Doch vielen Eisenbahnunternehmen könnte gar keine andere Wahl bleiben, denn während die Preise für Bahnstrom genau wie die
Energiekosten für Privathaushalte in den vergangenen Monaten regelrecht explodiert sind, steigen sie für Diesel nur relativ langsam. Das verschafft nicht nur den Dieselloks plötzlich wieder Vorteile, sondern auch einem ganz anderen Konkurrenten: dem Lkw.
Eigentlich ist das Ziel der Bundesregierung klar: Um den CO2-Ausstoß des Verkehrssektors zu senken, soll der Anteil des Schienengüterverkehrs laut Koalitionsvertrag bis 2030 um 25 Prozent gesteigert werden. Doch das dürfte angesichts der Strompreisentwicklung fast unmöglich werden, es droht sogar eine gegensätzliche Entwicklung.
„Die Gefahr von Verkehrsverlusten an die Straße ist aufgrund der Preissensibilität unserer Kunden immer gegeben“, sagt Sven Flore, Chef der SBB Cargo International, WELT AM SONNTAG. Das Tochterunternehmen der Schweizer Bundesbahn gehört auch in Deutschland zu den größten Wettbewerbern der Deutschen Bahn (DB) im Schienengüterverkehr.
Innerhalb eines Jahres haben sich die Beschaffungskosten an den Strombörsen laut dem SBB-Manager versechsfacht. Zwar gebe es einige dämpfende Faktoren wie eine Begrenzung der EEG-Umlage und einen ermäßigten Steuersatz, doch insgesamt sei der Bahnstrom in Deutschland heute zweieinhalb- bis dreimal so teuer wie noch vor zwölf Monaten.
Immerhin sei es bislang gelungen, durch langfristige Beschaffungsstrategien den Preisanstieg für die SBB Cargo International für dieses Jahr zu begrenzen – auf 50 Prozent. Das gilt allerdings nur für bestehende Kunden. „Neuverkehre können nur gestartet werden, wenn diese den aktuellen Einkaufspreis abdecken. Dies wird kein Kunde mitmachen“, sagt Flore.
Auch er bringt deshalb die Option ins Spiel, die Tenisson derzeit durchdenkt. „Interessant ist, dass – nüchtern betrachtet – der Einsatz von schweren Dieselloks bei Neuverkehren kostenmäßig deutlich günstiger wäre als der Einsatz von E-Loks“, sagt der SBB-Mann.
Verdreichfachung der Gebühren
Bei der Deutschen Bahn gibt man sich beim Thema Strompreis extrem zugeknöpft. Kein Wunder, denn der Staatskonzern ist auf beiden Seiten aktiv: Während die Züge der DB sowohl im Personen- als auch im Güterverkehr von den spürbar steigenden Strompreisen betroffen sind, gehört das Tochterunternehmen DB Energie zu den großen Anbietern von Bahnstrom in Deutschland. Die Tarife der DB Energie und ihre Entwicklung in den vergangenen Monaten erklärt der Konzern auf Anfrage kurzerhand zu vertraulichen Informationen.
Einen Einblick bekommt man allerdings durch die veröffentlichten Preise für die sogenannte Rückfallversorgung. Diesen Tarif müssen alle Eisenbahnunternehmen im Netz der DB zahlen, wenn sie keinen Vertrag mit einem anderen Stromlieferanten geschlossen haben, man kann ihn mit der Grundversorgung von Privathaushalten vergleichen.
Zum 1. Januar 2022 verkündete die DB eine Erhöhung auf bis zu 21,7 Cent pro Kilowattstunde. Zuvor waren es lediglich 7,46 Cent gewesen – eine Verdreifachung. Wie viele Kunden von dieser Gebührenerhöhung betroffen sind, sei laut DB „nicht absehbar“.
Einer der größten Wettbewerber der DB Energie beim Bahnstrom sind die Stadtwerke Tübingen, die nach eigenen Angaben einen Marktanteil von rund 30 Prozent außerhalb des DB-Konzerns haben. „Auch bei den Stadtwerken Tübingen kam es zu Preissteigerungen beim Bahnstrom“, räumt das Unternehmen ein. Wie viel teurer es geworden ist, beziffern auch die Stadtwerke nicht genau. „Man kann sagen: Je nachdem, wie und zu welchen Zeitpunkten sich ein Eisenbahnverkehrsunternehmen eingedeckt hat, fällt der Preisanstieg unterschiedlich hoch aus.“
Mathias Tenisson von der Eisenbahngesellschaft Potsdam spricht ebenfalls von einer Verdreifachung der Preise: „Die reinen Strompreise lagen über viele Jahre stabil bei etwa drei bis sechs Cent pro Kilowattstunde, aktuell liegen sie bei 17 Cent“, sagt er. „Das kann man unseren Kunden nicht mehr verkaufen.“
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Zwar gebe es die Möglichkeit, sich mit langfristigen Lieferverträgen gegen kurzfristige Schwankungen abzusichern, aber das hat Grenzen. „Wir stehen jetzt vor der Frage: Lege ich mich auf Jahre auf die hohen Preise fest und sichere mich gegen weitere Preissteigerungen ab oder hoffe ich, dass die Preise doch wieder fallen?“, beschreibt Tenisson sein Dilemma.
