Zitat von Gast am 8. August 2022, 06:04 Uhr
Krieg, Gaskrise und Cum-Ex: Der Kanzler und seine Erklärungsnöte an zwei Fronten
Zur prekären Weltlage kommt ein Skandal aus alten Zeiten. Der doppelte Krisen-Kanzler darf nicht selbst zur Belastung für Land und Leute werden. Ein Kommentar.
Als ob nicht alles schon schwierig genug wäre. Noch liegt ein Hauch von Sommerruhe über dem Land, hier und da jedenfalls. Wenn da nicht die Erschütterungen wären, die anzeigen, dass die Welt aus den Fugen geraten könnte. Und genau jetzt gerät der, der es vor allen anderen von Amts wegen richten soll, unter Druck: Bundeskanzler Olaf Scholz.
Die große Lage: Russlands Krieg gegen die Ukraine ist einer, der sich ausweitet, ist einer gegen den Westen und hat Auswirkungen, deren Ende nicht abzusehen ist. Dann kommen auch noch von überall neue Krisen auf uns zu, mit Kriegsdrohungen, in Schlagworten: Kosovo, Serbien, Taiwan. Die Wirtschaft fürchtet um ihre Lieferketten, wir Bürger fürchten um die Bezahlbarkeit des täglichen Lebens. Schon jetzt steigen und steigen die Preise, nicht nur für Gas, auch für Nahrungsmittel.
Die andere, neue Lage: Seine Hamburger Vergangenheit kann Scholz im Berliner Amt gefährlich werden. Die Cum- Ex-Affäre kann noch Folgen haben. Ein Untersuchungsausschuss versucht zu klären, ob er oder andere in seiner Zeit als Erster Bürgermeister Einfluss auf Entscheidungen genommen haben, auf Steuernachzahlungen bei der in den Skandal verwickelten Warburg-Bank zu verzichten. In diesem Fall geht es um Millionen, bei Cum-Ex um Milliarden. Bisher hat Scholz zu den wichtigsten Punkten immer gesagt, er könne sich nicht erinnern – am 19. August will der Ausschuss in Hamburg seiner Erinnerung aufhelfen. Der Fall ist noch nicht abgeschlossen.
Die Anforderungen sind ohnehin enorm
Der Kanzler in der Krise – das wird ein doppelsinniger Begriff. Die Anforderung ist ohnehin enorm, gerade wird sie noch größer. Seine Partei, die SPD, verliert Vertrauen, fällt auf 17 Prozent; bei den Landtagswahlen in Niedersachsen am 9. Oktober könnte sie das nächste Flächenland verlieren; ein sozialdemokratischer Altkanzler wird zum weltweiten Paria. Und dann steht Scholz plötzlich als Trickser da, als arrogant, ignorant?
Dabei geht es doch darum, dem beunruhigten Volk in seinen Abstiegs- und Existenzängsten das Gefühl zu vermitteln, gut aufgehoben zu sein. Nach dem Leitspruch: Wir tun alles, um durch diese Weltkrise zu kommen, und wenn es auch schmerzhaft wird, Illusionen kassiert werden müssen – wir sind bei euch.
Der Fototermin mit Gasturbine - im Rückblick fast clownesk
You’ll never walk alone, sagt der Kanzler. Er kommt dafür aus dem Allgäu, absolviert Auftritte, die in der Rückschau seltsam verloren anmuten, fast clownesk, einen zur Rettung eines Gaskonzerns, den nächsten vor einer Gasturbine – und dann geht er. Lässt uns allein. Zumindest mit den Bildern dieser Tage und ihrer Deutung: Was will Scholz uns sagen? Will der Kanzler mit dem Besuch bei der Turbine für eine der russischen Gasleitungen den Kremlherrscher und Kriegsherrn Wladimir Putin in die Knie zwingen? Unerklärt und unerklärlich.
Eine erklärende Rede fehlt bis heute
Fast mit jedem Tag wird wichtiger, das Geschehende zu durchdringen und dann das, was zu geschehen hat, verständlich zu machen. Dass Scholz es besser weiß als alle anderen, ist das eine. Nur geht es um all die anderen, die besser Bescheid wissen müssen. Eine solche Rede des Kanzlers fehlt bis heute.
Nicht die Taten bewegen die Menschen, sondern die Worte über die Taten, wusste der griechische Philosoph Epiktet. Übrigens ein Stoiker, das müsste dem stoischen Scholz doch gefallen. Bewegen durch Worte über die Taten: Aufgabe ist, die Resilienz der Menschen zu stärken, ihre psychische Widerstandskraft, die Fähigkeit, die schwierige Lebenssituation ohne anhaltende Beeinträchtigung zu überstehen; Aufgabe ist, Optimismus zu stiften, dem Gefühl entgegenzuwirken, Opfer zu sein. Es gilt, die Vielen im Land zu adressieren, um ihr Durchhaltevermögen zu aktivieren.
Olaf Scholz in der Krise: Erfolg kommt durch Akzeptanz, Vertrauen geht einher mit Glaubwürdigkeit. Die Menschen sollen schließlich hohe Belastungen tragen und ertragen. Ein Bundeskanzler darf dazu nicht zählen.