Arbeiten an der Belastungsgrenze: Ein Polizist überwacht den Eingang des Gewahrsamsbereichs der Bundespolizeiinspektion Ludwigsdorf.© Hannes Jung
Die zwei Männer aus Afghanistan haben es eigentlich schon geschafft. Gemeinsam mit 15 weiteren Erwachsenen und einem Jungen hängen sie in einem kleinen Raum ab; einige liegen auf Pritschen, einen Arm über das Gesicht gelegt, andere stehen am Fenster und schauen durch die Jalousie nach draußen auf die Autobahn.
Die Luft steht in dem kleinen Gebäude am einstigen Grenzübergang Ludwigsdorf bei Görlitz, direkt an der A 4 nach Polen. „Wir verstehen nicht, dass wir zurücksollen“, sagt einer der Männer aufgeregt in gebrochenem Englisch. „Alle dürfen bleiben, nur wir sollen zurück nach Polen. Warum?“ Die beiden hätten da wohl etwas falsch verstanden, sagt einer der Bundespolizisten. Hier, im sogenannten Check-out-Raum, warteten nur Migranten, die in eine der drei sächsischen Erstaufnahmeeinrichtungen nach Chemnitz, Dresden oder Leipzig weiterfahren dürften.
Migranten an der deutsch-polnischen Grenze: Passschnipsel in der Toilette© F.A.Z.
Pro Tag etwa 100 illegale Einreisen
„Inzwischen greifen wir pro Tag durchschnittlich hundert Menschen auf, die illegal eingereist sind“, sagt Ivonne Höppner, Sprecherin der Bundespolizeiinspektion Ludwigsdorf.© Hannes Jung
Der Raum ist die letzte Station eines viele Stunden dauernden Prozederes, bei dem die Migranten registriert, durchgecheckt und erstversorgt werden. In den sonst verlassenen einstigen Abfertigungsgebäuden herrscht in diesen Tagen Hochbetrieb, und ein Ende ist nicht abzusehen. Bereits seit Jahresbeginn wächst die Zahl der Menschen, die hier via Polen illegal nach Deutschland einreisen, und jetzt im Sommer ist sie noch einmal stark gestiegen.
Abwarten: Migranten vor der Fahrt zur Erstaufnahmeeinrichtung© Hannes Jung
Die Grenzregionen zu Polen in Ostsachsen und zur Tschechischen Republik im Erzgebirge sind inzwischen Brennpunkte des zunehmenden Migrationsgeschehens, das sich auch in der stark zunehmenden Zahl an Schleusungen widerspiegelt. Kaum ein Tag vergeht, an dem die Polizisten nicht überladene Autos oder Kleintransporter erwischen, in die viel zu viele Menschen gepfercht sind, um sie für immense Summen nach Deutschland zu bringen.
Am Montagmorgen gegen 2.30 Uhr etwa wollte die deutsch-polnische Streife auf der A 4 in Polen einen Ford Transit stoppen. Der Fahrer gab Gas, raste über die Grenze nach Deutschland, ließ den Wagen auf der Überholspur ausrollen, sprang aus dem Fahrzeug und versuchte, über die Gegenfahrbahn zu entkommen. Zugleich öffneten sich die Türen zum Laderaum, aus dem – wie die Beamten später feststellten – 18 Menschen sprangen und nun ebenfalls über die Fahrbahnen liefen. Zurzeit ist hier wegen Bauarbeiten die Geschwindigkeit auf 80 Kilometer pro Stunde begrenzt, dennoch war, zumal in der Dunkelheit, die Lage lebensgefährlich für alle Beteiligten.
