Experte: Habecks Vorschlag zur Netzreserve ist unseriös. Das könnte Absicht sein© Bereitgestellt von Berliner Zeitung
In Berlin hat Minister Habeck am Montag vorgestellt, welche Folgerungen er aus dem 2. Stresstest zum Stromsystem gezogen hat. Er schlägt vor, „eine neue zeitlich und inhaltlich begrenzte AKW-Einsatzreserve aus den beiden südlichen Atomkraftwerken Isar 2 und Neckarwestheim [zu] schaffen“. Die Anlagen sollen für die Einsatzreserve abgeschaltet und kalt gefahren werden. Die Aktivierung der Netzreserve stellt Habeck sich so vor:
· Bei einer kritischen Entwicklung der Energieversorgung folgt eine vertiefte Analyse mit Bundesnetzagentur und Übertragungsnetzbetreibern
· Gegebenenfalls ergeht ein Vorschlag des BMWK an Bundesnetzagentur, den Abruf der Reserve im Fall der Fälle zu empfehlen
· Entscheidung dann über Regierungsverordnung mit Widerspruchsmöglichkeit des Bundestages
· Schließlich Erteilen der Wiederanfahrgenehmigung durch die zuständige Atomaufsichtsbehörde
Danach erst kann mit den Maßnahmen zum Wiederanfahren begonnen werden.
Habeck erwartet so, dass die Anlagen mit großer Wahrscheinlichkeit keinen Betrieb mehr machen und bis April still stehen verbleiben. Dann solle sie ganz zurückgebaut werden.
Bei einem Inventar von über 300 m³ Kühlmittel müssten riesige Mengen Wasser umgesetzt und wiederaufbereitet werden. In diesem Zustand erfordert dies mindestens eine Woche. Zusammen mit dem von Habeck oben vorgesehenen bürokratischen Hindernislauf vor dem Beginn eines Wiederanfahrens könnten zwei und mehr Wochen zwischen Erkennen des Problems und dem Beginn einer Leistungserzeugung verstreichen. Und wenn in einer besonderen Kältephase, in der typischerweise auch der Stromverbrauch höher liegt, der Kühlturm wegen bis dahin ausgebliebenen Betriebs vereist sein sollte, ginge praktisch gar nichts mehr.
Da sich Notfälle im Netz, wie beispielsweise der Ausfall eines größeren Einspeisers bei angespannter Netzsituation, in der Regel plötzlich ereignen, ist ein Vorschlag, der frühestens zwei Wochen später zusätzlichen Strom bringt, abwegig.
Der Vorschlag weicht auch von den Empfehlungen der Netzbetreiber ab: In der Tabelle zu Empfehlungen der Übertragungsnetzbetreiber am Ende der Sonderanalysen Winter 2022/2023 ist eingetragen, dass die drei Kernkraftwerke mit der im Streckbetrieb maximal möglichen Leistung betrieben werden. Warum es dennoch mit Blick auf die Netzsicherheit vertretbar wäre, faktisch auf die Kraftwerke zu verzichten, wird von Minister Habeck nicht nachvollziehbar oder mit fragwürdigen Argumenten begründet, wie die Bedingungen des Habeck-Plans zeigen
Zum einen ist der Vorschlag menschlich unfair. Es liegt hinsichtlich des Kraftwerkpersonals eine spezielle Situation vor: Wegen der politischen Vorgaben enden die Arbeitsverträge etlicher Mitarbeiter mehr oder weniger kurz nach dem 31.12.2022. Die müssten für Habecks Reservevorschlag bereit sein, ihre Lebensplanung zu ändern. Glaubt Minister Habeck wirklich, das qualifizierte Anlagenpersonal mit der Botschaft motivieren zu können, sie sollten drei Monate aller Wahrscheinlichkeit nach unproduktiv verbringen, der kritischen Energiesituation tatenlos zuschauen und parallel immer gezeigt bekommen, wie politisch unerwünscht ihre Kompetenz ist? Was ist das für ein Menschenverständnis?
Zum anderen ist der Vorschlag wirtschaftlich hanebüchen: Das Halten in der Reserve mit Bezahlen des Personals, Verschieben aller für die Stilllegung geplanten Arbeiten einschließlich der vertraglich gebundenen Firmen mit Konventionalstrafen wegen der Kurzfristigkeit würde zig Millionen Euro pro Anlage kosten, die von der Bundesregierung übernommen werden müssten. Offenbar hat Habeck sich vor der Entwicklung des Vorschlags auch nicht mit den Betreibern wegen Umsetzbarkeit und Folgekosten abgestimmt. Dazu wird auch noch auf die preisdämpfende Möglichkeit der sehr kostengünstigen Stromproduktion dieser KKW verzichtet, deren Erzeugungskosten im Bereich von 2 Cent pro Kilowattstunde liegen. – Wie wichtig ist dem Wirtschaftsministerium eigentlich noch die Wirtschaftlichkeit in dieser angespannten Energiesituation?
