© Bereitgestellt von Neue Zürcher Zeitung DeutschlandJüngst wurde in Finnland der dritte Block von ;Olkiluoto fertiggestellt – allerdings mit über einem Jahrzehnt Verspätung. Roni Rekomaa / Bloomberg
Krisen bringen Gewissheiten ins Wanken. Das gilt auch für die Rolle der Kernenergie. 2011 lehnten im Zug der Kernschmelze beim japanischen AKW in Fukushima drei Viertel der Deutschen die Atomkraft ab. Und in der Schweiz wurde das Energiegesetz 2017 mit 58 Prozent angenommen, das den Neubau von AKW verbietet.
Der Krieg in der Ukraine und eine drohende Strommangellage haben jedoch zu einem Umdenken geführt. Derzeit sprechen sich über 80 Prozent der Deutschen dafür aus, die Laufzeit der verbliebenen Kernkraftwerke zumindest vorübergehend zu verlängern. Deutschland war mit 36 AKW einmal ein führendes Land in dieser Technologie. Nun sind nur noch drei Kraftwerke in Betrieb, die Ende Jahr vom Netz gehen sollen – sofern sich die Regierung von Kanzler Olaf Scholz nicht noch umstimmen lässt.
International gesehen sieht es dagegen eher nach einem Comeback der Kernenergie aus. Belgien hat im März entschieden, die Laufzeit von zwei Kernkraftwerken um zehn Jahre zu verlängern. Und die Niederlande diskutieren über den Bau zweier neuer AKW, die zusammen mit dem bestehenden Atommeiler ein Viertel des niederländischen Stroms produzieren würden.
Enorme Zeitverzögerungen und Mehrkosten
Die IEA hat eruiert, wie man die verschiedenen Stromquellen am besten kombiniert, damit die Weltwirtschaft 2050 netto kein CO2 mehr emittiert. Im optimalen Szenario produzieren AKW laut Energieagentur doppelt so viel Strom wie heute. Im gleichen Zeitraum aber verdreifacht sich die Stromnachfrage, etwa wegen der E-Mobilität. Deshalb geht der Anteil an Atomstrom an der gesamten Stromproduktion von gegenwärtig 10 auf 8 Prozent leicht zurück. Wind und Sonne führen die Dekarbonisierung zwar an, benötigen aber für die Versorgungssicherheit Quellen wie die Kernkraft.
Ein unerlässlicher Bestandteil auf dem Weg zu einer CO2-neutralen Wirtschaft sei dabei die Verlängerung der Laufzeiten bestehender AKW, sagen die Experten der IEA. Diese Anlagen können Strom für deutlich weniger als 40 Euro pro Megawattstunde (MWh) produzieren, womit man es mit Solar- oder Windstrom aufnehmen kann. Ungefähr auf diesem Niveau hatten die Strompreise an der Börse vor der Pandemie gelegen, seither haben sie sich allerdings durch die Krise verfünffacht.
Dass in der optimalen Strategie besonders ab den 2030er Jahren Dutzende neuer Kernkraftwerke gebaut werden, mag auf den ersten Blick überraschen. Jüngst hat der Bau von AKW nämlich vor allem wegen enormer Kostenüberschreitungen und Terminverzögerungen für Schlagzeilen gesorgt.
Der Bau des jüngst in Betrieb gegangenen Reaktors im finnischen Olkiluoto dauerte 17 Jahre, im französischen Flamanville rechnet man mit 16 Jahren. Das war nicht immer so: Im Schnitt benötigte der Bau der heute in Betrieb stehenden weltweit 439 Reaktoren sieben Jahre. Das zweite Problem sind die exorbitanten Kosten: Für Flamanville dürften sie sich auf 12,7 Milliarden Euro belaufen, nachdem man ursprünglich von 3,3 Milliarden Euro ausgegangen war.
In Europa sind die Kosten hoch, weil seit Fukushima Investitionen zurückgehalten werden und der deutsche Atomausstieg zu Lücken in der Lieferkette geführt hat. Dazu kommt, dass eine neue, sicherere AKW-Generation gebaut wird, was bei Erstanlagen Zusatzkosten verursacht. China oder Südkorea zeigen indes, dass es auch günstiger geht. 90 Prozent des Wachstums der Atomenergie erwarten die IEA-Experten denn auch in Schwellen- und Entwicklungsländern, darunter China, Indien oder die Türkei.
