Ob er an eine Insolvenzwelle im Winter glaube, wurde Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) am Dienstag in der TV-Talkshow „Maischberger“ gefragt. Seine Antwort: „Nein, tu ich nicht. Ich kann mir vorstellen, dass bestimmte Branchen einfach erst mal aufhören zu produzieren.“
„Er vermittelt nicht den Eindruck, dass er von Wirtschaft irgendetwas versteht“, kritisiert CDU-Generalsekretär Mario Czaja Wirtschaftsminister Robert Habeck. Im WELT-Interview spricht er über das neue Entlastungspaket und gesteht angesichts der Energiekrise: „Ich habe Angst vor einem Wutwinter.“ Quelle: WELT© WELT
Der Blick in die Realität legt unabhängig von der Frage, inwieweit Habeck eigentlich wirklich mit der Materie vertraut ist, nahe, dass er mit Teil eins seiner Antwort daneben liegen könnte: Gerade eine Woche ist im September 2022 vergangen – und schon gibt es zwei prominente Insolvenzfälle.
Zuerst erwischte es den Toilettenpapierhersteller Hakle, und danach auch den
Schuhhändler Görtz mit aktuell 1800 Mitarbeitern und 160 Filialen in Deutschland und Österreich. „Der Ukraine-Krieg hat mit den gestiegenen Energiekosten und der starken Inflation zu einer erheblichen Verunsicherung der Kunden geführt. Die dadurch verursachte Kaufzurückhaltung hatte deutliche Umsatzrückgänge zur Folge“, heißt es in einer Mitteilung des 1875 gegründeten Traditionsunternehmens aus Hamburg.
Das Management um Geschäftsführer Frank Revermann und Finanzchef Tobias Volgmann bleibt dabei im Amt, bekommt aber einen Sanierungsexperten als Aufsicht an die Seite gestellt. Übernommen hat die Aufgabe des sogenannten vorläufigen Sachwalters der bekannte Insolvenz-Experte Sven-Holger Undritz von der Kanzlei White&Case, der auch schon das Modeunternehmen Bonita, den Büro-Ausstatter Staples und den Erotikdienstleister Beate Uhse saniert hat.
Der Geschäftsbetrieb bei Görtz läuft unverändert weiter, sämtliche Läden bleiben geöffnet. Die Löhne und Gehälter werden dabei für drei Monate von der Bundesagentur für Arbeit bezahlt. Ab Dezember will das Unternehmen dann wieder auf eigenen Beinen stehen. „Görtz ist eine starke und bekannte Marke, die weiterhin viel Potenzial in sich trägt“, sagt Revermann und kündigt „eine erfolgreiche Zukunft“ und „nachhaltiges Wachstum“ an.
Branchenexperten indes melden bereits Zweifel an. Zumal Görtz nicht zum ersten Mal in Turbulenzen geraten ist. Die Umsätze sind schon seit etlichen Jahren stark rückläufig – von 361 Millionen Euro im Jahr 2010 auf nur noch 199 Millionen Euro in 2020. Und erst im vergangenen Jahr hat das Familienunternehmen eine Kapitalspritze in Höhe von 28 Millionen Euro vom Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) des Bundes in Anspruch nehmen müssen.
Und Betriebe, die aufgrund der Corona-Krise ohnehin schon angeschlagen sind, haben es im aktuellen Umfeld mit hohen Energiepreisen, Lieferkettenproblemen und dazu Inflation und Konsumverzicht besonders schwer, heißt es von der Wirtschaftsauskunftei Creditreform. „Wir rechnen in den kommenden Monaten mit deutlich steigenden Insolvenzzahlen“, sagt Patrik-Ludwig Hantzsch, der Leiter Wirtschaftsforschung bei Creditreform, gegenüber WELT.