Der Schweizer Wettbewerber kritisiert die Intransparenz des deutschen Bahnstrommarktes. „Es fehlt in der Branche ein neutraler Bahnstrompreisindex, der die Bahnstromkosten mitsamt seinen Anteilen – Strompreise, Netzentgelte, Stromsteuer und EEG-Umlage – transparent abbildet, und auf den in Transportverträgen zukünftig wettbewerbsneutral referenziert werden könnte“, beklagt SBB-Manager Flor
Bahn weiter optimistisch
Trotz der Intransparenz ist klar, dass der Bahnstrompreis deutlich stärker gestiegen ist als der Dieselpreis. „Wenn sich an den Strompreisen nichts ändert, wird es zwangsläufig so kommen, dass Kunden ihre Waren wieder mit Lkw transportieren lassen. Das ist dann einfach billiger“, sagt Tenisson.
Selbst die Stadtwerke Tübingen teilen diese Befürchtung, dass die Entwicklung zulasten des klimafreundlichen Schienengüterverkehrs geht. Die Kraftstoffpreise seien „bei Weitem nicht so gestiegen wie der Strompreis“, teilt das Unternehmen mit. „Dies könnte dazu führen, dass Teile des Schienengüterverkehrs wieder auf dieselbetriebene Lokomotiven umsteigen.“
Nur ein Unternehmen glaubt nicht, dass die Strompreisentwicklung zum Problem werden könnte: die Deutsche Bahn. „Die gesamte Logistikbranche spürt derzeit die Folgen steigender Energiepreise“, sagt ein Sprecher. „Und angesichts der Rekordhöhen für den Dieselpreis an Zapfsäulen kann gerade der Schienengüterverkehr seine Systemvorteile ausspielen.“
Züge würden deutlich energieeffizienter rollen als Lkw auf der Straße. „Lieferwege über die Schiene sind auch hier resilienter als alle anderen Landverkehrsmittel“, behauptet der DB-Konzern, schließlich werde pro Tonne pro Kilometer weniger Energie benötigt.
Bei der Schweizer SBB Cargo glaubt man den Grund für den überraschenden Optimismus des deutschen Konkurrenten zu kennen: Die DB müsse die steigenden Kosten nicht wie ihre Wettbewerber voll weitergeben, deshalb könnten Kunden der Konkurrenz, statt auf den Lkw-Transport zu setzen, zur DB Cargo wechseln.
„Solange sich unser größter Wettbewerber darauf verlassen kann, dass alle Verluste durch den Konzern und letztlich den Steuerzahler kompensiert werden, rechnen wir mit dem Verlust von Marktanteilen, da wir eigenwirtschaftlich produzieren müssen“, sagt SBB-Manager Flore.
Die privaten Unternehmen hoffen stattdessen auf staatliche Hilfe auch für die DB-Konkurrenten. „Der Staat sollte der Schienengüterverkehrsbranche temporär helfen, indem er zum Beispiel die Trassengebühren, unsere Schienenmaut, weiter senkt oder am besten ganz streicht“, sagt Tenisson. Aus der FDP-Fraktion im Bundestag gibt es bereits Unterstützung für die Forderung nach staatlichen Hilfen.
„Die hohen Energiepreise gefährden die Energie- und Verkehrswende“, sagt der energiepolitische Sprecher der Liberalen, Michael Kruse, WELT AM SONNTAG. Er höre von vielen Bahn- und Logistikunternehmen, dass sie in ihrer Existenz bedroht seien, man müsse befürchten, dass Verkehre „unwiederbringlich von der Bahn auf die Straße verlagert“ werden.
„Ich setze mich daher dafür ein, hier schnell wirtschaftliche Hilfen für die betroffenen Bahn- und Logistikunternehmen bereitzustellen, um dem Gütertransport auf der Schiene das Überleben zu sichern“, sagt Kruse. Er sei dazu schon mit den betroffenen Ministerien in Gesprächen. Die dürften nicht allzu kompliziert werden, schließlich sind mit Verkehrsminister Volker Wissing und Finanzminister Christian Lindner gleich zwei FDP-Parteifreunde zuständig.