© Bereitgestellt von Neue Zürcher Zeitung DeutschlandDer Wert des Euro sinkt. Kai Pfaffenbach / Reuters
Ist ein Euro bald nur noch einen Dollar wert?
Nachdem er allein in den vergangenen Stunden um bemerkenswerte 1,6 Prozent nachgegeben hat, scheint es nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis der Dollar-Wechselkurs unter die Parität fallen wird – so wie jüngst gegen den relativ starken Franken.
Die Diagnose ist relativ einfach. Schliesslich haben die Europäer lange Jahre naiv an den Erfolg ihrer Friedenspolitik geglaubt, zu wenig in die militärische Abschreckung investiert und stattdessen von der «Friedensdividende» profitiert. Was schien naheliegender, als sich im Erfolg der Exportindustrie zu sonnen, der indirekt auf den günstigen Import von Energie aus Russland und Rohstoffen aus den Schwellenländern zurückging – und die damit verbundenen Risiken einfach zu ignorieren. Inzwischen zeigt sich die Kehrseite der Medaille. Seit dem brutalen Überfall Russlands auf die Ukraine müssen die Europäer nicht nur
mehr für ihre Verteidigung ausgeben, sondern sie zahlen nun auch deutlich höhere Preise für den Import von Energie und Rohstoffen.
Die Europäische Zentralbank hat die Inflation verschlafen
Und das ausgerechnet in einer Zeit, in der die extremen geld-, wirtschafts- und finanzpolitischen Strategien der vergangenen Jahrzehnte aufgrund der Pandemie richtig überstrapaziert worden sind und zu einer inflationären Überhitzung in den europäischen Dienstleistungs-, Güter- und Finanzmärkten geführt haben. Nun rächt es sich, dass die Europäische Zentralbank (EZB) die inflationäre Entwicklung völlig verschlafen hat und überhaupt noch nicht auf die geldpolitische Bremse getreten ist, um die Entwicklung nicht ausser Kontrolle geraten zu lassen. Sie kommt zu spät, weil die stark steigenden Preise und das hohe Preisniveau die Investitionstätigkeit und den Konsum belasten, weswegen sich die Konjunktur abkühlt.
«Die Investoren sind sehr besorgt über alles, was Europa betrifft. Die jüngsten Handelsdaten aus Deutschland sind schlecht ausgefallen, und die Befürchtung, dass der Leistungsbilanzüberschuss durch die Energiepreise zunichtegemacht wird, ist weit verbreitet. Hinzu kommen Sorgen über die Fragmentierung der Finanzmärkte und die Befürchtung, dass die Weltwirtschaft nach Süden dreht», so fasst der Währungsstratege Kit Juckes von der französischen Grossbank Société Générale die Stimmung am internationalen Devisenmarkt zusammen.
Sollte sich auch aufgrund der Sanktionen gegen Russland die Energieversorgung nicht entspannen, droht in den Augen von Marktbeobachtern sogar eine Rezession, ohne dass die EZB mangels «Leitzinspuffer» die Möglichkeit hätte gegenzusteuern. Längst steht sogar der Verdacht im Raum, dass die europäischen Geldpolitiker kaum noch die Möglichkeit haben werden, ihre Geldpolitik zu straffen, weil der Kontinent schon vorher in eine Rezession abrutschen könnte. Genau diese Erwartung begrenzt die Zinsphantasie an den europäischen Zins- und Bondmärkten.
Die Amerikaner sind früher dran und haben mehr Spielraum
Ganz im Gegensatz zu den Amerikanern. In den USA kühlt sich die überhitzte Wirtschaft zwar auch ab, aber auf soliderem Niveau. Schliesslich ist das Land der unbegrenzten Möglichkeiten konjunkturell und bei der Energie- und Rohstoffversorgung weitgehend unabhängig vom Ausland, der Binnenkonsum ist bis anhin aufgrund der gewaltigen Stimulierungsmassnahmen der vergangenen Monate noch vergleichsweise robust, der Arbeitsmarkt ist trotz zunehmenden Entlassungen bei «gewinnfreien» Unternehmen im Tech- und Krypto-Bereich noch relativ angespannt – und diese Gesamtkonstellation lässt vermuten, dass die amerikanische Zentralbank (Fed) weiter Ernst macht und der hohen Inflation konsequenter begegnet als die Europäer.
