Europa hat eine Reform des Strommarktes dringend nötig. Der Blick in die USA zeigt, wie es funktionieren könnte.
In den USA wird der Strompreis in der Regel von gewählten Kommissionen festgesetzt.© George Rose/Getty Images
Noch vor einigen Wochen sah mein Nachbar recht selbstzufrieden aus. Er hatte seine Gasheizung gegen eine Wärmepumpe und seinen Benziner gegen ein elektrisches Auto ausgetauscht. Und neben dem schönen Bewusstsein, das ökologisch Richtige getan zu haben, gaben ihm die stets steigenden Gaspreise auch noch ökonomisch recht. Seine Heizung läuft mit Strom; und wie Wirtschaftsminister Robert Habeck noch im Juli behauptete: "Wir haben ein Gasproblem, kein Stromproblem."
Nun, inzwischen haben wir auch ein Stromproblem. Genauer: ein Strompreisproblem. Das ist zum Teil Ergebnis einer Angebotsverknappung des Atomstroms, der in der Europäischen Union mit 27 Prozent der Gesamtstromerzeugung der mit Abstand wichtigster Energieträger ist. In Frankreich stehen zurzeit 29 der 56 Atomkraftwerke still. Bei einer theoretischen Kapazität von 60 Gigawatt liefern die französischen AKW nur noch 25 Gigawatt, also weniger als die Hälfte. Frankreich wird dadurch von einem Nettoexporteur zu einem Nettoimporteur von Strom. Grund für den Ausfall sind zum einen aufwändige Instandsetzungsarbeiten an den zum Teil veralteten Anlagen, zum anderen der heiße Sommer, wodurch sich die Flüsse so aufgeheizt haben, dass sie nicht oder nur eingeschränkt als Kühlwasser benutzt werden können.
Es besteht eine unschöne Ironie darin, dass die Atomkraft, die von der Europäischen Kommission noch im Februar dieses Jahres zu Recht als klimafreundliche Übergangstechnologie eingestuft wurde, durch die Folgen des Klimawandels außer Gefecht gesetzt wird. Aber auch die zweite von der EU als klimafreundlich eingestufte Technologie, die Stromgewinnung durch Erdgas, erweist sich nun – nicht wegen des Klimawandels, sondern wegen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine – als problematisch. Weil wir ein Gasproblem haben, haben wir ein Strompreisproblem. Grund ist das sogenannte "Merit Order"-Prinzip, das die Preise am europäischen Strommarkt bestimmt. Zur Deckung des Strombedarfs werden die Kraftwerke zuerst zugeschaltet, die am billigsten Strom produzieren. Den Endpreis bestimmen aber die zuletzt zugeschalteten, also teuersten Kraftwerke.
Die dadurch bei der Liberalisierung des Strommarkts um die Jahrtausendwende eingeführte künstliche Verteuerung des Stroms sollte die Investitionen in die erneuerbaren Energien fördern, war also politisch gewollt, nicht ökonomisch geboten. Je billiger die Erneuerbaren produzieren, desto mehr Gewinn können sie machen, solange der Preis künstlich hoch bleibt; das sollte Investoren anlocken. Langfristig – sehr langfristig allerdings – würden so die erneuerbaren Energien einen immer größeren Anteil am Strommarkt erobern und schließlich die fossilen Energieträger verdrängen. Gleichzeitig garantiert diese Marktregulierung, dass die im Verhältnis zu den Erneuerbaren teurer werdenden Kraftwerke, die bei Dunkelheit und Windflaute die Grundlast garantieren müssen, nach wie vor wenigstens kostendeckend arbeiten können.
Zuwachs der Erneuerbaren ist Ergebnis von Subventionen
Wie sinnvoll ein solcher Markteingriff war, kann man diskutieren. Zwar haben die Erneuerbaren insgesamt – Sonne, Wind, Wasser und Biomasse – einen Anteil von etwa 35,3 Prozent an der europäischen Nettostromproduktion erreicht. Das ist nicht nur Ergebnis des Merit-Order-Prinzips, sondern auch heftiger zusätzlicher Subventionierung, in Deutschland etwa durch die EEG-Umlage. Dafür haben die Stromkunden einen sehr hohen Preis bezahlt.