Der Bundespolizei gelang es, alle Migranten nebst Fahrer wieder einzusammeln. Sie alle stammen aus der Türkei, der Schleuser wurde festgenommen, ebenso wie auf polnischer Seite drei Georgier, die mutmaßlich an der Schleusung beteiligt waren. Nur wenige Stunden später entdeckten die Beamten auf der hier parallel zur A 4 verlaufenden Bundesstraße 6 einen Citroën Jumper ebenfalls mit polnischem Kennzeichen. Am Steuer saß eine Frau, die der Aufforderung, anzuhalten, folgte. Als sie die Türen zum Laderaum öffnete, kamen 26 Menschen aus Syrien zum Vorschein, sie waren stehend hineingepresst. Die Fahrerin, eine 41 Jahre alte Frau aus der Ukraine, wurde festgenommen.
Die Bundespolizei hat eine einstige Fahrzeugreparaturhalle und ein Nebengebäude zu einer „Bearbeitungsstraße“ umgebaut.© Hannes Jung
„Inzwischen greifen wir pro Tag durchschnittlich hundert Menschen auf, die illegal eingereist sind“, sagt Ivonne Höppner von der Bundespolizeiinspektion Ludwigsdorf. Das seien mehr als doppelt so viele wie vor einem Jahr. Allein am vergangenen Wochenende waren es 210 Migranten, die zum Teil bei Kontrollen entdeckt oder nach Hinweisen von Bürgern aufgegriffen wurden.
„Wir arbeiten hier am Limit“
Die Schleuser setzen ihre „Fracht“ meist schnell nach dem Grenzübertritt ab, sodass die Menschen dann oft orientierungslos umherlaufen. So fand die Polizei in Ostsachsen am Samstag 13 türkische Staatsbürger an einer Tankstelle und 21 Männer und zwei Frauen aus Syrien an einer Bushaltestelle. Darüber hinaus sammelten die Einsatzkräfte in mehreren Dörfern insgesamt 18 syrische und sieben türkische Staatsbürger ein, darunter fünf Kinder. Am Sonntag ging es ähnlich weiter: 13 Menschen aus Syrien, acht aus Afghanistan sowie je vier aus Somalia, Eritrea und der Türkei sowie bei zwei Aufgriffen jeweils knapp zwei Dutzend Syrer. Und da hatte der Tag gerade erst begonnen.
Die Bundespolizei in Ludwigsdorf ist inzwischen ziemlich überlastet. Unterstützung erhält sie von der Bundesbereitschaftspolizei, deren Kräfte sich zugweise im Wochenrhythmus abwechseln. Diese Woche sind es 32 Polizisten aus Uelzen, die an der gesamten Kette von der Registrierung der Migranten bis zur Überweisung in eine Erstaufnahmeeinrichtung eingesetzt sind. Provisorisch haben sie dafür die einstige Fahrzeugreparaturhalle sowie ein Nebengebäude zu einer „Bearbeitungsstraße“ umgebaut. Die Halle ist mit Bauzäunen in mehrere Räume geteilt, Planen dienen als Sichtschutz, Spanplatten als provisorischer Fußboden.
„Wir arbeiten hier am Limit“, sagt Pascal Ludolfs, der Zugführer aus Uelzen, der den Überblick zu behalten versucht. An der westlichen Giebelwand dösen die „Neuankünfte“ im Schatten: drei Männer und eine Frau aus Nepal, zwei Männer aus Indien, zwei aus Afghanistan, alle mittleren Alters. Es ist drückend heiß.
Vier Monate seien sie unterwegs gewesen, über Russland, Belarus und Polen nach Deutschland gekommen, erzählt ein Nepalese. „Deutschland ist sehr gut“, sagt er auf Englisch. Ihr Plan sei jedoch, nach Portugal weiterzureisen. Die Inder dagegen wollen in Deutschland bleiben. Auf ihrem Weg bis an die Grenze seien sie tagelang ohne Essen gewesen, erzählt der Jüngere der beiden. In Belarus seien sie in den Bauch und auf die Beine geschlagen worden, auch das Handy habe man ihnen gestohlen. Jetzt warten sie auf die Registrierung.
