Grundschüler in Deutschland lesen viel schlechter als vor 20 Jahren. Dazu haben laut Iglu-Studie auch soziale und migrationsbezogene „Disparitäten“ beigetragen. Bildungsverbände rügen: Die Politik gehe das Problem nur halbherzig an – die mangelhafte Lesekompetenz werde zum gesellschaftlichen Problem.
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Der Bildungsökonom Ludger Wößmann hat vor einiger Zeit ein einprägsames Bild entwickelt. Wie in der Form eines traurigen Smileys hätten sich die Schulleistungen deutscher Kinder seit dem Pisa-Schock im Jahr 2000 entwickelt: Dank zahlreicher Reformen ging es in den darauffolgenden zehn Jahren in den Schulleistungstests aufwärts. Doch genauso kontinuierlich wie die Aufwärtsbewegung erfolgte danach wieder der Abstieg. Inzwischen ist Deutschland wieder am unteren Ende der absteigenden Mundwinkel-Kurve angelangt.
Den jüngsten Beleg dafür lieferten die Ergebnisse der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (Iglu), die alle fünf Jahre die Lesekompetenz von Kindern am Ende der vierten Jahrgangsstufe untersucht. Seit der letzten Iglu-Studie im Jahr 2016 sind die Leseleistungen der Viertklässler im Jahr 2021 noch einmal deutlich gesunken.
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Besorgniserregend sind die Befunde aber vor allem im unteren Leistungsspektrum. Ein Viertel aller Kinder erreicht inzwischen nicht mehr das erforderliche Kompetenzniveau im Lesen, um den Übergang in die weiterführende Schule erfolgreich zu meistern. Mit 25,4 Prozent liegt ihr Anteil über den Werten von 2001 (17 Prozent) und 2016 (19 Prozent).
6,4 Prozent der Kinder erreichen sogar nur die Kompetenzstufe eins, die mit einem „rudimentären Leseverständnis“ umschrieben wird. Auch der Anteil der besonders leistungsstarken Schülerinnen und Schüler ist nach einem vorübergehenden Anstieg seit 2016 wieder gesunken – von 11,1 auf 8,6 Prozent.
„Im Vergleich zu Beginn der Iglu-Studie 2001 ist die mittlere Lesekompetenz in Deutschland deutlich gesunken und die Leistungsstreuung gleichzeitig angestiegen“, sagte Studienleiterin Nele McElvany vom Institut für Schulentwicklungsforschung an der TU Dortmund. Die Kompetenzvorsprünge von Kindern aus sozial privilegierten Familien seien nach wie vor stark ausgeprägt, so McElvany. Auch die Unterschiede zwischen Muttersprachlern und Kindern anderer Herkunftssprache seien in Deutschland stärker ausgeprägt als im internationalen Vergleich.
„Die substanziellen sozialen oder migrationsbezogenen Disparitäten in Deutschland konnten seit 2001 nicht reduziert werden“, so McElvany. Ihr bitteres Fazit: „Mit Blick auf die Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit hat sich in Deutschland seit 20 Jahren praktisch nichts verändert.“
Dass dies kein unausweichlicher Automatismus sei, zeige das positivere Abschneiden anderer Staaten wie Finnland, Italien oder Slowenien mit geringeren sozialen Disparitäten oder Dänemark, den Niederlanden oder Tschechien, in denen sich weniger migrationsspezifische Unterschiede zeigten. Allerdings dürften auch die Corona-Pandemie und die damit einhergehenden Schulschließungen ihren Teil zu den schlechten Leistungen beigetragen haben.
Singapur hat Deutschland überholt
International beteiligten sich rund 400.000 Schülerinnen und Schüler; in Deutschland nahmen 4611 aus 252 vierten Klassen teil. Nach Auswertung der Ergebnisse wurden für die Länder Punktwerte vergeben. Den Spitzenplatz belegt Singapur mit 587, ganz hinten steht Südafrika mit 288 Punkten und einem extrem hohen Anteil von 81 Prozent Kindern, die nur rudimentäre Lesekenntnisse haben.