Die von der EZB ausgerufene Zinswende erhöht Refinanzierungskosten der Unternehmen
Der gerade abgelaufene August war dafür schon ein Vorbote. Das zeigt der aktuelle Insolvenz-Trend des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH). 718 Unternehmensinsolvenzen sind in der Statistik vermerkt, das ist ein Plus von 26 Prozent gegenüber dem Vorjahreswert. „Nach lange Zeit niedrigen Insolvenzzahlen hat nun eine Trendwende eingesetzt“, sagt Steffen Müller, der Leiter der IWH-Abteilung Strukturwandel und Produktivität und der dort angesiedelten Insolvenzforschung. Im September zum Beispiel erwartet er 25 Prozent mehr Insolvenzen, im Oktober werde die Steigerungsrate gemäß den Frühindikatoren des IWH sogar bei rund einem Drittel liegen, verglichen mit dem Vorjahresmonat.
Hintergrund seien besonders stark steigende Preise für wichtige Produktionsfaktoren: Der Ukraine-Krieg etwa führe zu deutlich höheren Energiekosten, die Unterbrechungen der internationalen Lieferketten wiederum seien für die Verteuerung vieler importierter Vorleistungsgüter verantwortlich. Zudem werde die von der Europäischen Zentralbank (EZB) ausgerufene Zinswende die Refinanzierungskosten von Unternehmen erhöhen. Und auch die Mindestlohnerhöhung ab Oktober belaste die Finanzen der Firmen zusätzlich.
„Viele Unternehmen rechnen mit dauerhaften Kostensteigerungen, die ihr Geschäftsmodell unrentabel werden lassen“, erklärt Müller. Deswegen werde die Zahl der Insolvenzen nun steigen. Und üblicherweise weichen die IWH-Ergebnisse nur geringfügig ab von den amtlichen Zahlen, die meist mit zwei Monaten Zeitverzug veröffentlicht werden. Ausgewertet werden für den Insolvenztrend die Bekanntmachungen der deutschen Registergerichte, verknüpft mit den Bilanzzahlen betroffener Unternehmen.
Ähnlich pessimistisch zeigt sich auch Creditreform. Dort ist ebenfalls von einer Trendwende bei den Firmeninsolvenzen die Rede. „Die Energiekrise wird in den kommenden Wochen und Monaten voll auf die Unternehmen durchschlagen“, begründet Experte Hantzsch die Einschätzung. Zudem hätten sich die konjunkturellen Rahmenbedingungen durch den Krieg in Osteuropa, die angebotsseitigen Preisauftriebe und die beginnende Zinswende deutlich verschlechtert.
„Wir sehen schon jetzt, dass die Zahlungsmoral zwischen Unternehmen leidet und dass die Zahl der Inkassomandate steigt.“ Und noch stehe Deutschland erst am Anfang einer Energiekrise, sagt Hantzsch. „Da wird noch einiges kommen.“ Zumal das jüngste 65-Milliarden-Euro-Entlastungspaket der Bundesregierung ziemlich ernüchternd sei, allen voran für den Mittelstand. „Längst fragen bei uns die Banken verstärkt nach den Ausfallrisiken in den kommenden Monaten.“
Als mahnendes Beispiel gilt laut Creditreform derzeit Österreich. Dort ist die Zahl der Unternehmensinsolvenzen im ersten Halbjahr um gut 121 Prozent auf knapp 2500 Verfahren in die Höhe geschnellt. Damit liegen die Zahlen annähernd auf dem Vor-Corona-Niveau, als es keine staatlichen Hilfen und Stützungsmaßnahmen gab, die Pleiten verhindert haben. „Die Corona-Blase löst sich auf“, kommentiert Gerhard Weinhofer, der Geschäftsführer von Creditreform Österreich, die sprunghafte Entwicklung. Und etliche Tausend weitere Firmen seien ausfallgefährdet, konkret rund 5700. Das entspreche in etwa der Anzahl an „verhinderten Insolvenzen“ während der Pandemiejahre 2020 und 2021.