Zitat von Gast am 26. September 2023, 07:21 Uhr
Schafft Habeck es die Kernkraft-Lücke zu schließen?: Das lange Warten auf neue Kraftwerke
Der die Energiewende des Wirtschaftsministers ist entscheidend, ob es gelingt, den Wegfall von Kernenergie zu kompensieren. Dem Zeitplan hinkt er jetzt schon hinterher – und muss erstmal auf Gas setzen.
Habeck in Husum.© Foto: dpa/Markus Scholz
Wo soll denn der Strom herkommen, wenn die Sonne nicht scheint und der Wind nicht weht? Diese Frage hört Wirtschaftsminister Robert Habeck häufig. Oft von jenen, die das gesamte Klimaschutzvorhaben der Bundesregierung infrage stellen.
Die Frage ist durchaus berechtigt – gerade dann, wenn man es mit dem Klimaschutz ernst meint. Und sie ist bis heute nicht gelöst. Bis 2045 soll Deutschland klimaneutral wirtschaften. Die Atommeiler sind abgeschaltet. Bis 2030 soll möglichst das Ende der Kohlekraft folgen – und 80 Prozent des Stromverbrauchs mit erneuerbaren Energien gedeckt werden. Gleichzeitig steigt der Stromverbrauch insgesamt. E-Autos und Wärmepumpen, dringend notwendig für den Klimaschutz, treiben ihn nach oben.
Was also tun? Der vermutlich größte staatliche Eingriff in den deutschen Energiemarkt, den es je gegeben hat, soll es richten. Insgesamt 30 Gigawatt neuer Kraftwerkskapazitäten will Habeck in den kommenden Jahren bauen lassen.
Dass das notwendig ist, bezweifelt so gut wie niemand. Zahlreiche groß angelegte und exzellente Studien, vom Industrieverband BDI über Wissenschaftsorganisation bis hin zu Klima-Thinktanks sind sich einig: Ohne neue „Backup-Kraftwerke“ geht es nicht. Und sie müssen schnell kommen, noch dieses Jahrzehnt braucht es einen erheblichen Teil der neuen Kapazitäten. Nur bei der Größenordnung des Reservekraftwerksparks gibt es etwas unterschiedliche Einschätzungen und bei der Frage, ob mehr Biomasse eingesetzt werden könnte.
Sie sollen in der Regel zuerst mit Erdgas laufen und dann auf klimaneutralen Wasserstoff als Brennstoff umstellen. „Kraftwerksstrategie“ nennt sich das Ganze – und wird ohne staatliche Förderung nicht auskommen. Daran, dass Investoren ohne Unterstützung die Anlagen bauen, die sich allein über den Verkauf des Stroms rechnen, glaubt in der Politik und in der Energiebranche niemand mehr.
Das Riesen-Projekt ging im Ministerium lange Zeit unter
Im Frühling gab sich der grüne Minister noch optimistisch und versprach dabei zu viel. Er hoffe, „in diesem Halbjahr“ Ausschreibungsbedingungen festlegen zu können, also wie genau die staatliche Förderung abläuft. Und den Energiekonzernen versprach er: „Umso besser, wenn sie jetzt schon loslaufen und die Investitionsentscheidungen vorbereiten.“
Doch das Riesen-Projekt ging im Ministerium lange Zeit unter. Habecks Haus taumelte von der Gaskrise direkt in die Affäre um die Einstellung eines Trauzeugen von Staatssekretär Patrick Graichen, der schließlich zurücktreten musste. Im Frühjahr und Sommer kam dann noch die Koalitionskrise rund um Habecks Heizungsgesetz hinzu.
Als man sich endlich in ernsthafte Gespräche mit der Europäischen Kommision begab, stellte sich heraus: Es gibt enorme europarechtliche Probleme. Kern des Problems: Sogenannte Beihilfen, also Subventionen für Kraftwerke, sind nur unter strengen Bedingungen erlaubt. Eigentlich hätte Deutschland, um einen sicheren Weg zu gehen, schon längst einen sogenannten Kapazitätsmarkt planen und in Brüssel anmelden müssen. Damit können Kraftwerke auch dann Geld erhalten, wenn sie keinen Strom produzieren, sondern nur bereitstehen, das System abzusichern.
Doch diesen Weg wollten Habeck und auch die Vorgängerregierungen nicht gehen. Stattdessen ist nun geplant, mehr oder weniger freihändig Subventionen zu vergeben – unter dem Verweis darauf, dass in den Kraftwerken langfristig Wasserstoff verwendet wird. Dazu hieß es im Sommer in Brüsseler Kreisen: „Die Deutschen wollen einen Kapazitätsmarkt einführen, ohne es so zu nennen und ohne die bindenden Regeln für Kapazitätsmärkte einzuhalten.“ Erst einmal stoppte die Kommission die deutschen Pläne.
Der Druck auf Habeck wuchs und wuchs. Anfang August konnte er schließlich verkünden, dass mit der Europäischen Kommission immerhin „Leitplanken“ vereinbart worden seien. Die Einigung umfasst in der Hauptsache drei Arten der staatlichen Kraftwerksförderung. Zwei davon sind bereits im bestehenden Erneuerbare-Energien-Gesetz angelegt: 4,4 Gigawatt „Sprinter-Kraftwerke“, die von 2024 bis 2028 ausgeschrieben werden und von Anfang an mit Wasserstoff laufen sollen. Zweitens: „Hybridkraftwerke“, die Wasserstoff vor Ort mit Elektrolyseuren herstellen, speichern und wieder zu Strom machen.
