Aus Hartz Vier wird „Bürgergeld“. Es ist viel mehr als eine Sozialreform: die SPD befreit sich aus einem langjährigen Trauma. Es gibt zwei Gründe, weshalb diese Reform sozialen Sprengstoff hat.
Bundeskanzler Olaf Scholz mit Finanzminister Christian Lindner und Wirtschaftsminister Robert Habeck im Rahmen einer Kabinettssitzung. Michael Kappeler/dpa© Michael Kappeler/dpa
Der Arbeitsminister hat Recht: die Einführung des Bürgergelds ist die größte Reform des Sozialstaats seit 20 Jahren. Was Hubertus Heil nicht sagt: Hartz Vier wird abgeschafft, und das ist die größte Reform der SPD seit 20 Jahren. Preisfrage: Stiftet die Reform der Ampel-Koalition sozialen Frieden und ist sie sozialer Sprengstoff?
Zunächst: Vor 20 Jahren setzte die Bundesregierung unter dem Bundeskanzler Gerhard Schröder die Hartz-Kommission ein. Sie wurde benannt nach dem Arbeitsdirektor von VW, Peter Hartz. Auslöser dafür war nicht nur ein Vermittlungsskandal der Bundesanstalt für Arbeit, die, so lautete der Vorwurf, in großem Umfang angebliche Erfolge bei der Vermittlung von Arbeitslosen in Jobs gefälscht hatte.
Mindestens ebenso wichtig wie die Lage von Prekären am Arbeitsmarkt war die prekäre Lage der Bundesregierung: Die Sozialkassen waren damals leer, was im Auftrag von Schröder dessen Kanzleramtsminister Frank Walter Steinmeier in einem erschütternden Bericht den Kabinettsmitgliedern zu erzählen hatte. Und es herrschte Massenarbeitslosigkeit.
Das Bürgergeld ist sozialdemokratische Geschichtsbewältigung
Was heute Morgen im Bundestag stattfand, war also nicht nur eine Sozialstaatsreform, sondern: sozialdemokratische Geschichtsbewältigung. Als erste hatte die damalige SPD-Vorsitzende Andrea Nahles das Hartz-System infrage gestellt. Das war vor vier Jahren. Nun hat die Ampel das System beerdigt. Aus dem hässlichen Hartz Vier wird das empathische „Bürgergeld“. Eine Drohung soll zur Verheißung werden. Ein Fall von sprachlichem „Red-Washing“, wenn man so will.
Deutschlands Lage hat sich geändert
Der Architekt 2002 war Peter Hartz, der Hartz-Manager war Wolfgang Clement, Schröder Superminister für Wirtschaft und Arbeit. Kurz vor seinem Tod wurde Clement gefragt, was er von einer derartigen Abschaffung der Hartz-Reformen halte. Er benötigte für seine Antwort nur ein Wort: „Verrückt“.
Allerdings: Die Lage in Deutschland hat sich grundlegend geändert. Denn erstens herrscht keine Massenarbeitslosigkeit mehr, sondern Arbeitskräftemangel. Es gibt 860000 offene Stellen, und der volkswirtschaftliche Verlust als Folge davon geht in die Milliarden. Und zweitens ist derzeit Geld offensichtlich nicht das drängendste Problem der Bundesregierung. Vor allem für die SPD war also die Zeit günstig, endlich ihr Trauma zu bewältigen.
FDP setzte Änderungen durch
Die Grünen waren seit Jahren der Meinung, das Hartz-System sei falsch. Die Liberalen waren es nicht, im Gegenteil – und tatsächlich hatte die Schröder-Reform doch die Arbeitslosigkeit stark verringert, sie galt deshalb auch international als Erfolg einer neuen Sozialpolitik.
Die FDP kann nun beim Bürgergeld mitmachen, weil sie das Prinzip durchsetzen konnte, dass, wer sich ausbilden lässt oder als junger Mensch bis 25 Jahre arbeitet, mehr von seinem Geld behalten darf. Bisher wird das, was junge Menschen aus Hartz-Vier-Familien verdienen, auf die Sozialleistung angerechnet. Dadurch bekommen die Jüngeren eine Perspektive in den Arbeitsmarkt hinein. Zur Erinnerung: Bei der jüngsten Bundestagswahl war die FDP der Shooting-Star bei den Jungwählern.