Das gute Abschneiden Singapurs sei deshalb besonders spannend, weil es 2001 in der Lesekompetenz im Schnitt noch hinter Deutschland gelegen habe, so die Studienleiterin. Das liege unter anderem daran, dass dort alle Kinder bereits in der ersten Klasse auf ihre Lesefähigkeit getestet würden. Bei Rückständen werde dann mit differenzierter Förderung gegengesteuert. „Diese Diagnostik mit gezielter Förderung müsste auch bei uns in den Grundschulen systematischer betrieben werden.“
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Eine Forderung, die aus Wissenschaftskreisen bereits seit geraumer Zeit erhoben wird – aber unter anderem an der prekären Personalsituation an deutschen Schulen scheitert. Mit Blick auf die begrenzten Ressourcen sei es notwendig, zunächst eine klare Prioritätensetzung auf die Sicherung der grundlegenden Kompetenzen vorzunehmen, heißt es dazu in der Studie. „Hierzu gehört auch, die Quantität der in Deutschland mit lesebezogenen Aktivitäten verbrachten wöchentlichen Unterrichtszeit zu erhöhen, die bisher im internationalen Vergleich unterdurchschnittlich ist.“
Die im Unterricht verbrachte Lesezeit liegt in Deutschland bei durchschnittlich 141 Minuten – im Durchschnitt der OECD-Teilnehmer sind es 205 Minuten, im Schnitt der EU-Teilnehmer 194 Minuten. Dafür lesen deutsche Kinder vergleichsweise viel in ihrer Freizeit – hier steht Deutschland an Platz vier der teilnehmenden Staaten.
Im 20-Jahres-Vergleich habe die Leselust zwar nachgelassen; im Mittel verfügten Viertklässler in Deutschland aber über ein positives Leseselbstkonzept sowie eine „eher hohe Lesemotivation“ – vor allem die Mädchen. Aber auch hier ist die Spreizung groß: Etwas mehr als ein Fünftel der Grundschulkinder liest allerdings nicht oder nur selten zum Vergnügen außerhalb der Schule.
Reaktionen zwischen Ernüchterung und Spott
Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, die Berliner Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU), nannte die Ergebnisse der Iglu-Studie „ernüchternd“. „Die Corona-Pandemie und eine zunehmend heterogene Schülerschaft stellen die Lehrkräfte vor immer größere Herausforderungen. Das ist uns bewusst, und wir werden uns diesen Herausforderungen stellen.“ Die Unterstützung durch den Bund sei dabei „außerordentlich wichtig“.
Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) sprach von „alarmierenden“ Ergebnissen. „Die Iglu-Studie zeigt, dass wir dringend eine bildungspolitische Trendwende benötigen, damit es mit den Leistungen unserer Kinder und Jugendlichen wieder bergauf geht.“
Sie nutzte die Gelegenheit, um erneut für das Startchancen-Programm für Brennpunktschulen zu werben, mit dem der Bund besonders benachteiligte Schulen in den kommenden zehn Jahren mit einer Milliarde Euro pro Jahr fördern will. Derzeit gibt es aber Streit mit den Ländern über die Verteilung der Mittel und die Co-Finanzierung durch die Länder.
Die Bildungsgewerkschaften jedenfalls reagierten mit Ernüchterung, fast Spott auf die Ergebnisse. „Das Messen der Wissenschaft und das Klagen der Politik kennen wir schon“, sagte Gerhard Brand, der Vorsitzende der Vereinigung Bildung und Erziehung (VBE). „Aber wie will Politik denn wirklich Schulen und Lehrkräfte entlasten, sodass der Fokus auf die Vermittlung basaler Kompetenzen gelingt?“
Die Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes, Susanne Lin-Klitzing sagte, das Problem der mangelhaften Lesefähigkeit sei schon seit Jahren bekannt, werde aber nur halbherzig angegangen. „Wir müssen hier durchgängig konsequenter fördern, fordern und strenger werden“, forderte sie. Dazu gehörten verbindlichen Sprachstandserhebungen deutlich vor Schulbeginn und einer daran anschließenden verbindlichen Sprachförderung für die betroffenen Kinder, wie Hamburg und Hessen dies praktizierten.
Schließlich sei Lesefähigkeit ein Grundpfeiler der Kommunikation, so Lin-Klitzing. „Die mangelnde Lesefähigkeit gefährdet letztlich nicht nur die gesellschaftliche Teilhabe zahlreicher Menschen, sondern auch den ganzen Wirtschaftsstandort Deutschland.“