Seit Wochen blickt Deutschland sorgenvoll nach Osten. Denn die viertgrößte Wirtschaftsmacht der Erde hat sich über Jahre in eine fatale Abhängigkeit von Russland bei seiner Erdgas-Versorgung begeben. Die Bundesregierung weiß: Wladimir Putin hat Europa und speziell Deutschland in der Hand. Nun beginnt der russische Präsident, seine Gas-Macht radikal auszuspielen.
© WELT / Christina LewinskySollte Russland die in Kanada reparierte Turbine nicht zurückerhalten, drohe Ende Juli die tägliche Durchflusskapazität der Pipeline deutlich zu fallen, sagte Kremlchef Wladimir Putin. Zugleich bot er jedoch Gas-Lieferungen über Nord Stream 2 an. Quelle: WELT / Christina Lewinsky
Am Dienstagabend sagte er erst etwas Beruhigendes. Der russische Gaskonzern Gazprom werde seine Verpflichtungen „in vollem Umfang“ erfüllen. Doch fast im selben Atemzug warnte er Europa vor einem weiteren Absenken der russischen Gaslieferungen durch die Ostsee-Pipeline Nord Stream 1. Und dann deutete er auch noch an, dass er womöglich versuchen wird, Europa und Deutschland zum Betrieb der als Reaktion auf den Ukraine-Krieg auf Eis gelegten Pipeline Nord Stream 2 zu drängen.
© AP/Konstantin ZavraginRusslands Präsident am Dienstag bei seiner Ankunft auf dem Flughafen von Teheran Quelle: AP/Konstantin Zavragin
Ohne die Turbine drohe Ende Juli wegen der notwendigen Reparatur eines „weiteren Aggregats“ die tägliche Durchlasskapazität auf 33 Millionen Kubikmeter pro Tag zu sinken. Das wäre ziemlich exakt noch die Hälfte der 67 Millionen Kubikmeter, auf die Russland die Kapazität seit Juni schon reduziert hat.
Und es wäre nur noch ein Fünftel der Maximalkapazität der Pipeline von rund 150 Millionen Kubikmeter pro Tag. Die Pipeline Nord Stream 1 – die wichtigste Gasleitung von Russland nach Deutschland – wurde 2011 in Betrieb genommen. Derzeit ist die mehr als 1200 Kilometer lange Pipeline zudem wegen alljährlicher Wartungsarbeiten völlig stillgelegt.
Laut Plan gehen die Arbeiten bis Donnerstag. Ob und in welchem Umfang sie dann wieder hochgefahren wird, ist seit Tagen Gegenstand von Spekulationen in Deutschland und Europa. Eine Schlüsselrolle kam dabei der in Kanada reparierten Siemens-Turbine zu.
Sie wurde wegen der westlichen Sanktionen infolge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine lange von der Regierung in Ottawa zurückgehalten. Die Ukraine drang darauf, die Turbine nicht zu liefern. Aber im Westen wuchs die Sorge, Putin könnte die nicht gelieferte Turbine zum Anlass nehmen, seine Gaslieferungen noch weiter zu drosseln.
© Infografik WELTDie aktuelle Situation in der Ukraine Quelle: Infografik WELT
Vor allem das von russischem Gas so existenziell abhängige Deutschland setzte durch, dass die Turbine mit Sondergenehmigung an die Bundesrepublik geliefert wird, um sie dann in die Ostsee-Pipeline einzubauen. Nach Auffassung der Bundesregierung ist die Lieferung der Turbine von den EU-Sanktionen gegen Russland ausgenommen, weil diese sich nicht gegen den Gastransit richteten.
Aus Moskau hieß es, bis jetzt seien weder die Turbine noch die dazugehörigen Dokumente eingetroffen. Außerdem bleibt fraglich, ob Wladimir Putin auch bei Einbau der Turbine nicht eine neue Begründung für ein Absenken der Gaslieferungen findet – und erneut zeigen würde, dass die Bundesregierung mit ihren Versuchen, konstruktiv mit dem Kreml umzugehen, ausmanövriert wird.
Putins Äußerungen in Teheran lassen jedenfalls darauf schließen, dass auch nach Ende der Wartungsarbeiten und selbst bei Einbau der Turbine die Pipeline möglicherweise nicht wieder auf volle Leistung hochgefahren würde. Der Hinweis auf Nord Stream ließ außerdem besonders aufhorchen.
Putin macht plötzlich einen Zusammenhang zwischen den beiden Ostsee-Pipelines auf. Mit der Aussage deutet Putin an, dass er die Nord-Stream-1-Pipeline gezielt unter Vorwänden so stark herunterfahren könnte, dass Europa aus Furcht vor einem Winter ohne russisches Gas sogar der Inbetriebnahme von Nord Stream 2 zustimmen würde. Dies wäre eine große symbolische Demütigung. Und als wäre das nicht genug, schob Putin auch noch nach, dass über die Ostsee-Pipeline dann nur die Hälfte des ursprünglich vorgesehenen Volumens geliefert würde, weil Russland den Rest für den heimischen Bedarf benötige.
Nord Stream 2 war schon vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine hochumstritten. Der Bau der Pipeline war von Deutschland und Russland im Jahr 2015 besiegelt worden – ein Jahr nach der Annexion der Krim und dem Beginn des russischen Kriegs in der Ostukraine. Von Beginn an war klar, dass mit zwei Nord-Stream-Pipelines das russische Gas komplett über die Ostsee strömen kann – und die Ukraine und Polen als Transitland umgangen werden können. Das würde die geostrategische Position dieser Länder massiv schwächen.
Trotz aller Warnungen trieb die Bundesregierung – allen voran SPD-Minister – den Bau der Pipeline voran. In der Regel standen dabei die Beziehungen zu Russland und die Versorgung der deutschen Wirtschaft mit günstigem Gas im Vordergrund. Die Tatsache, dass seit 2014 immer mehr darauf hindeutete, dass Wladimir Putin die Ukraine von der Landkarte tilgen will, wollte in Berlin kaum jemand hören.
Erst am Tag des Einmarsches in die Ukraine war Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bereit, Nord Stream 2 auf Eis zu legen. Deutschland setzte das Genehmigungsverfahren für den Betrieb der Leitung aus. Das Aus für Nord Stream 2 gilt bis heute als einer der konsequenten Schritte, die Deutschland als Antwort auf die russische Invasion in die Ukraine gegangen ist.
Sollte die Bundesrepublik nun die Pipeline wieder in Betrieb nehmen müssen, weil sie von Wladimir Putin erpresst wird, wäre das ein neues Symbol für das kolossale Scheitern der Energiepolitik unter den Bundeskanzlern Gerhard Schröder (SPD) und Angela Merkel (CDU).