Am Ende der Amtszeit von Olaf Scholz als Bundesfinanzminister wurden in der Behörde offenbar in größerem Umfang E-Mails und andere Unterlagen gelöscht oder anderweitig vernichtet. Nach Recherchen von WELT konnte sich das Finanzministerium dabei auf eine Praxis der Bundesregierung berufen, die Mails und andere Unterlagen in den Büros von Ministern und Staatssekretären betrifft. Experten bezweifeln die Rechtmäßigkeit solcher Löschungen.
Olaf Scholz am 19. August vor dem Cum-Ex-Untersuchungsausschuss in Hamburg Quelle: Getty Images/Morris MacMatzen© Getty Images/Morris MacMatzen
Politiker von CDU und Linken fordern nun, diese Praktiken zu überdenken. Für den heutigen Kanzler Scholz bedeutet das weiteres Ungemach, weil bereits in der Cum-Ex-Affäre um das Hamburger Bankhaus Warburg der Verdacht der Löschung von Mails und Kalendereinträgen des SPD-Politikers auftauchte.
Sicher ist: Im Bundesfinanzministerium wurden beim Ausscheiden des früheren dortigen Staatssekretärs und Scholz-Vertrauten Wolfgang Schmidt (SPD) Ende 2021 dienstliche Mails gelöscht. Er wechselte damals als Kanzleramtsminister in die Berliner Regierungszentrale.
Unterlagen „werden vernichtet“
Aus den Büros der Staatssekretäre würden nur solche Unterlagen aufbewahrt, mit denen auch die Arbeitsebene im Ministerium befasst sei, hieß es dort. Unterlagen, die nicht an die zuständigen Arbeitseinheiten zurückgingen, „werden vernichtet“.
Bereits im April 2021 berief sich Scholz gegenüber dem Cum-Ex-Untersuchungsausschuss der Hamburger Bürgerschaft darauf, dass auch „das Bürgermeisterbüro“ ja „keine Behörde, keine aktenführende Stelle“ sei. Er war gefragt worden, ob es Aufzeichnungen zu seinen seinerzeitigen Gesprächen mit Warburg-Vertretern gebe – was offenbar nicht der Fall war.
Auch andere Bundesministerien führen die Büros ihrer Minister und Staatssekretäre offenbar nicht als „aktenführende Stellen“. Die Rechtsgrundlage dieser Praxis ist aber unklar. Das Bundesinnenministerium, das innerhalb der Bundesregierung für Fragen der Behördenorganisation zuständig ist, verwies auf die geltende Registraturrichtlinie. Dort lässt sich ein entsprechender Passus aber nicht finden.
Der Marburger Professor und Archivrechtler Thomas Henne kritisierte das Löschen von E-Mailfächern hoher Amtsträger beim Ausscheiden: „Diese Praxis ist weitverbreitet, aber das macht sie nicht rechtmäßig“, sagte Henne. Eigentlich bräuchte es dafür eine sogenannte Kassationsgenehmigung des Bundesarchivs. „Bei einem Staatssekretär kann ich mir im Leben nicht vorstellen, dass eine Kassationsgenehmigung erteilt wird.“
Im Hamburger Untersuchungsausschuss zu der Cum-Ex-Affäre wurde Scholz am Freitag vergangener Woche von Zuhörern sogar so verstanden, dass er „auch“ in seinem privaten Mailaccount „alle Dinge immer sofort“ lösche – was sich unter Umständen so verstehen ließ, als entsorge er auch dienstliche Mails sofort nach Lektüre. Sein Bundestagsbüro ließ Fragen dazu unbeantwortet. Das Bundespresseamt versicherte für das Kanzleramt, dort würden Informationen veraktet, „sofern sie für die inhaltliche Bearbeitung eines Verwaltungsvorgangs relevant sind“.
Gelöschte Termine mit den Warburg-Bankern
In dem in Hamburg gespeicherten seinerzeitigen Terminkalender von Scholz als Erstem Bürgermeister der Hansestadt waren überdies offenbar Termine mit Vertretern der Warburg-Bank gelöscht worden. In einer von Scholz nach Berlin überspielten Kopie des Datensatzes waren sie aber erhalten.
Fragen, wer für diese Löschungen verantwortlich war, ließen der heutige Bundeskanzler und die Hamburger Senatskanzlei unbeantwortet. Der „Spiegel“ zitierte jüngst zudem Ermittlungsergebnisse der Kölner Staatsanwaltschaft, die von Hinweisen auf „eine gezielte Löschung“ beim Thema Cum-Ex auch in Scholz‘ Hamburger Mailfach sprachen.