Man fragt sich, ob der Vorschlag bewusst so konstruiert wurde, um eine Absage zu provozieren. Damit man anschließend behaupten kann „Ich hätte ja gewollt, aber …“? Oder wurden übers verlängerte Wochenende, als der Vorschlag formuliert wurde, keine Personen befragt, die etwas vom KKW-Betrieb verstehen?
Darüber hinaus macht der Vorschlag Deutschland international unglaubwürdig: Habeck begründet die Begrenzung der Reservehaltung bis April 2023 u.a. so: „Die Situation im Stromsystem in diesem Winter ist nicht mit der im Winter 2023/24 zu vergleichen. …. Wir erhöhen die Gas-Importkapazität über schwimmende LNG-Terminals (FSRU) zum Winter 23/24 so stark, dass keine Gasmangellage an den Gaskraftwerken mehr zu befürchten ist.“
Das bedeutet doch im Klartext: Auf dem Weltmarkt wird LNG anderen „weggekauft“, auch denen, die in der Dritten Welt und Europa weniger Möglichkeiten haben, auf andere Energieträger wie Atomkraft auszuweichen. Es wird berichtet, dass es in Pakistan und anderen südlichen Ländern schon wegen Gasmangel zu Stromabschaltungen kommt. Deutschland verbrennt dafür wieder in wachsendem Umfang Erdgas, statt die einsetzbaren KKW zu betreiben. In einigen europäischen Ländern nimmt ebenfalls Kritik über diese Strategie zu. In Schweden gibt es bereits offenen Unmut, dass 600 MW nach Deutschland fließen, die Preise in Schweden hochgetrieben werden, und schwedische Kohlekraftwerke wieder ins Gespräch kommen – Ist das mit einer „werteorientierten Außenpolitik“ vereinbar?
Wenn man die Pressemitteilung des Wirtschaftsministeriums ganz genau liest, kann man auch erkennen, dass ein wichtiger Grund für die erhofft bessere Situation im übernächsten Winter in der Erwartung liegt, dass französische KKW, die jetzt keinen Strom erzeugen, das dann wieder tun werden. Explizit ist das zwar nicht erwähnt, wohl um die Frage zu vermeiden, welche grüne Logik es hat, auf „deutschen Atomstrom“ zu verzichten, nur um „französischen Atomstrom“ zu beziehen. Meint Habeck, dass französische KKW sicherer seien als deutsche?
Und weiter: Ein anderer von Habeck angeführter Grund für eine veränderte Situation im nächsten Jahr versteckt sich in der Formulierung „Wir steigern bis dahin die Verfügbarkeit … . Das Gleiche gilt für … die Kraftwerkskapazitäten“. Gemeint ist damit, dass alte, stillgelegte Kohlekraftwerke wieder in Betrieb genommen werden, die dann die KKW ersetzen sollen und pro ersetztem KKW über 10 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr zusätzlich in die Atmosphäre abgeben werden. Wie glaubwürdig ist das in der Klimadiskussion?
Warum wird so heftig die Einsicht unterdrückt, dass mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit im nächsten Herbst die Situation wieder ähnlich sein könnte? Redlicherweise muss man doch zugeben, dass ein Ersatz durch Wind, Sonne und Speicherung insbesondere wegen der fehlenden, wirtschaftlich umsetzbaren großtechnischen Speichermöglichkeiten noch Jahre dauern wird. Es ist ja kein Zufall, dass Prof. Monika Grimm, unter den „Wirtschaftsweisen“ Spezialistin für Energiemärkte, kürzlich feststellte, es werde viel Kohleverstromung im System behalten werden müssen, das werde den CO2-Preis nach oben treiben. „Insofern wäre es gut, um diese Effekte abzufedern, die Kernkraft noch ungefähr fünf Jahre laufen zu lassen“. Darf über diese Einsicht erst nach dem 9. Oktober, dem Datum der Landtagswahl in Niedersachsen gesprochen werden? Oder gar nicht, weil ein Weiterbetrieb zwar nicht für die Umwelt, aber für den Zusammenhalt der Grünen problematisch wäre? Soll stattdessen jetzt halb- oder vierteljährlich an akuten Notlösungen rumgebastelt werden?
Schließlich: Fast am Ende seiner Pressemitteilung äußert Habeck: „Die Einsatzreserve soll im Energiesicherungsgesetz geregelt werden. Sie setzt zudem voraus, dass keine Abstriche von den üblichen Sicherheitsanforderungen gemacht werden. Entsprechend ist eine belastbare Prüfung des Sicherheitszustandes nötig.“ – Dass keine Abstriche an Sicherheitsanforderungen gemacht werden, ist unstrittig. Umso mehr verwundert es, dass genau die Institution, die von der Bundesregierung für eine Beratung in kerntechnischen Sicherheitsfragen vorgesehen und berufen wurde, die Reaktor-Sicherheitskommission, von Habecks Kabinettskollegin, Umweltministerin Lemke, trotz wiederholter Hinweise bis jetzt nicht in die Bewertung des Sicherheitszustands eingebunden wurde. – Warum? Weil diese Kommission sich in den vergangenen Jahren an die satzungsgemäße Aufgabe einer wissenschaftlich fundierten Beratung der Regierung gehalten hat und für Vorgaben zu politisch gewünschten Beratungsergebnissen unzugänglich war? – Wie glaubwürdig ist das Ausschließen der Reaktor-Sicherheitskommission denn, wenn von „ergebnisoffenen Prüfungen“ gesprochen wird?