Im Gegensatz zu den europäischen Schlafmützen ist das Fed schon im März zur Tat geschritten und hat den Leitzins seitdem drei Mal angehoben auf zuletzt 1,75 Prozent. Weitere Drehungen an der Zinsschraube sind ebenso zu erwarten wie auch die Verringerung der Wertpapierbestände in der Bilanz. Schliesslich muss die amerikanische Notenbank die ungewöhnlich gewaltige Geldlawine verkleinern, die sie in den vergangenen Monaten losgetreten hatte. Faktisch zwängen sich deren «inflationäre Folgen» seither durch die Wirtschaft des Landes wie der Buckel im Bauch einer Python, die sich mit einem Wildschwein voll gefressen hat und danach für die Verdauung einige Zeit braucht.
Der Dollar – auch stark wegen der Navy?
Im Gegensatz zum Euro ist der Dollar derzeit also trotz einer hohen Staatsverschuldung und trotz notorischen Leistungsbilanzdefiziten der USA nicht nur wegen des erwarteten Zins- und Wachstumsvorteils gefragt, sondern natürlich auch wegen seiner einzigartig dominierenden Stellung im Welthandel und im internationalen Finanzsystem, die wiederum ohne das militärische Potenzial im Hintergrund undenkbar wäre. «Nicht der Internationalismus macht den Freihandel unter Verwendung der amerikanischen Währung möglich, sondern es ist die amerikanische Navy», so argumentiert der konservative amerikanische Historiker Victor Davis Hanson. Auf dieser Basis lässt sich die relative Stärke des Dollar in den vergangenen Monaten erklären. Ein Trend, der erfahrungsgemäss länger anhalten kann als allgemein erwartet.
Er würde in den Augen von Fachleuten erst infrage gestellt, wenn sich die wirtschafts- und geopolitische Lage entspannen sollte. Wie George Saravelos von der Deutschen Bank beobachtet hat, ist der Dollar üblicherweise in Zeiten der Wachstumsverlangsamung gefragt. Sobald jedoch die ersten Marktteilnehmer das Ende der möglichen Rezession antizipieren, ist es mit der Herrlichkeit zumindest für eine gewisse Zeit wieder vorbei. Das gilt vor allem, wenn im Vorfeld hohe Inflationsraten im Spiel waren. In seinen Augen ist der Dollar bereits ziemlich weit gestiegen, und «die nächste grosse Bewegung geht eher nach unten als nach oben», so seine Einschätzung.
Die Bundesbank kritisiert die Europäische Zentralbank
Wenn er diese Rechnung nur nicht ohne den «europäischen Wirt» gemacht hat. Schliesslich scheint in Europa eine weitere Strukturkrise nicht ausgeschlossen zu sein, nachdem der Bundesbankpräsident Joachim Nagel die Europäische Zentralbank für die geplante Einführung von Instrumenten zur «Bekämpfung» von Renditeunterschieden in den europäischen Bondmärkten kritisiert hat. Er argumentiert: «Allenfalls in Ausnahmesituationen und unter eng gesteckten Voraussetzungen lassen sich ungewöhnliche geldpolitische Massnahmen gegen die Fragmentierung rechtfertigen.»
Sonst könne Europa «schnell in gefährliches Fahrwasser» geraten, falls es keine harten Kriterien für ihre Verwendung geben sollte. Diese Formulierung deckt sich mit den rechtlichen Bedenken, die das deutsche Bundesverfassungsgericht schon früher geäussert hat, wo die Zulässigkeit eines solchen Instruments letztlich überprüft werden könnte.