Schon vor der Gas- und Strompreiskrise zahlten deutsche Haushalte etwa doppelt so viel für ihren Strom wie Haushalte in den USA. Dabei steigt auch in den USA der Anteil der Erneuerbaren am Gesamtstrommix ständig und beträgt mittlerweile immerhin 22 Prozent. Auch in den USA wird der Strom nun teurer: Erwartet wird dieses Jahr ein Anstieg von 6,1 Prozent. In Deutschland sind es, ausgehend von einem ohnehin exorbitant hohen Niveau, 38 Prozent! Dabei ist die EEG-Umlage, mit der Mieterinnen über ihre Stromrechnung die Fotovoltaik- und Windkraftanlagen von Eigenheimbesitzern und Bauern förderten, Mitte des Jahres ausgelaufen. Die jetzige Preisexplosion ist fast ausschließlich dem europäischen Merit-Order-Prinzip zuzuschreiben, das den Strompreis abhängig macht von dem letzten, teuersten Anbieter – und das sind zurzeit, dank Wladimir Putin, die Gaskraftwerke. Produzenten billiger erneuerbarer Energie und auch dreckiger Kohlekraftwerke streichen riesige Extragewinne ein.
Marktmanipulation geht irgendwann immer schief. Meistens dann, wenn die dafür politisch Verantwortlichen nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden können. Es geht mir aber hier nicht darum, das hohe Lied der reinen Marktwirtschaft zu singen, obwohl ein echter Markt sehr viel besser wäre als der manipulierte europäische Strommarkt. Die geringen Strompreise in den USA sind – leider, sage ich als Wirtschaftsliberaler – nicht das Ergebnis der freien Entfaltung von Marktkräften, sondern der Demokratie.
Gewählte Kommissionen setzen Strompreis
Während europäische Bürokraten automatisch wirkende und vom Konsumenten schwer zu durchschauende Marktsteuerungsmechanismen entwarfen, die nun völlig aus dem Ruder gelaufen sind, wird in den USA der Strompreis in der Regel von gewählten Kommissionen festgesetzt. Die "Public Utility Commissions" sind in den meisten Bundesstaaten per Gesetz gehalten, "plötzliche große Preisanstiege" zu vermeiden und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass die Stromanbieter "angemessene" Gewinne machen. Eine Situation wie zurzeit in Deutschland wäre in den USA schlicht illegal.
Wenn also Ursula von der Leyen eine Reform des europäischen Strommarkts fordert, so hat sie völlig recht. Das System sei für andere Umstände entwickelt worden und nicht mehr zweckmäßig, so die Kommissionspräsidentin. Kurzfristig müssten Gas- und Strompreise entkoppelt werden. Langfristig "müssen wir eine tiefgreifende, strukturelle Reform des Strommarktes machen. Das wird zu Beginn des nächsten Jahres sein."
Vielleicht darf man der Kommission – und dem Europäischen Parlament, und dem Europäischen Rat, der das letzte Wort haben wird – einen Blick in die USA empfehlen. Das wäre doch etwas: Gewählte Stromkommissare in jedem EU-Mitgliedsland, die jedes Jahr den Strompreis festsetzen, statt undurchsichtiger und unpersönlicher Algorithmen, die Markt vortäuschen und politische Steuerung meinen.
Wenn Investitionen in klimafreundliche Energien erwünscht sind, und zu ihnen darf Gas künftig nicht gerechnet werden, dann sollen sie nicht die Stromkunden finanzieren, sondern die Steuerzahler. Das ist sozial gerecht, da die Steuern, anders als die Stromrechnungen, nach Einkommen gestaffelt sind; und politisch sauber, da die Staatshaushalte von den Parlamenten kontrolliert werden, anders als die Bilanzen der Stromunternehmen. Wenn schon Reform, und die muss sein, dann bitte eine gründliche, die Europa demokratischer macht. Im tieferen Sinn ist das auch liberal. Nicht wirtschaftsliberal, aber freiheitlich, was wichtiger ist. Weil dann sowohl mein Nachbar als auch ich wissen, an wen wir uns zu wenden haben, wenn uns die Stromrechnung nicht passt.