Die Hamburger Senatskanzlei versicherte jetzt auf Anfrage, dass „die Löschung von E-Mail-Postfächern und Kalendern“ von Amtsträgern nach deren Ausscheiden „keine Rechtsgrundlage“ erfordere, weil ja zuvor „alle aktenrelevanten Vorgänge“ zu den Akten genommen worden seien.
Wolfgang Schmidt, Chef des Bundeskanzleramtes, am Tag der offenen Tür der Bundesregierung unter dem Motto «Demokratie lädt ein» Quelle: picture alliance/dpa/Carsten Koall© picture alliance/dpa/Carsten Koall
Den Verdacht auf eine unzulässige Entsorgung von Dateien im Finanzministerium stützt ein Vorfall im Mai 2022. Damals verweigerte die Behörde dem Abgeordneten Christian Görke (Linke) den Zugang zu offenkundig dienstlichen Mailwechseln des früheren Staatssekretärs Schmidt mit dem Unternehmer Nicolaus von Rintelen, obwohl es diese Mailwechsel nach früheren Angaben des Ministeriums gegeben hatte.
Von Rintelen war seinerzeit Hauptgesellschafter einer Firma, von der die Bundesregierung Verschlüsselungssoftware für Handys bezieht; er wurde auch wegen Kontakten zu dem heute flüchtigen früheren Wirecard-Vorstand Jan Marsalek bekannt. Görke hatte die Mailwechsel auf Basis des Informationsfreiheitsgesetzes beantragt.
„Zugriff auf E-Mails nicht mehr möglich“
Dieser Mailaustausch zwischen Schmidt und von Rintelen ist heute im Ministerium aber nicht mehr verfügbar. Es lägen „keine amtlichen Informationen mehr vor“, die sich dem Antrag „zuordnen ließen“, erklärte das Ministerium dem Abgeordneten. Wegen des Amtswechsels sei „ein Zugriff auf etwaige zuvor empfangene und versandte persönliche E-Mails ehemaliger Staatssekretäre“, so das Ministerium, „nicht mehr möglich“. Konkrete Fragen zu dem Vorgang ließen das Ministerium und Schmidt selbst unbeantwortet.
Der Freiburger Staatsrechtsprofessor Friedrich Schoch gilt als führender Experte für Informationsfreiheit – also des Bürgerrechts auf Zugang zu amtlichen Informationen, das auf Bundesebene seit 2006 gilt. Er bezweifelt, dass es zulässig ist, wenn Amtsträger beim Ausscheiden den Inhalt von E-Mailfächern pauschal löschen. „Das wäre andernfalls ein offensichtliches Mittel, Vorschriften zu umgehen“, so Schoch. „Die Mails müssten im Einzelfall auf ihren Inhalt geprüft werden“, sagt der Professor: „Minister und Staatssekretäre stehen nicht über den Gesetzen.“
„Minister und Staatssekretäre stehen nicht über den Gesetzen“
Auch Olaf Scholz dürfe ohne eine Genehmigung zwar „Mails zu privaten und Parteiangelegenheiten löschen, wenn er will“, so der Marburger Professor Henne. „Für dienstliche Unterlagen im seinem Mailaccount gilt aber ein Löschungsverbot - es sei denn das zuständige Archiv hat ihn davon mit einer Kassationsgenehmigung befreit.“
Der CDU-Bundestagsabgeordnete Matthias Hauer, der sich seit längerem mit dem Hamburger Cum-Ex-Skandal beschäftigt, drängt jetzt darauf, die Löschpraktiken zu beenden: „Das wäre ein Kontrolldefizit für das Parlament“, sagte Hauer. „Das kann eigentlich nicht sein.“ Kritik kam auch von der Innenexpertin der Fraktion der Linken, Martina Renner. Büros von Ministern und Staatssekretären von der Aktenführung zu befreien sei „nicht vertretbar und offenbart ein seltsames Regel-Ausnahme-Denken vom Rechtsstaatsprinzip“, sagte sie: „Es ist bedenklich, wenn höhere Stellen wie politische Beamte und Minister meinen, hinsichtlich der Prüfung von Entscheidungen und Verwaltungshandeln unantastbar zu sein.“