen sollen. Darin steckt eine tiefverwurzelte Haltung, die seit über zwanzig Jahren das Denken über internationale Politik in Deutschland dominiert. Sie lautet, dass die internationale Ordnung, die sie prägenden Normen und Regeln durch die Akteure in gemeinsamen Sprechakten konstruiert wird. Wenn Akteure im Diskurs miteinander gemeinsame Haltungen ausprägen, gestalten sie die Wirklichkeit.
Es wäre verwunderlich, wenn Scholz und sein Umfeld nicht von dieser Denkweise beeinflusst worden wären, die Konferenzen und Fachdiskussionen in Deutschland nachhaltig prägte. Was er über die Beendigung des Kriegs sagt, entspricht dieser Denkweise jedenfalls ganz genau. „Russland muss einsehen…“. Die Einsicht soll den Krieg beenden, nicht die gegen Russland aufgebotenen Machtmittel.
Demnach ist es nicht die Macht aus Waffen und Geld, die Realität prägt, sondern es sind die Verabredungen, die von den Akteuren gemeinsam vereinbart werden, es sind die Überzeugungen, die sich kollektiv durchsetzen. Demokratisches Regieren in der internationalen Politik, Normunternehmer und Zivilmacht waren die Stichworte, die in einer aus der Friedensbewegung der 1980er Jahre herrührenden Blase nicht nur diskursbestimmend werden konnten, sondern auch noch den mentalen Schwebezustand mancher Politiker bis heute ausbalancieren.
Die deutsche Politik hat sich in ihrer Denkblase eingenistet - und wundert sich, warum sich die Realität nicht an ihre Einbildung hält
Das hat mit der Realität nichts zu tun. Mit der Wirklichkeit des eigenen Weltbildes und der gewünschten Erwartung, wie die Welt denn sein sollte, allerdings sehr viel. Das ist bei einigen, die Verantwortung für deutsche Politik tragen, anscheinend prägender als der Bezug zur Wirklichkeit. Frei nach dem Motto “Das Sein verstimmt das Bewusstsein" haben sie sich trefflich in ihrer Denkblase eingerichtet und wundern sich, warum sich die Realität nicht an ihre Einbildungen hält.
Ein weiteres Beispiel für diese Betrachtung internationaler Beziehungen war gleich zu Beginn von Scholz' Amtszeit zu beobachten, als er sich lange Zeit weigerte, die Pipeline Nord Steam 2 beim Namen zu nennen. So als würde sie von der Tagesordnung verschwinden, wenn sie ungenannt bliebe.
Auch Scholz' Besuch in China war davon geprägt, denn als wichtigstes Ergebnis, das er seither stets hervorhebt, galt ihm die gemeinsame Erklärung, dass keine Nuklearwaffen eingesetzt werden dürften. So als wäre die Gefahr, indem sie mit Worten gebannt wird, wirklich vorbei.
Freilich ist es positiv, dass China und Deutschland diese Erklärung abgaben. Der Kontrast zur Behäbigkeit, mit der seit 11 Monaten die Bundeswehr ertüchtigt wird, nämlich praktisch gar nicht, lässt die Betonung der gemeinsamen Rede noch greller aufscheinen. Denn in den machtpolitisch relevanten Fragen wurde zwar die Energieabhängigkeit von Russland gesenkt, doch wurde dies weniger als eine sicherheitspolitische denn eine wirtschaftspolitische Aufgabe angesehen.
Deutschlands Verhalten bringt die anderen europäischen Staaten um den Schlaf
Und fraglich ist, ob dies auch ohne den entsprechenden Druck der europäischen Verbündeten so rasch geschehen wäre. Dass Scholz schon jetzt davon spricht, dass es mit einem „zum Frieden fähigen Russland … irgendwann auch wieder ein Miteinander geben“ kann, ist einerseits richtig, weist aber wegen der ausbleibenden Zeitenwende erneut in die Richtung, dass die Bundesregierung die von Russland ausgehende Bedrohung anders bewertet als dies in vielen anderen europäischen Staaten geschieht.
Edward Lucas hat dies auf den Punkt gebracht: Dass Deutschland aus Russlands Verhalten, nicht erst seit 2022, keine Schlüsse zieht, mag das Land gut schlafen lassen. Die anderen europäischen Staaten bringt dieses Verhalten des größten EU-Mitglieds um den Schlaf. Denn sie wissen, dass die neue Europäische Sicherheitsordnung derzeit nicht durch Einsicht, sondern durch Macht und Stärke entsteht.