Ist das Bürgergeld ungerecht?© Bereitgestellt von SZ - Sächsische Zeitung
Ist das Bürgergeld ungerecht?
Die Ampel-Koalition ist sauer – aber diesmal auf die Union. CDU und CSU wollen die Koalition zu Änderungen an der für den 1. Januar 2023 geplanten Hartz-IV-Reform zwingen. Sonst, so drohen sie, blockieren sie die Einführung des Bürgergelds im Bundesrat. Das Bürgergeld gilt als Herzensprojekt der Sozialdemokraten, die damit das Hartz-Trauma aus den frühen 2000er-Jahren hinter sich lassen wollen. Für die Union also Gelegenheit, sich als Anti-Ampel zu inszenieren. Doch was ist dran an der Bürgergeld-Kritik? Ein Überblick.
Arbeit soll sich lohnen: Was unter dem Namen Lohnabstandsgebot bekannt ist, bedeutet, dass Menschen, die arbeiten, mehr Geld zur Verfügung haben sollen als jene, die das nicht tun. Seit Jahrzehnten gilt dieses Prinzip in der deutschen Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. Mit Einführung des Bürgergelds sollen die Regelsätze steigen: Alleinstehende bekämen pro Monat 502 Euro, gut 50 Euro mehr als mit Arbeitslosengeld II. Die Übernahme von Wohn- und Heizkosten kommt dazu. Stehen sie damit besser da als Berufstätige?
Zudem weist er darauf hin, der Gesetzgeber habe im Grunde keine Alternative zum Anheben der Regelsätze. Arbeitslosengeld II oder künftig Bürgergeld solle das Existenzminimum sichern. Steigt die Inflation, müssen auch die Sätze rauf. „Der Gesetzgeber kann den Bedürftigen schließlich nicht sagen: Da habt ihr jetzt Pech gehabt“, sagt Schäfer.
Peter Haan, Leiter der Abteilung Staat beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, sieht ein Problem vor allem bei den Zuverdienstmöglichkeiten. Wer aufstockt, darf beim Bürgergeld etwas mehr vom Verdienst behalten als beim Arbeitslosengeld II, der Unterschied ist aber überschaubar. „Da hätte es eine echte Reform geben sollen“, sagt Haan, „denn genau in diesem Bereich entsteht ein echter Anreiz zur Arbeitsaufnahme.“
„Bei Geringverdienern kann es sein, dass sie in einen Bereich reinrutschen, der dem Bürgergeld gleichkommt“, sagt Bettina Kohlrausch, wissenschaftliche Direktorin beim gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung. „Das heißt dann aber, dass sie zu einem Lohn arbeiten, der sie nicht vor Armut schützt.“ Ihr Urteil ist einhellig: Eine Verletzung des Lohnabstandsgebots sei nicht kritikwürdig.
IW-Ökonom Schäfer hält das Zurückfahren der Sanktionsmöglichkeiten für den problematischsten Punkt im Gesetzentwurf. Zu Beginn soll es eine sechsmonatige Vertrauenszeit geben, in der beispielsweise die Weigerung, an einer Fortbildung teilzunehmen, nicht sanktioniert werden kann. „Das ist noch kein bedingungsloses Grundeinkommen“, sagt Schäfer: „Aber eine bedingungsarme Grundsicherung.“ Die Arbeitsmarktforschung belege eindeutig, dass Sanktionen eine Wirkung haben – sowohl als Abschreckung als auch, wenn sie tatsächlich verhängt werden. „Weniger Sanktionen werden bedeuten, dass es weniger Übergänge vom Leistungsbezug in die Erwerbstätigkeit geben wird“, so Schäfer. Das Signal an die Leistungsbezieher: „Lasst euch Zeit.“ Das sei „grundfalsch“.
Anders sieht das DIW-Experte Haan. Sanktionen könnten dazu führen, dass Menschen schlecht bezahlte Jobs annehmen, in denen sie nicht lange bleiben. Sozialmissbrauch lasse sich nie vollständig verhindern. Aus seiner Sicht überwiegen die Vorteile eines Verzichts auf Sanktionen. Ein solcher Schritt könne dazu beitragen, das Bürgergeld zu entstigmatisieren. „Im bisherigen Arbeitslosengeld II nehmen ungefähr 50 Prozent der Menschen ihren Anspruch überhaupt nicht wahr. Die Leute verhungern nicht, aber sie schränken sich extrem ein. Das hat einerseits damit zu tun, dass das System kompliziert ist, aber auch damit, dass Menschen sich stigmatisiert fühlen.“ Ähnlich sieht das Soziologin Kohlrausch: „Gerade jetzt angesichts des Fachkräftemangels sind die Jobcenter so vielfältig gefordert, dass es ein sehr sinnvoller Schritt ist, sie beim Thema Sanktionen von viel Aufwand zu entlasten – zumal diese stigmatisierend wirken.“
Wohneigentum, Autos, Ersparnisse für die Altersvorsorge: Sowohl in den ersten beiden Jahren des Leistungsbezugs als auch danach können Menschen, die Bürgergeld beziehen, Vermögen in einem Umfang behalten, den viele Menschen mit geringen Einkommen wohl nie erreichen werden. In den ersten beiden Jahren gibt es keine Obergrenze für die Wohnfläche. Danach gelten 140 Quadratmeter für Häuser und 130 Quadratmeter für Eigentumswohnungen als Obergrenze. Ab fünf Personen steigen die Grenzen nochmals. Ein Ehepaar, dessen Kind ausgezogen ist, könnte also in seiner 120-Quadratmeter-Wohnung bleiben. Das ist nach den noch geltenden Hartz-IV-Regeln anders.
