Die Ökostrom-Produktion schwächelt. Und jetzt schmiedet Brüssel auch noch einen Gas-Plan, der die Kohle zurück auf den Zettel bringt. Andernfalls droht die Stromlücke. Ein Kohleausstieg würde in weite Ferne rücken. Deutsche Kommunen machen nun einen Gegenvorschlag.
Die neue Bundesregierung möchte den Kohleausstieg in Deutschland „idealerweise“ von 2038 auf 2030 vorziehen. Doch die Ampel-Koalitionäre stoßen bei ihrem Vorhaben gleich zu Beginn auf immense Probleme. Denn neben der sogar rückläufigen Produktion erneuerbarer Energien drohen neue Vorgaben aus Brüssel die Zielerreichung zu erschweren.
Die Ausgangslage für den geplanten Energiewende-Turbo der neuen Bundesregierung verschlechterte sich am Mittwoch erheblich: Das Ziel, bis 2030 in Deutschland einen Ökostrom-Anteil von 80 Prozent zu erreichen, ist laut aktuellen Zahlen des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) noch ein wenig unrealistischer geworden. Demnach ist der Anteil erneuerbarer Energien am Bruttostromverbrauch in diesem Jahr sogar von 46 Prozent auf 42 Prozent geschrumpft. Maßgeblich waren dafür schlechte Windverhältnisse.
Dass erneuerbare Energien die schon in nächster Zeit wegfallenden Kapazitäten an Kohle- und Atomkraft ersetzen können, gilt deshalb in Fachkreisen als ausgeschlossen. Fast jede Studie zur Erreichung der deutschen Energiewende-Ziele geht davon aus, dass bis 2030 Gaskraftwerke in erheblichem Umfang neu gebaut werden müssen, um die Stromlücke übergangsweise schließen zu können.
Es geht um gewaltige Größenordnungen. Je nach Einschätzung halten Institute neue Gaskraft über 15 Gigawatt (Deutsche Energieagentur), 30 bis 40 Gigawatt (Denkfabrik EPICO) oder sogar 43 Gigawatt (Boston Consulting Group) für nötig, um die Stromversorgung bis 2030 zu sichern.
Innerhalb von nur acht Jahren müsste Deutschland also mindestens 50, vielleicht aber sogar 140 neue Gaskraftwerke der 300-Megawatt-Klasse aus dem Boden stampfen. Bei Planungs- und Bauzeiten von mindestens sechs Jahren kann das nur gelingen, wenn jetzt sofort damit begonnen wird.
Doch in dem Augenblick, in dem Deutschland händeringend nach Investoren für neue Gaskraftwerke sucht, erschwert die EU-Kommission die Bedingungen dafür erheblich. Nach einem Vorschlag Frankreichs will Brüssel in der sogenannten Taxonomie-Verordnung nur solchen Gaskraftwerken das Prädikat „nachhaltig“ zuerkennen, die weniger als 100 Gramm CO₂ pro Kilowattstunde produzieren. Nur: Solche Gaskraftwerke sind noch gar nicht auf dem Markt. Die modernsten Gaskraftwerke emittieren heute dreimal so viel, rund 300 Gramm CO₂ pro Kilowattstunde.
Kein Investor dürfte aber bereit sein, in Gaskraftwerke zu investieren, wenn diese nicht das EU-Gütesiegel für „nachhaltige“ Stromerzeugung bekommen. Denn zu groß wäre das Risiko, dass klimapolitischer Druck bald zu einer frühzeitigen Zwangsabschaltung der teuren Anlagen führt.
Die Stadtwerke wollen es nicht so weit kommen lassen
Gerade den rund 900 kommunalen Stromversorgern in Deutschland schwant deshalb Unheil: „Wenn der Grenzwert von 100 Gramm CO₂ Teil der EU-Taxonomie wird, baut in Deutschland auf Jahre hinaus niemand mehr Gaskraftwerke“, sagt Ingbert Liebing, Hauptgeschäftsführer des Verbandes kommunaler Unternehmen (VKU). Folge: „Die Bundesnetzagentur hätte aus Gründen der Versorgungssicherheit dann keine andere Wahl, als Kohlekraftwerke länger laufen zu lassen.“ Das Vorziehen des Kohleausstiegs auf 2030 unter solchen Voraussetzungen wäre, so Liebing, „illusorisch“.
Als Kommunalversorger mit besonders enger Kundenbindung wollen die Stadtwerke, die einen erheblichen Teil der Gaskraftwerke in Deutschland betreiben, es nicht so weit kommen lassen. Ein Kompromissvorschlag, den der VKU jetzt in die Brüsseler Taxonomie-Verhandlungen einspeist, soll Investoren bei der Stange halten und gleichzeitig die Emissionen von Gaskraftwerken über die Zeit senken.
Der Stadtwerke-Verband plädiert für eine Umstellung von einem starren Grenzwert hin zu einem Budget. Neue Gaskraftwerke sollen 820 Kilogramm CO₂ pro Kilowatt installierter Leistung zugeteilt bekommen, die sie über die Laufzeit flexibel nutzen können. „Dieses Budget ist ebenfalls äußerst ambitioniert und verhält sich wie eine CO2-Bremse, die im Zeitablauf immer stärker wirkt“, wirbt Liebing für den Vorschlag: „Der Budgetansatz sorgt dafür, dass der Betreiber des Kraftwerks frühzeitig eine Strategie zur Dekarbonisierung verfolgt, indem er etwa auf Wasserstoff-Verbrennung umstellt.“
Ob die Kompromissformel noch Chancen hat, in der Taxonomie-Entscheidung berücksichtigt zu werden, war in Brüssel nicht in Erfahrung zu bringen. Viel Zeit bleibt nicht: Über die sogenannten delegierten Rechtsakte zu diesem Thema will die EU-Kommission noch bis Jahresende abschließend befinden.