Eigentlich wollte Markus Söder am Sonntag zu einem Trip aufbrechen, den er selbst eine „Wasserstoffreise“ nennt: Für Bayerns Ministerpräsident sollte es nach Abu Dhabi gehen. Dabei war Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) erst vor wenigen Tagen dort, um Gas-Lieferungen zu sichern.
Doch am Samstag stoppte Söder eine Corona-Infektion. Die „bayerische Visitenkarte“, wie der CSU-Chef sagte, kann er dort vorerst also nicht hinterlegen – ganz zu seinem Bedauern. Denn längst geht es am Golf nicht mehr nur um die gemeinsame Energieversorgung. Söders Reise ist auch ein Signal, dass es einen Verteilungskampf um die knappe grüne Energie der Zukunft geben wird. Der erfolgsverwöhnte Süden, den Söder regiert, droht abgehängt zu werden.
Intel baut sein Chipwerk bei Magdeburg, Elon Musk macht Brandenburg mit einer Milliarden-Investition zum Automobilstandort, das gerade eröffnete Tesla-Werk zieht auch die Zulieferer in die ostdeutsche Provinz. Northvolt zeigt dem Standort Süddeutschland ebenfalls die kalte Schulter. Der schwedische Batteriebauer will in Schleswig-Holstein eine Gigafactory hochziehen.
Die passe „gut in das vielversprechende Cluster von Cleantech-Unternehmen, das sich in Norddeutschland entwickelt“, sagt Chef Peter Carlsson. Aus Sicht des Investors kann der Küstenort Heide mit Vorteilen punkten, bei denen Bayern und Baden-Württemberg blank dastehen: „Die Region hat das sauberste Energienetz Deutschlands, das sich durch einen Überschuss an Strom aus Onshore- und Offshore-Windkraft auszeichnet und noch durch Netzverbindungen nach Dänemark und Norwegen verstärkt wird.“
Norden liefert, was Manager suchen
Wirtschaft hat sich immer dort entwickelt, wo Energie im Überfluss verfügbar war: Die Wasserkraft des Rheins, die Kohle des Ruhrgebiets ließen industrielle Zentren mit globaler Ausstrahlung entstehen. Das neue Kraftzentrum Deutschlands heißt: Nordsee. Am Mittwoch stellte Habeck die Novelle des „Windenergie-auf-See-Gesetzes“ vor. Das Ziel: bis 2045 Windräder mit einer Leistung von 70 Gigawatt in Nord- und Ostsee aufzustellen.
Diese Nennleistung entspricht der von 70 Atomkraftwerken. Werden die Pläne umgesetzt, entwickelt sich die schon heute ergiebige Ökostrom-Quelle Nordsee zu einem Megakraftwerk. Während in Bayern die letzten Atomkraftwerke zum Jahresende abgeschaltet werden.
Der Norden liefert, was Investoren und Manager händeringend suchen: grüne Kilowattstunden im Überfluss. Es gibt heute praktisch keine großen oder börsennotierten Firmen mehr, die sich nicht der Klimaneutralität verpflichtet hätten. Oft richtet sich bereits die Vergütung des Top-Managements nach messbaren Erfolgen bei der Begrünung des Geschäftsmodells.
Das fällt im Norden besonders leicht: Der Windstrom vor Ort füttert immer mehr Elektrolyse-Anlagen, die mit Wasserstoff einen klimaneutralen Erdgas-Ersatz herstellen. In Wilhelmshaven entsteht ein Drehkreuz für Wasserstoff-Importe und CO2-Ausfuhren. Flüssiggas-Häfen sichern den Energienachschub.
Drei Viertel des Ausbaus entfielen auf Fotovoltaik
Und der Süden? Bayerns berühmte 10-H-Regel hielt die Windkraft draußen. Sie sieht vor, dass jedes Windrad mindestens zehnmal so weit von der nächsten Siedlung entfernt sein muss, wie es hoch ist. Die rote Laterne im Windkraftausbau hält Baden-Württemberg: In der Länderstatistik finden sich, abgesehen vom kleinen Saarland, nur noch Stadtstaaten, die noch weniger Windräder haben. Jetzt wird die Energie knapp.
In Bayern, das seinen Stromverbrauch bis 2011 zu über 50 Prozent aus fünf Kernkraftwerken bezog, schmolz die bis dahin positive „Leistungsreserve“ dahin und wurde vor drei Jahren erstmals negativ. „Die bekannten Planungen neuer Kapazitäten lassen nicht darauf schließen, dass sich dies in den folgenden Jahren ändern wird“, heißt es im aktuellen „Energiewende-Monitor“ des Prognos-Instituts.
Zwar konnte Bayern seine Ökostrom-Kapazitäten zwischen 2008 und 2019 auf über 20 Gigawatt verdreifachen. Doch 75 Prozent des Ausbaus entfielen auf Fotovoltaik, die nachts nie und im Winter kaum Strom produziert. Aus industrieller Sicht das noch größere Problem: Die Kapazität konventioneller Stromerzeuger, die mit einiger Sicherheit rund um die Uhr die Grundlast decken können, halbierte sich in Bayern im selben Zeitraum auf nur noch sechs Gigawatt.
