Flüchtende an einem Grenzübergang in Afghanistan. IMAGO/Xinhua© IMAGO/Xinhua
Die Union schlägt die Abschaffung des individuellen Asylrechts vor. Angesichts der chaotischen Migrationsverhältnisse in Europa ist das nur konsequent. Aber ist die CDU auch bereit für den Abschied von der Ära Merkel?
Das europäische Asylrecht und die deutsche Asylpraxis gründen auf einer „Lüge“. Und die „Heuchelei“ Europas inklusive Deutschlands besteht darin, dass wir ein nahezu unbegrenztes Asylversprechen abgegeben haben, das wir jedoch niemals einlösen würden. Oder wollen wir etwa jene 35 Millionen Afghanen als Flüchtlinge aufnehmen, die aufzunehmen wir verpflichtet wären, machten sie sich auf den Weg nach Europa und nach Deutschland?
„Niemand denkt auch nur im Traum daran, das zu tun“, sagt Thorsten Frei, der engste Vertraute von Friedrich Merz in der Unionsfraktion.
Frei ist nicht irgendwer – er ist in der Hierarchie der Union die Nummer drei – nach Fraktionschef Friedrich Merz und dem CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt. Frei ist Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der Union – also der, der den Laden zusammenhält und seinem Fraktionschef innerhalb der Fraktion die Mehrheitsfähigkeit sichert.
Deutschlands Flüchtlingspolitik wird seit mehr als zehn Jahren nicht mehr in Berlin bestimmt
Beim Asylrecht hat Deutschland schon lange nichts mehr zu sagen. Deutschlands Flüchtlingspolitik wird seit mehr als zehn Jahren nicht mehr in Berlin, sondern in Brüssel gemacht. So ist es im „Lissabon“-Vertrag geregelt, der seit 2009 in Kraft ist und deutsches Asylrecht ersetzt. In Kombination mit „liberaler“ europäischer und deutscher Rechtsprechung durch das Bundesverfassungsgericht ist ein Asylrecht entstanden, das zu den Zuständen führt, die quer durch Europa inzwischen beklagt werden.
Frei hat für die Veröffentlichung seiner Ansichten über dieses Zentralthema der deutschen Innenpolitik die Form eines Namensartikels gewählt, und zwar in der „FAZ“. Namensartikel in der „FAZ“ haben für die Union einen Signalcharakter, seitdem Angela Merkel auf diesem Weg den in der Spendenaffäre schwer belasteten CDU-Parteichef Helmut Kohl aufs Altenteil schickte.
Die Union schickt Angela Merkels „Wir-schaffen-das“-Politik aufs Altenteil
Und nun, so lässt sich lesen, was Frei veröffentlicht, schickt die Union Angela Merkels „Wir-schaffen-das“-Politik aufs Altenteil. So schonungslos wie realistisch geht Frei mit der Asylrechtspraxis in Deutschland und Europa um:
„Dementsprechend tut Europa alles dafür, dass möglichst wenige dieses Recht in Anspruch nehmen: Wir machen uns mit Autokraten gemein, damit sie Menschen von unseren Grenzen fernhalten, und sehen weg, wenn Staaten zu illegalen Zurückweisungen an den EU-Außengrenzen schreiten. Damit möglichst wenig Menschen ihr Recht in Anspruch nehmen, knüpfen wir es an die Voraussetzung eines Antrages auf europäischem Boden und initiieren damit einen viel zu oft tödlich verlaufenden Wettlauf, in dessen Rahmen nur eines gilt: das Recht des Stärkeren.“
Das Ergebnis ist die alte, globale Ungerechtigkeit – eine inhumane Auswahl: Der Stärkste überlebt, die Schwächste hat keine Chance auf Asyl. Frauen und Kinder sind in der Regel chancenlos, und die Scharen junger Männer aus arabischen oder afrikanischen Ländern, meistens Muslime, gelten inzwischen auch in den sie aufnehmenden Staaten als „hochproblematisch“. Europa gelingt es nicht mehr, zwischen Schutzbedürftigen und Wirtschaftsmigranten zu unterscheiden.
Reform geht nicht mehr, eine Revolution muss her.
Gibt es überhaupt eine Alternative? Im bestehenden Asylsystem sicher nicht, sagt Frei. Der damit mehr als skeptisch schaut auf die gegenwärtig laufenden europäischen Verhandlungen. Eine grundlegende Verbesserung der Situation ist laut dem CDU-Politiker nicht zu erwarten – Frei ist der erste Spitzenpolitiker, der das offen ausspricht. Selbst die wenigen „Verschärfungen“ hatten in der Ampelkoalition für erhebliche Turbulenzen gesorgt. Die Grünen mussten einen Sonderkonvent abhalten, um ihren gesinnungsethischen Flügel bei der Stange zu halten.
Ergo: Reform geht nicht mehr, eine Revolution muss her. Thorsten Frei: „Europa kann diesen Teufelskreis nur beenden, wenn es sein Asylrecht neu gründet: Aus dem Individualrecht auf Asyl muss eine Institutsgarantie werden.“
Die Folgen wären einschneidend: Eine Antragstellung auf europäischem Boden wäre nicht länger möglich, der Bezug von Sozialleistungen und Arbeitsmöglichkeiten „umfassend ausgeschlossen“. Würde damit Europa seine Grenzen für Flüchtlinge dicht machen?
300.000 bis 400.000 Menschen über Kontingente sicher nach Europa bringen
Nein, sagt der Christdemokrat. Europa könnte ein Kontingent von Schutzbedürftigen direkt aus dem Ausland aufnehmen. Frei nennt auch Zahlen dafür: 300.000 bis 400.000 Menschen. Europa könnte dann den Schwächsten helfen – und gleichzeitig seine „Sicherheitsrisiken“ minimieren. Darüber, über die mit den Flüchtlingen eingewanderte Kriminalität, durfte in der Union faktisch nicht geredet werden, solange Angela Merkel Bundeskanzlerin war.
Es ist ein Vorschlag, der sich an den inzwischen in vielen Staaten für untragbar gehaltenen Verhältnissen ausrichtet. Er ist konsequent – und doch ist er unrealistisch. Vorerst jedenfalls. Und völlig chancenlos ist er bei der Ampelregierung. Sie macht eine Migrationspolitik, die nicht auf Begrenzung ausgerichtet ist, sondern eine, die aus geduldeten Flüchtlingen anerkannte Asylbewerber macht. Und ihnen dann einen Einbürgerungsanspruch zuspricht.
Es gibt also jetzt eine klare, demokratische Alternative. Spannend wird sein, ob die CDU da mitgeht. Sie koaliert in großen Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Hessen mit den Grünen. Und für die Grünen ist die Abschaffung des individuellen Asylgrundrechts eine einzige No-Go-Area.