Nach Putins Angriff auf die Ukraine war vielen Menschen klar, dass es eine „Zeitenwende“ geben müsse – nicht nur in der Außenpolitik, sondern auch in der stark betroffenen Energiepolitik. Eigentlich musste klar sein, dass eine ergebnisoffene Prüfung mit Festhalten am jeweiligen Behauptungskanon aus den vergangenen Jahrzehnten, mit oft nur konstruierten Argumenten, nicht funktionieren konnte. Und ich habe bei vielen auch die Bereitschaft wahrgenommen, jetzt zusammen anzupacken und nicht die „alten Schlachten“ erneut aufzuführen.
Ich hatte gehofft, dass Habeck, der nach einem Ukraine-Besuch im letzten Jahr eine bemerkenswerte Offenheit für wichtige Neubewertungen zeigte, dies auch beim Energiethema schaffen würde. Aber das von ihm mitgetragene, regelmäßige Abspulen des „Anti-AKW-Kanons“ mit in den 1980er Jahren entstandenen Behauptungen, selbst wenn diese inzwischen auch für Laien erkennbar falsch sind, hat die „Schützengräben“ erneuert. Von wem hat sich Habeck da beraten lassen? – Traurig, diese Chance für eine Zeitenwende wurde bisher verpasst.
Offensichtlich wird Zeit benötigt, die Energiesituation und Auswege aus der Krise nochmal – jetzt tatsächlich – offen zu diskutieren – nicht nur offen hinsichtlich des Ergebnisses, sondern auch offen für unbequeme, aber fundierte Einschätzungen, nicht nur zu KKW, sondern insgesamt zu den diversen, wichtigeren Problemen einer Energiewende. Um diese Zeit zu bekommen, wäre es zielführend, die KKW im Streckbetrieb, danach evtl. auch unter Nutzung noch nicht „ganz abgebrannter“ Brennelemente in den internen Lagerbecken, bis in den Frühsommer 2023 mit der möglichen Leistung zu betreiben sowie parallel frische Brennelemente für je eine Nachladung zu bestellen. Im Sommer könnte dann bei geringeren Engpässen in der Stromversorgung eine ausführliche Revision mit Brennelementwechsel erfolgen.
Damit wäre bis ins Jahr 2024 Zeit besser zu klären, wann ausreichend Wind, Sonne und Speicherkapazität zu welchen Kosten realistischerweise zur Verfügung stehen könnten. Wenn das – wie manche hoffen –in etwa einem weiteren Jahr so sein sollte, könnte nach einem weiteren BE-Wechsel schlussgemacht werden, falls das politisch-gesellschaftlich unter Berücksichtigung der Strompreise dann gewollt ist. Eine Betriebszeit von zusätzlich drei Jahren könnte – ohne sicherheitstechnische Abstriche und vorbehaltlich einer entsprechenden Stellungnahme der Reaktor-Sicherheitskommission – wohl relativ einfach bewältigt werden.
Wenn sich – wie von vielen Fachleuten erwartet – jedoch zeigen sollte, dass dieser Zeitpunkt einer ausreichenden Alternative deutlich weiter in der Zukunft liegen dürfte, würde der erforderliche Aufwand für einen gewünschten Weiterbetrieb größer werden, z.B. bei der Einarbeitung von neuem Personal oder bei der Ersatzteilbeschaffung. Aber das könnte dann auf Basis einer solideren Kenntnis der Sachlage entschieden werden, ohne Hauruckaktionen auf Basis von Wunschdenken, die einem schon nach ein paar Monaten wieder auf die Füße fallen.
Wenn man sich, die vom Bundeswirtschaftsministerium zusammengestellte Liste, anschaut, welche Maßnahmen denn im Jahr 2023 die Situation entscheidend verbessern sollten, findet man Zusammengekratztes und viel „Prinzip Hoffnung“. Damit sind weitere Diskussionen zu den Auswirkungen einer Energiemangellage für 2023/24 und die Folgejahre programmiert. Allerdings hätte Habeck im Herbst 2023 mit der Aussage recht, dass nun der Weiterbetrieb der vorhandenen KKW wegen längeren Nichtbetriebs und begonnener Abbaumaßnahmen doch schwieriger geworden sei. Dann aber sind in der Hoffnung, dass der Bau neuer Brücken schneller gelungen wäre, die vorhandenen Brücken schon abgerissen.