Zwar rühmt man sich in Bayern einiger Ansiedlungserfolge der Tech-Industrie, Google und Apple haben hier ihre Deutschlandzentralen. Doch das hat mehr mit der Nähe zur Autoindustrie zu tun – und mit der Tatsache, dass Google und Apple hierzulande nicht zu den Energie-Großverbrauchern gehören. Eine Studie der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (VBW) kommt zu dem Ergebnis, dass der Freistaat beim Vergleich der dynamischsten Standorte nur noch auf Platz 30 von 45 liegt.
„Im Nordosten haben sie noch mehr Hunger“
Auch in München weiß man, dass sich etwas verschiebt. „Die Energieverfügbarkeit war schon immer wichtig für Industrieansiedlungen“, sagt Bayerns Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) WELT AM SONNTAG. Durch die Atomkraft habe man den Vorteil der Kohleregionen aufholen können. „Jetzt kommt die neue Zeit nach fossilen Energieträgern und der Atomkraft.
Natürlich haben die Regionen im Norden und Osten, die viel Windkraft und einen bis dato geringen Energiebedarf haben, momentan einen Startvorteil.“ Noch sei das kein Problem, befindet Aiwanger.
Im Gegenteil: „Wir haben in Bayern die niedrigste Arbeitslosigkeit, wir sind sehr dicht besiedelt, da beginnen bei manchen Ansiedlungsüberlegungen Debatten, bei denen Firmen den Eindruck bekommen: Wenn ich mich da nicht ansiedle, sind die auch nicht traurig“, sagt er. „Das ist auch ein Thema der volkswirtschaftlichen Sättigung, im Nordosten haben sie einfach noch mehr Hunger nach Arbeitsplätzen – und dann kommen die erneuerbaren Energien und die besseren Förderkonditionen noch dazu.“
Aiwanger will deshalb auch die bislang sakrosankte 10-H-Regel anpassen. Man müsse sie „gezielt und intelligent öffnen, da wollen wir uns bis Ende April mit der CSU einigen“, sagt er. „Wir wollen Windkraft nicht im Wildwuchs überall da, wo gerade ein Investor ein Feld gekauft hat, sondern schwerpunktmäßig auch gezielt an Gewerbe- und Industriegebieten.“ Man müsse bei den erneuerbaren Energien „deutlich aufschließen“.
Wasserstoff muss aus dem Norden importiert werden
Kaum besser ist die Versorgungslage in Baden-Württemberg. Der Übertragungsnetzbetreiber TransnetBW kam in einer Zukunftsstudie zu dem Ergebnis, dass Baden-Württemberg 2050 nur die Hälfte seines Strombedarfs selbst erzeugen kann. „Das Stromdefizit vergrößert sich von acht Terawattstunden im Jahr 2018 auf rund 60 Terawattstunden im Jahr 2050“, heißt es dort. Die beiden im Bau befindlichen „Stromautobahnen“ reichten dafür aber nicht aus.
Die Abwendung Deutschlands von russischen Energielieferungen erschwert die Versorgungslage im Süden zusätzlich. Bayern versorgt sich hauptsächlich über die Megal-Pipeline, die über den tschechischen Grenzpunkt Waidhaus russisches Erdgas liefert. Damit sollten bislang auch die neuen Reservekraftwerke betrieben werden.
Der Erdgas-Ersatz Wasserstoff, der als Energieträger der Zukunft gilt, muss in den nötigen Mengen aus dem Norden importiert werden, wo die Elektrolyseure neben riesigen Windparks stehen. Spätestens in der Wasserstoff-Ära müsse man sich den Vorsprung der vergangenen Jahre wieder zurückerobern, heißt es in Bayern. „Dafür brauchen wir aber auch den Anschluss an die Wasserstoff-Pipelines“, sagt Aiwanger.
Bis spätestens 2030 müsse man „angedockt“ sein. „Der Wasserstoff ist die neue Kohle, das neue Atom, das neue Erdgas. Wer genügend grünen Wasserstoff verfügbar hat, der wird morgen die Region sein, in der sich Unternehmen wieder ansiedeln.“ Doch die Planungen für Wasserstoff-Pipelines sehen nur den sukzessiven Ausbau von Nord nach Süd vor. Jahre wird das dauern.
Aiwanger fordert Hilfen
Und im Norden hat man nicht vergessen, dass man bislang mehr zahlen musste als der Süden. Betrieben dort wurde zur Finanzierung des Ausbaus der erneuerbaren Energien mehr für die Netznutzung in Rechnung gestellt. „Der Norden musste über Jahre teilweise das doppelte Netznutzungsgeld zahlen.
Jetzt dreht sich die Sache um: Künftig haben Unternehmen im Norden bei der Energieversorgung Vorteile gegenüber jenen im Süden“, sagt Reinhold von Eben-Worlée, geschäftsführender Gesellschafter der Worlée-Chemie GmbH in Hamburg.
Aiwanger fordert schon mal Hilfen des Bundes für den bislang prosperierenden Süden. „Der Bund muss auch Netzentgelte aus der Staatskasse abpuffern, damit die Kosten nicht voll auf Abnehmer durchschlagen, die in einer ländlichen Region sitzen, wo es wenige Anschlüsse gibt“, verlangt er. Damit klingt Aiwanger fast schon wie der Wirtschaftsminister einer strukturschwachen Region.