Die starke illegale Migration über Osteuropa alarmiert die Polizeigewerkschaften. Sie warnen vor einer noch stärkeren Migrationsbewegung im Herbst. Auch an den Grenzübergängen zu Polen und Tschechien müsse es etwa die Möglichkeit zu Zurückweisungen geben. Der Hebel liegt bei der Innenministerin.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) Revierfoto/dpa/picture alliance; Geisler-Fotopress/picture alliance; Montage: Infografik WELT© Bereitgestellt von WELT
Die illegale Migration nimmt weiter drastisch zu. Bis Ende Juni registrierte die Bundespolizei mehr als 45.300 unerlaubt nach Deutschland eingereiste Personen, 50 Prozent mehr als im entsprechenden Vorjahreszeitraum. Zudem liegen die Zuwanderungszahlen erfahrungsgemäß in der zweiten Jahreshälfte stets deutlich über denen aus dem ersten Halbjahr. Sachsens Innenminister Armin Schuster (CDU) und die Gewerkschaft der Polizei (GdP) warnen daher vor einer noch stärkeren Migrationsbewegung im Herbst und sorgen sich vor allem um die bisher schlechter gesicherten Grenzen Richtung Osteuropa.
„Es ist dringend notwendig, endlich den rechtlichen Status der Bundespolizei an den Grenzen zu Polen und Tschechien zu ändern“, sagt der GdP-Vorsitzende für die Bundespolizei, Andreas Roßkopf, WELT. Noch weigere sich Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) aber, die notwendigen Schritte in Brüssel zu unternehmen. „Daher dürfen die Bundespolizisten bei illegalen Übertritten im Osten niemand zurückweisen, anders als in Bayern.“ Bei einem Treffen mit Faeser Mitte August wolle die Gewerkschaft sämtliche Argumente erneut vorbringen, so Roßkopf. Auch der GdP-Bundesvorsitzende Jochen Kopelke und der Chef der Bundespolizei in der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), Heiko Teggatz, fordern die Bundesregierung dringlich zum Handeln auf.
Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) hatte kürzlich bei einem Treffen mit ihrem tschechischen Amtskollegen Jan Lipavsky erneut betont, dass die Bundesregierung keine stationären Kontrollen wolle. Täglich pendelten über die deutsch-tschechische Grenze 70.000 Menschen, für die Arbeit, Besuche oder zum Einkauf – das seien der „Pulsschlag der Regionen und der Pulsschlag Europas“, so Baerbock. Gerade die Corona-Pandemie habe gezeigt, wie sehr geschlossene Grenzen schaden könnten. Faeser argumentiert ähnlich.
Wie die Polizeigewerkschaften verlangt auch die Opposition im Bundestag, die irreguläre Migration an der Grenze zu Polen und Tschechien nicht weiter aus dem Ruder laufen zu lassen. Faeser dürfe „nicht länger wegschauen“, mahnt die Vize-Fraktionschefin der Union, Andrea Lindholz (CSU). Die AfD-Bundesvorsitzende Alice Weidel ist allerdings überzeugt, dass die Forderung der Polizeigewerkschaften ungehört bleibe: „Die Ampel-Regierung hat wiederholt gezeigt, dass sie gar nicht gewillt ist, die massenhafte Einwanderung in die deutschen Sozialsysteme auch nur zu begrenzen.“
Frankreich als Vorbild?
Die Krux liegt in der sogenannten Notifizierung, die laut Gewerkschaften dringend angegangen werden müsste. Dafür müsste die Bundesinnenministerin von der EU grünes Licht erbitten, wenn sie eine Grenze stärker kontrollieren lassen will. GdP-Bundeschef Kopelke schlug daher gerade vor, die gesamte Grenze in Ostdeutschland notifizieren zu lassen, um dort „ein System der flexiblen Kontrollen an wechselnden Schwerpunkten wie in Frankreich zu ermöglichen“.
