Seit kaum noch russisches Gas fließt, kaufen europäische Importeure auf dem Weltmarkt große Teile des Flüssiggases auf. Das hat drastische Folgen für Länder in Südasien.
Der Tanker Scali Del Pontino vor dem Hafen von Tarragona, Spanien© Pau Barrena/AFP/Getty Images
Mehr als 35 Tanker dümpeln derzeit im Meer vor der spanischen Küste – beladen mit Flüssiggas, sogenanntem LNG. Sie warten darauf, an einem der sechs spanischen Flüssiggas-Terminals entladen zu werden. Dort kann aber kaum noch weiteres Gas angelandet werden: Die Speicher sind weitgehend voll.
9.000 Kilometer entfernt, in Bangladesch, sehnt man sich nach einer solchen Lage. Eigentlich nach jedem Tanker, der ein bisschen Flüssiggas bringt. Denn die Lieferungen sind in diesem Jahr rar geworden und die Gasspeicher ungewöhnlich leer – mit teils gravierenden Auswirkungen für das Land: Immer wieder fällt der Strom aus. Vom schlimmsten Blackout Anfang Oktober waren etwa 130 Millionen Menschen betroffen.
So unterschiedlich beide Situationen sind, sie hängen zusammen: Seit kaum noch russisches Gas nach Europa fließt, kaufen europäische Energieunternehmen Flüssiggas im großen Stil auf dem Weltmarkt ein und verschiffen es nach Europa, um die eigene Energieversorgung zu sichern. Sie zahlen hohe Preise für Flüssiggas und überbieten dadurch Importeure aus anderen Erdregionen. Zum Leid von weniger kaufkräftigen Ländern.
Import geht stark zurück
Der neue Gasmarktbericht der Internationalen Energiebehörde (IEA) bestätigt seine Prognose: In den ersten acht Monaten dieses Jahres kauften europäische Importeure etwa 43 Milliarden Kubikmeter mehr Flüssiggas als im Vorjahreszeitraum, eine Steigerung von 65 Prozent. Gleichzeitig sanken die Importe im asiatisch-pazifischen Raum, dem traditionell größten Markt für Flüssiggas, um etwa 18 Milliarden Kubikmeter. Das sind sieben Prozent weniger als im Vorjahreszeitraum.
Besonders deutlich ist die aktuelle Entwicklung in südasiatischen Schwellen- und Entwicklungsländern: In Bangladesch ging der Flüssiggasimport um zehn Prozent zurück, in Indien um 14 Prozent und in Pakistan sogar um 19 Prozent. Diese Länder können sich nicht über Pipelines versorgen, ihnen fehlen somit große Mengen Gas, die sie im letzten Jahr noch hatten.
Grund für die Entwicklung sind die limitierten Kapazitäten. "Das LNG-Volumen auf dem Weltmarkt ist relativ begrenzt", erläutert Andreas Fischer, Energie-Ökonom am Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln. Die Herstellung von LNG ist aufwendig: Das Gas muss auf Minus 162 Grad Celsius heruntergekühlt werden, um es zu verflüssigen und auf ein Sechshundertstel des Volumens von konventionellem Erdgas zu verdichten. Nur so kann es per Schiff transportiert werden. "Kurzfristig lässt sich das Angebot nicht wahnsinnig stark steigern, weil Produktionskapazitäten im Flüssiggassektor dafür noch fehlen und auch die Frachterkapazitäten begrenzt sind."
Preise befeuert
Hinzu komme laut Andreas Fischer, dass große Mengen des produzierten LNG schon über langfristige Verträge vergeben seien. Etwa 70 Prozent des Flüssiggases wird über Verträge mit Laufzeiten von bis zu 20 Jahren gehandelt. Sie sichern den Exporteuren und Importeuren ihre Handelsbeziehung auf Dauer. Nur etwa 30–40 Prozent der LNG-Volumina können kurzfristig gekauft werden.
Die begrenzt verfügbaren Liefermengen befeuern die Preise. Erst Ende September warnten Experten den Bundestag vor der Preisdynamik, die durch das knappe Angebot auf dem LNG-Markt entstehe. "Wenige Anteile der Volumina auf diesem Markt sind frei erhältlich und käuflich. Und jetzt kommen wir und kaufen sie weg", sagte Andreas Goldthau, Professor am Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung, im Ausschuss für Internationale Energiepolitik. "Das hat sofortige Effekte, die man global im Preisgeschehen sieht."
Im August erreichten die Preise am europäischen Markt zeitweise einen Rekordwert von über 300 Euro je Megawattstunde. Zum Vergleich: Im Februar vor Kriegsbeginn lagen die Preise noch knapp unter 100 Euro. "Wer auf dem kurzfristigen Markt Flüssiggas erwerben will, kann das nur zu dem Preis machen, den die europäische Konkurrenz zahlt, sonst drehen die Tanker nach Europa ab", sagt Steffen Bukold, Energiemarktexperte und Leiter des Beratungsbüro EnergyComment. "Wirtschaftlich schwache Länder können bei dem Bieterwettstreit nicht mithalten."
