Annalena Baerbock imago images/Chris Emil Janßen© imago images/Chris Emil Janßen
Die grüne Basis und die grünfreundliche Lobby wollen verhindern, dass die Grünen eine europäische Verschärfung der Flüchtlingspolitik mittragen. Auf die grüne Waffenwende soll nicht auch noch eine grüne Asylwende folgen. Die zentrale Figur dabei: Annalena Baerbock.
Die grüne Parteibasis ist „erschüttert“ über den Asyl-Kurs der Bundesregierung. Sie hat recht, denn: Der Plan der Europäischen Kommission zur Verschärfung des Asylsystems in Europa, der von der Bundesregierung gestützt wird - auch von der grünen Außenministerin - ist so ungrün wie Currywurst mit Fritten.
Einer der Erschütterten ist der Vorsitzende der grünen Jugend. Timon Dzienus fordert von den eigenen grünen Leuten in der Ampel-Regierung: „Den Kurs der Abschottung dürfen wir nicht mittragen.“ Es handle sich um einen „krassen Angriff auf das individuelle Asylrecht“. „Krass“ sei auch, dass die FDP auch Minderjährige an den europäischen Außengrenzen „einsperren“ wolle.
Nach der Waffen- stehen die Grünen vor der Asylwende
Und was der grüne Jungmann Dzienus an der FDP „krass“ findet und wogegen er darum polemisiert, ist gar keine Erfindung der Liberalen. Sondern es steht in dem Vorschlag der EU-Kommission für ein neues Asylrecht. Demnach sollen an der Grenze Mütter mit Kinder nur dann nicht festgehalten werden, wenn die Kinder „unter 12 Jahre alt“ sind. Die grüne Bundesaußenministerin Baerbock will 18 Jahre durchsetzen, die FDP stützt den Kommissionsvorschlag. Das ist der ganze Konflikt.
Dass ein paar hundert Grüne einen Brief schreiben an ihre Spitzenleute, ist angesichts der jahrelangen, teils giftigen Diskussionen in Europa über das Asylrecht und die Aussicht auf einen „Durchbruch“ (Innenministerin Nancy Faeser) sicher realitätsblind.
Asylrecht: Baerbock will grüne Opposition und grüne Regierung zugleich sein
Andere Grüne oder grün Denkende wie Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer oder der bayerische Grünen-Landrat Marco Scherf leben tagtäglich eine Asyl-Realität aus Frustration und Überlastung und fordern deshalb eine Asylwende. Es ist also ein Krach innerhalb der Grünen, zwischen jenen, die lokal Verantwortung tragen, und den anderen, die sich wie Dzienus oder die hamburgische Justizsenatorin Gallina an grüne DNA klammern wie Robert Habeck an den Atomausstieg.
Irgendwo in der Mitte Annalena Baerbock. Sie will grüne Opposition und grüne Regierung zugleich sein. Den Brüsseler Vorschlag für Asyl-Zentren an den Außengrenzen findet sie einen „Fluch“, aber dann doch die einzige Chance, noch zu einem Kompromiss zu kommen.
Am Donnerstag und Freitag tagen Europas Innenminister, Faeser erhofft sich davon den „Durchbruch“. Für diese Hoffnung hat sie nicht nur sachlich-fachliche Gründe. Sollte der europäische „Durchbruch“ tatsächlich gelingen, böte sich Faeser die Chance, das Geburtsrecht dafür zu reklamieren. Und im hessischen Landtagswahlkampf aufzutreten als die Politikerin, die schaffte, was noch nie jemand vor ihr schaffte: die Asylzahlen in Europa und in Deutschland zu reduzieren.
Gegen die Protest-Truppe von „Pro Asyl“ wirkt der Aufruf von der Grünen-Basis geradezu putzig
Der Fairness halber: Die Grüne Jugend ist mit ihrer Opposition gegen die Flüchtlings-Begrenzung nicht allein. Auch die Jusos lehnen ab, was sich Ursula von der Leyens Kommission ausgedacht hat, übrigens schon 2020. Wie Baerbock und Habeck haben auch Scholz und Faeser es also mit einer innerparteilichen Opposition zu tun.
Und gegen die Protest-Truppe, die „Pro Asyl“ zusammengebracht hat gegen eine europäische Asyl-Verschärfung, wirkt der Aufruf von der Grünen-Basis geradezu putzig. Es sind 50, teils mächtige Organisationen, die gegen die Berliner und Brüsseler Pläne Sturm laufen, mit dabei:
Amnesty International, die Arbeiterwohlfahrt, der Paritätische (Wohlfahrtsverband), der Deutsche Caritasverband, Brot für die Welt, Terre des Hommes, mehrere Seenotrettungsorganisationen wie „Mission Lifeline“, und diverse evangelische Landeskirchen wie die im Rheinland.
Was diese Organisationen aufgeschrieben haben, ist hartes Brot für die Regierungs-Grünen, insbesondere für die Vertreterin einer „wertegeleiteten Außenpolitik“ im AA. Kostprobe aus dem gemeinsamen Aufruf:
„Anstatt sich dem Trend zur Entwertung europäischer Grund- und Menschenrechte und der Erosion rechtsstaatlicher Grundsätze entschieden entgegenzustellen, signalisiert die Regierung mit ihrer Position die Bereitschaft, diesen Weg um jeden Preis mitzugehen. Damit gerät sie in eklatanten Versprechen zu zentralen Versprechen des Koalitionsvertrags.“
Beim Asyl kommt der Tag der Wahrheit für die Grünen erst noch
Das stimmt sogar. Aber so, wie sich auch Wladimir Putin nicht an den Koalitionsvertrag der Ampelregierung gehalten hat, als er die Ukraine überfiel, nehmen auch die vielen Tausenden Asylbewerber, von denen mehr als die Hälfte keinen Anspruch auf Asyl haben, keine Rücksicht auf Scholz, Baerbock und Co.
Seit Beginn der Scholz-Regierung stehen Mal um Mal die Grünen vor der Frage: Wo mache ich einen Deal mit der Realität? Beim Ukraine-Krieg haben sie eine Waffenwende zu 180 Grad (nicht 360 Grad, wie Baerbock einmal irrte) hingelegt. In der Flüchtlingspolitik steuern sie auf eine Dreiviertelwende hin (so genau kann man das nicht messen…). Und auch beim Heizgesetz bemüht sich gerade Habeck, der ideologischen Gefangenschaft zu entkommen, in die sein Staatssekretär Patrick Graichen ihn genommen hatte.
Beim Asyl kommt der Tag der Wahrheit für die Grünen erst noch. Sollten sich Europas Innenminister tatsächlich einigen, was noch längst nicht sicher ist, muss die Bundesregierung entscheiden, ob sie dieser europäischen Lösung zustimmt. Dann stellt sich für die Grünen einmal mehr die Frage: alte Ideologie oder neue Wahrheit?
Lager an der Grenze, mehr sichere Drittstaaten, damit eine Rückkehr zum für Grüne verhassten Dublin-Verfahren, weniger rechtsstaatlich garantierte sichere Verfahren für Asylbewerber (inklusive massenhaftem, bislang aber von Grünen geduldeten Missbrauch) – für einen Grünen, der davon ausgeht, dass es für Menschenrechte keine Grenzen gibt, muss das alles eine große Zumutung sein.
Kann es bei so viel Zumutung auch ein konstruktives Argument geben, dass die Traditions-Grünen überzeugt? Vielleicht dieses: Nur wer früh und an der Grenze schon die Asyl-Antragsteller von den Asylberechtigten trennt, hilft den wirklich Verfolgten.