Die meisten Migranten haben nicht viel bei sich
Jeder von ihnen bekommt ein gelbes Armband mit einer Nummer, dieselbe wiederum klebt an einer Plastikbox, in der alle ihre Habseligkeiten verstaut werden. „Meist ist das nicht viel“, erzählt Ludolfs. Ein Handy, Ringe, etwas Bargeld. Manche hätten einen Beutel oder kleinen Rucksack mit etwas Kleidung dabei, die meisten jedoch kämen ohne Gepäck.
In einem Lagerraum steht hier – neben Wasser und Lebensmitteln – auch ein Regal mit Spenden: Pullover, T-Shirts, Schuhe sowie Spielzeug. Hinter dem Registriertisch im Regal liegen Formulare in gut zwei Dutzend Sprachen, darunter auch kurdische Dialekte wie Sorani und Bahdini oder Dari, Paschtu und Farsi, die unter anderem in Afghanistan gesprochen werden. „Wir haben auch einen Kollegen, der Arabisch spricht“, sagt Ludolfs. „Das hilft sehr.“
Die Papiere dienen der Registrierung und Aufklärung. Dass etwa das jeweilige Konsulat der illegal eingereisten Menschen informiert werden kann, lehnten fast alle ab. Die Gefahr, einen neuen Pass ausgestellt zu bekommen und gar in ihre Heimat zurückkehren zu müssen, sei vielen zu groß, sagt Ludolfs. An diesem Vormittag liegt nur in einer der Boxen ein afghanischer Pass. Die meisten hätten gar keine Papiere; erst am Morgen haben Mitarbeiter Passschnipsel aus einer der Toiletten gefischt. Ab und an finden die Beamten auch bei der auf die Registrierung folgenden Durchsuchung noch Papiere in Schuhen oder Unterwäsche.
Nacheinander gehen die Menschen in die einzelnen Kontrollbereiche. Einer davon ist an diesem Morgen geschlossen, weil zuvor ein Mann mit einer mutmaßlich ansteckenden Hautkrankheit aufgefallen war. Ihn hat der Rettungsdienst ins Krankenhaus gebracht. Für die Polizisten, die hier in Schutzwesten arbeiten, ist das alles andere als leichte Arbeit.
Doch die Stimmung ist ruhig unter den Migranten, beinahe apathisch. „Selten ist jemand aufgebracht“, sagt Ludolfs. „Die meisten sind einfach nur müde und zufrieden, Deutschland erreicht zu haben.“ An der folgenden Station prüfen die Beamten Dokumente – falls vorhanden – sowie Fingerabdrücke. So können sie sehen, ob die Menschen schon einmal einen Asylantrag in einem EU-Staat gestellt haben.
Meistens sei das nicht der Fall, sagt Ludolfs, weshalb die Menschen auch nicht zurückgeschickt werden könnten. Auf dem Gang hängen Whiteboards, auf denen Datum, Ort und Anzahl der aufgegriffenen Menschen notiert sind, die jetzt etwa einen Tag lang in Ludwigsdorf bleiben; sie sind hier auch wegen illegalen Grenzübertritts in Gewahrsam.
Gerade staut es sich an der Befragungsstation, weil ein somalischer Dolmetscher fehlt. Er kommt erst kurz vor Mittag aus Dresden am Bahnhof in Görlitz an, dann geht es weiter. Die Erwachsenen liegen erschöpft auf Feldbetten, vor der Halle aber ist Lachen zu hören. Kinder haben eine blaue Plane auf dem Asphalt ausgebreitet, sie spielen mit Plüschtieren und Bausteinen.
Wer Arabisch spricht, darf jetzt vor, der Dolmetscher ist gerade da. Ob die Fluchtgeschichten und persönlichen Schicksale auch belastend für die Polizisten sind? „Ich achte auf meine Leute, dass es ihnen gut geht“, sagt Ludolfs. An Bahnhöfen, wo sie auch oft eingesetzt seien, gebe es zum Teil noch härtere Schicksale. „Die meisten verarbeiten das sehr professionell.“ Freilich ähnelten sich auch viele Geschichten. Männer aus Syrien berichteten meist, vor dem Wehrdienst geflüchtet zu sein, andere erzählten von Krieg und politischer Verfolgung in ihrem Heimatland – weil sie es tatsächlich erlebt haben oder weil sie glauben, dass damit ihre Chance zu bleiben steigt.