Auch wenn Deutschland noch keine eigenen LNG-Terminals hat, spielt es bei der Preisdynamik eine wichtige Rolle. Insbesondere weil auf dem deutschen Markt sehr große Mengen an russischem Gas ersetzt werden mussten. "Das löst einen Ketteneffekt aus", sagt Bukold. "Wenn in Deutschland die Nachfrage hoch ist, kommen automatisch mehr Tanker an den europäischen Häfen an."
Die hohen Preise in Europa haben sogar langfristige LNG-Lieferverträge ins Wanken gebracht. Immer wieder wurden Fälle bekannt, bei denen Gashändler ihre Verpflichtungen aus solchen Verträgen gegenüber Schwellenländern nicht eingehalten haben und bereitwillig die Vertragsstrafe gezahlt haben, die für einen Lieferausfall vereinbart ist. "Die Preise in Europa sind so hoch gewesen, dass sich das Geschäft selbst dann noch für die Rohstoffhändler gelohnt hat, wenn man die Vertragsstrafe in Kauf genommen hat", sagt Bukold. "Vor der Preisexplosion war es sehr selten, dass nicht geliefert wurde."
Europas Gasbedarf hat den Flüssiggasmarkt in den letzten Monaten durcheinandergewirbelt und stellt damit andere Länder vor große Herausforderungen. In Bangladesch macht Erdgas fast drei Viertel der Stromerzeugung des Landes aus. Der Rest wird über Dieselgeneratoren erzeugt. Das Land importierte bis vor kurzem 20 Prozent des verbrauchten Gases aus dem Nahen Osten per Tanker.
Stundenlang fällt der Strom aus
Durch den starken Anstieg der Preise hat der staatliche Energiekonzern PetroBangla im laufenden Jahr Probleme, die nötigen Gasmengen auf dem LNG-Markt zu kaufen. Im Juli musste die Regierung kurzfristige Käufe stoppen, weil sie sich zum Sparen verpflichtet hatte. Außerdem fuhr sie alle Dieselkraftwerke des Landes herunter, da auch der Ölpreis im Zuge des Ukraine-Kriegs zu stark gestiegen war.
Die Konsequenz: In vielen Teilen Bangladeschs fällt oft stundenlang der Strom aus, Anfang Oktober waren 130 Millionen Menschen betroffen, etwa 80 Prozent des Landes. Grund war eine ausgefallene Übertragungsleitung, doch ein weiterer ist laut Experten auch der Mangel. Mittlerweile müssen Gemeindezentren, Einkaufszentren und Geschäfte früher schließen. Auch die für das Land wichtige Textilproduktion leidet – Bangladesch ist hinter China der zweitgrößte Bekleidungsproduzent der Welt.
In Bangladesch wächst deswegen die Wut auf Europa. "Wenn es hart auf hart kommt, ist es der globale Süden, der als erstes im Dunkeln tappt und von den reichsten Ländern der Welt überboten wird", schrieb Khondaker Moazzem vom Centre for Policy Dialogue in Dhaka in einem Meinungsbeitrag. "Wir werden aus der Energieversorgung herausgepreist."
Am härtesten trifft der LNG-Mangel wohl Pakistan. Nach Hitzewelle und Flutkatastrophe im Sommer kommt nun noch Energieunsicherheit. Etwa 25 Prozent seines Stromes produziert das Land mit Flüssiggas. Pakistan hat aber seit mehreren Monaten Probleme, an frei verfügbares LNG zu kommen. "Wegen des Ukraine-Krieges wurde jedes einzelne Molekül, das in unserer Region verfügbar war, von Europa aufgekauft", sagte der pakistanische Erdölminister Musadik Malik dem Wall Street Journal. Deshalb mussten zwei Kraftwerke zwischenzeitlich vom Netz genommen werden.
Preis sinkt langsam
Wie in Bangladesch fällt oft über Stunden der Strom aus; im Juli verhängte die Regierung einen Betriebsstopp in der Textilindustrie, um den Privathaushalten Energie zuzusichern und die Düngemittelproduktion aufrechtzuerhalten. Außerdem arbeitet der öffentliche Dienst kürzer. "Was LNG betrifft, lebt Pakistan derzeit also von der Hand in den Mund und man blickt mit zunehmender Sorge auf den Winter", sagt Niels Hegewisch, Büroleiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Pakistan. "Im heraufziehenden Winter wird Gas vor allem für das Heizen der schlecht isolierten Häuser benötigt."
Die Entwicklung der Märkte gibt allerdings ersten Anlass zur Hoffnung. Die Preise für Gas sinken seit einigen Wochen wieder weltweit. Das liegt vor allem daran, dass in Europa die Gasspeicher gut gefüllt sind und dadurch die Nachfrage aus Europa niedriger geworden ist. Wie die Entwicklung weitergeht, hängt laut Experten stark vom Wetter in Europa ab. Bleibt der Winter mild, könnte die derzeitige Entspannung anhalten. Wird er aber rau, leeren sich die europäischen Gasspeicher schneller und Europas Jagd auf Gas beginnt erneut.