Drittens und am wichtigsten: H2-ready-Kraftwerke, also Erdgasanlagen, die erst nach und nach auf Wasserstoffverbrennung umgestellt werden sollen. Dies solle bis „spätestens 2035“ der Fall sein, wurde die Einigung mit der Kommission zitiert.
Zehn Gigawatt (GW) sollen von 2024 bis 2026 ausgeschrieben werden, davon mindestens vier GW für die Umrüstung bestehender Anlagen. Im Anschluss an eine Evaluierung sollen weitere fünf GW folgen. Insgesamt sollen die Hybridanlagen also 15 GW stets verfügbare Leistung in den deutschen Strommarkt bringen.
Klingt alles sehr kompliziert – und ist es auch. Umso gespannter ist die Branche auf die Details der Pläne. Zu hören ist derzeit, dass die Veröffentlichung kurz bevorsteht und dann eine sechswöchige Konsultation folgt. Dann müssen die Ausschreibungen folgen, die längst schon ins kommende Jahr geschoben wurden. Völlig offen ist, wie teuer das für den Staat wird, wie hoch die Subventionen ausfallen müssen. Ein Problem für die Investoren ist, dass erst nach und nach große Turbinen auf den Markt kommen, die mit Erdgas, aber auch Wasserstoff betrieben werden können.
Die Warnungen mehren sich
Noch deutlich gravierender: Es ist unsicher, wann genug Wasserstoff überhaupt zur Verfügung steht. Insbesondere für die „Sprinter“-Kraftwerke ist das eine essenzielle Frage. Laut der jüngst überarbeiteten nationalen Wasserstoffstrategie sollen Elektrolyseure mit zehn Gigawatt Leistung 2030 in Deutschland arbeiten. Doch die Verzögerungen häufen sich. Projektentwickler warten seit Monaten darauf, dass die EU-Kommission Bundes- und Landesförderungen genehmigt. Ohne diese erhalten sie keine Förderung, die bis zur Hälfte der Kosten ausmacht. Und ohne Förderung wollen sie nicht investieren.
Zugleich verrinnt die Zeit: Nur für bis einschließlich 2026 fertiggestellte Elektrolyseanlagen haben die Unternehmen laut Energiewirtschaftsgesetz Anrecht auf eine Befreiung von Stromnetzentgelten für 20 Jahre – diese Entlastung ist wesentlicher Bestandteil ihrer Kosten- und vorläufigen Preiskalkulationen.
Die Warnungen, dass Deutschland den Hochlauf seiner Wasserstoffwirtschaft verstolpern könnte, mehren sich. Es seien noch „keine nennenswerten Kapazitäten“ für die Erzeugung aufgebaut worden, während die USA und Asien massiv investierten, beklagte der Energieverband BDEW im Sommer.
Das Beratungsunternehmen McKinsey wies jüngst darauf hin, dass eine ausreichende Versorgung der Industrie entlang der sogenannten Rheinschiene nicht absehbar sei, weder seitens einer heimischen Erzeugung noch seitens des Imports. In der Region mit ihren Stahlwerken, Chemiestandorten und Raffinerien würden bis 2030 mindestens eine Million Tonnen grünes H2 benötigt.
Können Importe es richten? Auch dort verdüstern sich die Aussichten derzeit eher. Die Internationale Energieagentur (IEA) legte vergangene Woche ihren Wasserstoff-Jahresbericht vor – mit ernüchterndem Inhalt, auch für Habeck und das Wirtschaftsministerium.
Trotz immensen Potenzials und einer Vielzahl angekündigter Wasserstoffprojekte tut sich weltweit zu wenig. Nur für vier Prozent des angekündigten Produktionsvolumens klimaschonenden Wasserstoffs gibt es finale Investitionsentscheidungen oder bereits Bautätigkeit. Erst ein Prozent des globalen Angebots von Wasserstoff wird nicht mit klassischen, emissionsstarken Verfahren hergestellt.
Das wird sich ändern. Grob geschätzt könnten global mehr als 2000 Terawattstunden Wasserstoff pro Jahr erzeugt werden. Von diesen müsste Deutschland etwa 80 Terawattstunden importieren, um seinen Bedarf von bis zu 130 Terrawattstunden im Jahr 2030 zu decken. Doch das gilt nur, wenn alles glattläuft: Alle anvisierten Projekte, die die IEA im gezählt hat, müssten kommen. Und eine Importinfrastruktur für grünen Wasserstoff und damit hergestellte Stoffe wie zum Beispiel Ammoniak müsste stehen.
Es ist also alles sehr kompliziert, viele verschiedene Dinge müssen gleichzeitig geschehen, damit alles nach Plan läuft. Geht es auch nur zum Teil schief, steht der Zeitplan für die Dekarbonisierung auf der Kippe. Kohlekraftwerke müssten vermutlich länger laufen. Der von der Ampelkoalition angestrebte schnellere Braunkohleausstieg bis 2030 statt 2038 stünde auf der Kippe.
Für Habecks Ministerium heißt das: An Entspannung ist nicht einmal zu denken. Ohne einen runden Plan und erste Erfolge bei der Absicherung des Strommarkts der Zukunft würde Habeck auch mit einer schweren Hypothek in den Wahlkampf 2025 starten.