Auch weiteres Vermögen wird geschont. Ersparnisse für die Altersvorsorge werden grundsätzlich nicht berücksichtigt, wenn es darum geht, ob Bürgergeld bezogen werden kann. Auch ein Auto pro erwerbsfähige Person in der Bedarfsgemeinschaft ist gestattet. Nur bei weiterem Vermögen kommt es darauf an, ob dieses die vorgesehenen Freigrenzen überschreitet.
In den ersten beiden Jahren sind 60.000 Euro für eine Person sowie 30.000 Euro für jede weitere Person einer Bedarfsgemeinschaft frei. Ein Elternpaar mit drei Kindern darf also 180.000 Euro auf dem Sparbuch haben und trotzdem Bürgergeld beziehen. Ab Jahr drei gilt eine Freigrenze von 15.000 Euro pro Person, wobei die Freibeträge innerhalb der Bedarfsgemeinschaft übertragen werden dürfen. Die fünf Personen zählende Familie dürfte also immer noch 60.000 Euro behalten – zusätzlich zu Autos, Wohneigentum und Altersvorsorge.
Der Gesetzentwurf der Ampel setzt auf Vertrauen: Vertrauen darin, dass die Angaben der Menschen, die Bürgergeld beantragen, schon stimmen werden. Zum Beispiel bei der Vermögensprüfung: Sie ist erst nach Ablauf von zwei Jahren vorgesehen. Bis dahin gilt laut Gesetzentwurf: „Es wird vermutet, dass kein erhebliches Vermögen vorhanden ist, wenn die Antragstellerin oder der Antragsteller dies im Antrag erklärt.“ Ähnlich ist es beim Wert eines Autos: „Die Angemessenheit wird vermutet, wenn die Antragstellerin oder der Antragsteller dies im Antrag erklärt.“ Eine Gerechtigkeitslücke, dafür aber auch einen großen Effizienzgewinn sieht DIW-Ökonom Haan bei den Freibeträgen. Er verweist darauf, wie aufwendig es ist, Vermögen zu berechnen und zu überprüfen. Für den Staat sei es unterm Strich besser, großzügige Freigrenzen zu setzen und so den Verwaltungsaufwand drastisch zu reduzieren. Die Anhebung der Schonvermögen sieht Ökonom Schäfer hingegen kritisch. „Schon im geltenden Recht sind die Schonvermögen zum Teil so hoch wie die Durchschnittsvermögen. Warum man da noch etwas drauflegt, verstehe ich nicht.“ Das Bürgergeld drohe daher für manche Menschen die Einladung zum vorgezogenen Ruhestand zu werden.
Geplant ist, dass in den ersten beiden Jahren des Bezugs die tatsächlich anfallenden Kosten für Wohnen und Heizung komplett übernommen werden. Das heißt: Es gibt trotz sehr hoher Energiepreise keinen Anreiz, weniger zu heizen. Das ist bei Hartz-IV anders: Die Heizkosten müssen angemessen sein, was im Einzelfall zu kompliziertem Streit führen kann. Auch die Größe einer Mietwohnung spielt zu Beginn keine Rolle. „Ich finde es schwierig, den Steuerzahlenden die größere Wohnung seines Nachbarn zahlen zu lassen, der vom Bürgergeld lebt. Das ist nicht nachvollziehbar und daher auch nicht vermittelbar“, sagt Schäfer.
DIW-Experte Haan dagegen sagt: Die Notwendigkeit, eine neue Wohnung zu suchen, binde enorm viele Ressourcen, etwa wenn Menschen ihren Kindern das soziale Umfeld erhalten möchten. „Es ist sinnvoller, wenn die Menschen in den ersten beiden Jahren den Kopf frei haben, um in den Arbeitsmarkt zurückzukehren“, sagt Haan.