Atomstrom stützt das System
Wenn immer mehr Strom aus Wind und Sonne gewonnen wird, sind regelbare Quellen notwendig, wozu die IEA auch die Kernkraft zählt. So lässt sich die Produktion von flexiblen Kernkraftwerken innert Minuten um 10 Prozent und über einige Stunden um bis zu 80 Prozent verringern. Als Back-up für Solar- und Windstrom werden 2050 aber auch fossile Kraftwerke mit Vorrichtungen zur Abscheidung von CO2 dienen, sagen die Energieexperten voraus.
Sie nennen folgende Faustregel: Nimmt der Anteil von erneuerbaren Energien am Strommix um einen Prozentpunkt zu, sinkt der Wert von Solarstrom gemessen am Börsenpreis um ein bis zwei Prozent. Das hat damit zu tun, dass mehr Geld ins Netz und in Speicher gesteckt werden muss, wenn der Anteil aus volatilen Quellen wie Wind- und Sonnenkraft steigt.
AKW stützen das Stromsystem, weil sie im Schnitt zu 90 Prozent verfügbar sind. Diese stabilisierende Wirkung sollte angemessen honoriert werden, schreibt die IEA. Diverse Staaten haben deshalb «Kapazitätsmärkte» eingeführt, um stabile und flexible Stromquellen zu belohnen. Einen umstrittenen Weg hat Grossbritannien beim neuen Kernkraftwerk Hinkley Point C beschritten. Das Land garantiert dem Betreiber für 35 Jahre einen Strompreis von 92,5 Pfund je MWh, der zudem mit der Inflation steigt. Das war bei Vertragsschluss 2013 doppelt so viel wie der damals herrschende Börsenpreis.
Die Briten propagieren mittlerweile Verträge, die die Kostenrisiken beim Bau eines neuen AKW zwischen Investor und Konsument aufteilen. Diese Massnahme führe zu niedrigeren Finanzierungskosten als eine Preisgarantie à la Hinkley Point C, heisst es.
CO2-Preis macht AKW konkurrenzfähig
Kernkraftbefürworter sollten sodann eifrige Verfechter einer spürbaren CO2-Abgabe oder des Emissionshandels sein. Ein höherer CO2-Preis lässt nämlich auch den Börsenpreis für Strom steigen, weil er die Stromherstellung durch Gas und Kohle verteuert. Kernkraftwerke verdienen dann mehr Geld, um die hohen Investitionen zu amortisieren. Ohne Vergütung der Systemleistungen und ohne CO2-Preis rechnen sich neue Kernkraftwerke kaum.
Damit lassen sich aus der Studie drei Schlüsse ziehen: Eine Renaissance der Atomkraft tönt, erstens, plausibel. Diese wird zwar angeführt von den Schwellenländern, doch auch fünf der grössten sieben Volkswirtschaften – die USA, Japan, Grossbritannien, Frankreich und Kanada – setzen weiterhin auf Atomenergie. Deutschlands Ausstieg ist somit nicht die Regel.
Zweitens haben die derzeit in Bau befindlichen AKW in Europa ein Kostenproblem. Der Nuklearindustrie müsse es bis 2030 gelingen, Projekte pünktlich und zu den projektierten Kosten zu liefern, mahnen die IEA-Experten. Drittens und damit zusammenhängend setzen Länder wie Kanada, die USA oder Grossbritannien grosse Hoffnungen in «kleine modulare Reaktoren» (SMR).
SMR reduzieren das Investitionsrisiko, weil nicht gleich 10 Milliarden Euro in die Hand genommen werden müssen, um eine Anlage zu bauen. Die Energieagentur geht jedenfalls davon aus, dass ab den 2030er Jahren eine neue Ära für die Kernkraft anbricht, wenn solch kleinere Reaktoren breitere Anwendung finden.
Ein Vorteil der AKW geht zudem oft vergessen: Sie beanspruchen nur einen Bruchteil des Platzes von alternativen Energien. Im Fall der Niederlande würden die dann drei Reaktoren laut dem Betreiber 0,2 Quadratkilometer bedecken, während für die gleiche (aber volatile) Produktion mit Sonnenstrom 231 Quadratkilometer nötig wären oder 4400 Windturbinen an Land aufgestellt werden müssten.