Einwänden, diese Notifizierung führe automatisch zur Einrichtung stationärer Grenzkontrollen, die Faeser nicht will und nur als „Ultima Ratio“ akzeptiert, weist Gewerkschafter Roßkopf zurück. Zwar müssten in der Tat in Brüssel sämtliche Grenzübertretungsstellen konkret beantragt werden. Zwischen Bayern und Österreich sind das lediglich fünf Orte, wo auch tatsächlich stationäre Kontrollpunkte eingerichtet wurden. Die Genehmigung ist temporär, im Juni hat Faeser sie erneut um ein halbes Jahr verlängert.
„Das Beispiel Frankreich zeigt aber, dass ein Land auch einfach sämtliche Grenzübergänge auflisten und notifizieren kann“, so Roßkopf. Anfang Mai hatte Frankreich, befristet zunächst auf ein halbes Jahr, für seine Grenzen und auch den Luftraum die Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen in Brüssel beantragt.
„Nach erfolgter Notifizierung kann flexibel und je nach Lage entschieden werden, ob auf feste Kontrollposten oder Schleierfahnder gesetzt wird“, erläutert Roßkopf. Auch letztere hätten dann aber die rechtliche Befugnis zur Zurückweisung, was derzeit in Richtung osteuropäischer Nachbarländer noch nicht der Fall sei.
Der Bayern-Chef der Polizeigewerkschaft DPolG, Jürgen Köhnlein, betont, wie erfolgreich variable Grenzkontrollen seien. „Standkontrollen, wie sie an der deutsch-österreichischen Grenze ja schon praktiziert wurden, sprechen sich herum, dann werden Ausweichrouten gewählt. Deshalb sind wir hier für eine Stärkung der Schleierfahndung.“ Zugleich müsse es aber die Möglichkeit geben, Kontrollen direkt an der Grenze durchzuführen – und das gehe eben nur durch eine Notifizierung. „Deshalb sind die Voraussetzungen zu schaffen. Wie dann die Kontrollen durchgeführt werden, muss eng mit der Bundespolizei abgestimmt werden.“
Allerdings warnt Roßkopf vor übersteigerten Erwartungen. Die Notifizierung sei eine Erweiterung der Möglichkeiten, löse aber das Problem der illegalen Übertritte nicht. „Zurückgewiesen werden darf nur, wer bereits Asyl in einem anderen EU-Land beantragt hat oder für den eine Wiedereinreisesperre besteht.“ Immerhin sei das aber an der bayerisch-österreichischen Grenze im vergangenen Jahr in 15.000 Fällen gelungen, betont Heiko Teggatz von der DPolG. „Das ist durchaus eine spürbare Entlastung.“
Außerdem hoffe er: „Das löst eine abschreckende Kettenreaktion aus, und das soll es auch. Dadurch würde nämlich beispielsweise Tschechien signalisiert, ihre Grenzen Richtung Ungarn und Slowakei besser zu schützen. Denn wer an der deutsch-tschechischen Grenze ankommt, hat womöglich schon vier EU-Staaten durchreist, ohne Asyl zu beantragen. Das heißt für mich als Praktiker: Irgendwas funktioniert hier in Schengen nicht richtig.“
Um für die Monate mit stark steigender illegaler Migration im Herbst ausreichend vorbereitet zu sein, müsse die Option für Grenzkontrollen baldmöglichst geschaffen werden, mahnt Sachsens Innenminister Schuster. Das sei auch mit Blick auf zunehmende Aggressivität der Schleuser wichtig. Diese pferchten immer mehr Menschen in ihre Autos und seien teils höchst riskant unterwegs; bei der Flucht eines überfüllten Kleintransporters sei im Juli eine Frau gestorben.
Die Notifizierung in Brüssel und die Abstimmung mit den Nachbarstaaten dauerten rund einen Monat. „Wann die Grenzkontrollen dann tatsächlich eingeführt würden, wäre damit noch nicht beschlossen. Aber wir sind ab September handlungsfähig und könnten sie einführen, wenn es notwendig wird.“