Auch zu Schleusern und Routen stellen die Polizisten Fragen, doch häufig seien die Antworten unergiebig. „Manche wissen noch, ob ein Mann oder eine Frau am Steuer saß, aber viel mehr erfahren wir oft nicht.“ Die Fahrer der Schleusertransporte wiederum sind oft nur kleine Lichter. Die Hintermänner der Banden, die laut Aussage der Bundespolizei mit dem Schleusen von Menschen inzwischen mehr Geld als mit Drogen- und Waffenschmuggel verdienen, werden nur selten gefasst.
Doch ist das „Geschäft“ lebensgefährlich. Erst Ende Juli überschlug sich auf der A 17 bei Pirna ein Kleintransporter auf der Flucht vor der Polizei. Eine auf der Ladefläche eingepferchte Frau starb, sieben weitere Personen, darunter auch Kinder, wurden schwer verletzt. Ob sich Ereignisse wie diese unter Migranten herumsprechen, wissen die Beamten nicht. Und selbst wenn: Die Menschen nehmen das Risiko offensichtlich in Kauf.
Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) warnte deshalb am Montag vor einem Kontrollverlust. „Aktuell wird die Migration weder von der EU noch der Bundesrepublik, sondern von kriminellen Strukturen wie Schlepperorganisationen gesteuert.“ Auch deshalb plädierte er abermals für eine gesellschaftsübergreifende Kommission, die Wege für eine gesteuerte Migration finden soll. Etwa 200.000 Migranten im Jahr seien verkraftbar, sagte Kretschmer. Derzeit bewege man sich jedoch auf das Doppelte zu.
Zugleich forderte er abermals temporäre Grenzkontrollen, weil über Polen und die Tschechische Republik mehr Flüchtlinge einreisten als irgendwo sonst in Deutschland. Die Bundespolizisten in Ludwigsdorf wollen nicht sagen, ob ihnen Grenzkontrollen die Arbeit erleichtern. Weniger Migranten würden es deshalb wohl ohnehin nicht werden.
Nach der Befragung müssen die Erwachsenen zum Erkennungsdienst, wo Abdrücke aller Finger genommen und Fotos von ihnen gemacht werden. Das dient auch den Ermittlungen wegen illegaler Einreise, die meistens zwar eingestellt werden. Vor allem aber sind die Menschen nun im deutschen Ausländerzentralregister vermerkt, und zugleich wird europaweit geprüft, ob sie schon einmal straffällig geworden sind.
Anschließend erläutern ihnen die Beamten, wiederum mit Dolmetschern, wie es nun für sie weitergeht: Im bereits erwähnten Check-out-Raum erhalten jeweils fünf Menschen eine Gruppenfahrkarte für die Bahn. Sie bekommen ihre persönlichen Sachen zurück sowie gut ein Dutzend Formulare in ihren Landessprachen, wo abermals alle Erläuterungen stehen. Sammeltaxis bringen sie zum Bahnhof nach Görlitz, von wo sie in die ihnen zugewiesene Erstaufnahmeeinrichtung (EAE) fahren.
Dort kämen die allermeisten dann auch tatsächlich an, heißt es aus der dafür im Freistaat zuständigen Landesdirektion. Aufgrund der steigenden Zahl an Migranten hat die Behörde die Kapazität der drei EAE um ein Viertel auf rund 8000 Plätze erweitert. Bei der Polizei in Ludwigsdorf wiederum reicht der Platz längst nicht mehr aus. Inzwischen leiten die Beamten neu aufgegriffene Menschen auch an andere Dienststellen in Sachsen weiter.