Als Folge des Ukraine-Krieges wächst die Einwohnerzahl in Deutschland in diesem Jahr so stark wie lange nicht mehr. Das geht aus vorläufigen Zahlen hervor, die das Statistische Bundesamt am Montag nach einer Sonderauswertung veröffentlichte.
Von Februar bis August 2022 wurden in Deutschland rund 952 000 Menschen registriert, die hier Zuflucht vor dem russischen Angriff auf die Ukraine Land suchten. Die Meldeämter erfassten auch rund 78 000 Fortzüge in die Ukraine. Daraus ergibt sich zunächst eine Nettozuwanderung von 874 000 Personen. Die Statistiker gehen aber davon aus, dass dieser Saldo niedriger ist, da sich viele Rückkehrer in die Ukraine nicht bei den Behörden abmelden.
Insgesamt sind zwischen Februar und August rund 1,8 Millionen Menschen aus dem Ausland nach Deutschland gezogen. Rund 700 000 Menschen zogen aus Deutschland fort. Daraus ergibt sich eine Nettozuwanderung von 1,1 Millionen. Das wichtigste Herkunftsland nach der Ukraine war Rumänien.
Eine ähnlich hohe Nettozuwanderung gab es laut der Statistikbehörde nur in den Jahren 1992 infolge der Grenzöffnungen in Osteuropa und des Krieges in Jugoslawien mit 782 000 im Gesamtjahr, sowie 2015 mit über 1,1 Millionen Menschen im Zuge der damaligen Fluchtbewegungen vor allem aus Syrien.
Die Forschungsabteilung der Deutschen Bank rechnet damit, dass die Zuwanderung insgesamt hoch bleibt. Im Jahr 2030 könnten in Deutschland nahezu 86 Millionen Menschen leben, fünf Millionen mehr als 2011. Dies sei ein "historischer Anstieg der Einwohnerzahl", schrieben die Ökonomen der Deutsche Bank Research im August.
Sie waren dabei für das gesamte Jahr 2022 von einem Nettozuzug von 1,7 Millionen Menschen im ausgegangen, davon 1,3 Millionen aus der Ukraine.
Der starke Zuwachs habe "bedeutende ökonomische Folgen", schreiben die Ökonomen der Deutschen Bank. Wirtschaftlich werde der Zuzug für Deutschland langfristig Vorteile haben. Für Klima und Umwelt falle die Bilanz eher negativ aus.
Im vergangenen Jahr waren 329.000 mehr Menschen nach Deutschland gezogen, als das Land verließen. Gleichzeitig überstiegen die Sterbefälle die Geburten deutlich. Die Einwohnerzahl erhöhte sich daher um gut 100.000.
"Dies hat bedeutende ökonomische Folgen"
Die Bank-Experten rechnen damit, dass die Netto-Zuwanderung über 2023 hinaus auf einem Niveau von über 300.000 Menschen im Jahr verharrt. "Den in vielen Studien unterstellten Rückgang auf jährlich nur 200.000 oder 200.000 Personen halten wir für falsch." Die Einwohnerzahl in Deutschland steige in der Folge bis zum Jahr 2030 auf nahezu 86 Millionen.
Die wirtschaftlichen Folgen für Deutschland bewerten die Ökonomen insgesamt positiv. Es gebe aber auch Risiken und kurzfristige finanzielle Lasten. Auf der negativen Seite verlängere der Anstieg der Einwohnerzahl den Wohnungsmangel, belaste kurzfristig die Staatshaushalte und erschwere es, die Ziele beim Klimaschutz einzuhalten.
Auf der positiven Seite würden Konsum und Wirtschaftswachstum angeregt, der Mangel an Arbeits- und Fachkräften gemildert und die negativen Folgen der alternden Gesellschaft gedämpft. Langfristig dürfte sich der Zuzug auch für die öffentlichen Finanzen lohnen, wenn gut ausgebildete Schüler und Hochschulabsolventen auf den Arbeitsmarkt kämen. "Insgesamt dürften mittelfristig die positiven Aspekte überwiegen", folgern die Bank-Ökonomen.
Deutschland leidet unter einem akuten Arbeitskräftemangel. Unternehmen konnten zuletzt fast zwei Millionen Stellen nicht besetzen. Die Lücke bei Arbeitskräften und besonders Fachkräften wächst, da die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer jetzt in Rente gehen und weniger junge Menschen ins Berufsleben einsteigen. Ökonomen halten daher eine Nettozuwanderung von mindestens 500.000 Menschen pro Jahr in den Arbeitsmarkt für nötig, um den Wohlstand in Deutschland und die Sozialsysteme stabil zu halten.