Wer wissen will, was die neue Perspektive mit den Jungen macht, sollte sich das Neun-Minuten-Video anschauen, dass der Bürgergeld-Sprecher der FDP, Jens Teutrine, gedreht hat. Alex, Zara und Ferhat erzählen dort ungeschminkt und ohne Sozialduselei ihre Geschichte, die auch eine von Integration und Chancen ist.
Förderung statt Forderung
Beim Bürgergeld gilt nun: Mehr fördern, weniger fordern. Das Vermögen von Langzeitarbeitslosen (wer länger als ein Jahr arbeitslos ist, gilt als langzeitarbeitslos) wird länger „geschont“, wer auf Bürgergeld angewiesen ist, soll auch nicht sofort aus einer Wohnung umziehen müssen, die eigentlich zu teuer ist, um „Stütze“ zu bekommen.
Als Opposition bemängelt die Union, so der langjährige Sozialpolitiker und Ex-Gesundheitsminister Hermann Gröhe aus dem katholischen Neuss, das „Schonvermögen“ könne bis zu 150000 Euro betragen.
Die SPD, so Arbeitsminister Heil, nennt derlei „Respekt vor Lebensleistung“. Die Union findet so etwas respektlos gegenüber Geringverdienern, die so gut wie nie auf ein derartiges Vermögen kommen könnten, welches Hilfe-Empfänger erst einmal behalten dürfen.
Linke spricht von „Hartz Fünf“
Gröhe zitiert einen sozialdemokratischen Landrat mit der Aussage, das Bürgergeld erleichtere den Weg in die Arbeitslosigkeit. Norbert Kleinwächter von der AfD kritisiert, jene Langzeitarbeitslosen, die sich nie hätten Weiterqualifizieren wollen, würden mit jenen gleichbehandelt, die es nicht könnten. Die Nicht-Wollenden nannte Norbert Kleinwächter „Couch-potatoes“ – Chips-futternde Sofasitzer.
Originell argumentiert im Bundestag die Linke. Sie hat jahrelang gut gelebt von der Sozial-Konkurrenz mit der SPD, personifiziert durch den langjährigen Vorsitzenden Oskar Lafontaine, der aus Protest über die „neue“ Schröder-SPD zur Linken gewechselt war, um von dort aus seine alte Partei zu quälen. Die Linke will darauf auch weiter nicht verzichten. Statt vom Bürgergeld spricht deren Fraktionschef Dietmar Bartsch von „Hartz Fünf“. Ob sich dieser Sprachgebrauch durchsetzen wird?
Bürgergeld birgt sozialen Sprengstoff
Nun zur Eingangsfrage: Ist das Bürgergeld eine soziale Wohltat oder sozialer Sprengstoff? An zwei Punkten kann es in der künftigen Debatte sogar gefährlich werden.
Erstens: Kein Mensch weiß, wie sich Geringverdienende verhalten werden, die jeden Tag zur Arbeit gehen, wenn sie ihr Einkommen vergleichen mit dem, was Bürgergeld-Empfänger bekommen. Denn der so genannte Lohnabstand sinkt. Die Antwort der SPD, heute im Plenum etwa von der Parteivorsitzenden Saskia Esken, gegeben: die Löhne müssten steigen, die Tarifbindung müsse zunehmen. Esken ignoriert einen feinen Unterschied: Bürgergeld kommt vom Staat, Löhne kommen aus der Wirtschaft.
Zweitens: Viele Langzeitarbeitslose – ob es „die Hälfte“ sind, wie die AfD behauptet, steht dahin – sind Geflüchtete. Bei Afghanen etwa sind es mehr als 40, bei Syrern mehr als 60 Prozent. Thematisiert wird das im Plenum ausschließlich von der AfD, kein Redner der Union kommt darauf zu sprechen. Hauptredner der Union ist Hermann Gröhe, einer der engsten Vertrauten von Ex-Kanzlerin Angela Merkel.
Bürgergeld für ukrainische Geflüchtete
Und: Zu den Profiteuren des im Vergleich zu Hartz Vier um 11,8 Prozent gestiegenen Bürgergelds gehören unmittelbar nach dessen Einführung, angepeilt wird der 1. Januar 2023, ukrainische Geflüchtete. Politisch ist dies gewollt. Nach einer europäischen Vereinbarung fallen vor dem russischen Angriffskrieg aus der Ukraine Geflohene nicht unter das Asylbewerberleistungsgesetz, auch müssen sie in kein Asylverfahren.
Der einzige Vertreter einer demokratischen Partei, der dies als Privilegierung infrage stellt, sitzt nicht im Deutschen Bundestag. Es handelt sich um einen Kommunalpolitiker. Den Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer.