Bei der Steuer- und Abgabenlast für die Mittelschicht liegt Deutschland europaweit im absoluten Spitzenfeld. Nur zwei Länder verlangen noch mehr. Das erschwert den Vermögensaufbau. Die deutsche Wachstumsschwäche setzt der Mitte zusätzlich zu.
null Westend61/Getty Images; Montage: Infografik WELT© Bereitgestellt von WELT
Bei der Steuer- und Abgabenlast für die Mittelschicht zählt Deutschland europaweit zur Spitzengruppe. Für Alleinstehende und für Doppelverdiener-Familien gilt dies besonders, wie eine Studie des Ifo-Instituts zeigt. Danach zahlen schon Singles, die der unteren Mittelschicht angehören, hierzulande 35 Prozent ihres Einkommens an den Staat und gesetzliche Sozialversicherungen.
EU-weit liegt diese Quote mit durchschnittlich 26 Prozent deutlich niedriger. Von den hiesigen Alleinstehenden der oberen Mittelschicht beansprucht der Staat mit 44 Prozent ebenfalls weit mehr als der Durchschnitt der EU-Staaten, der bei rund einem Drittel liegt.
Arbeiten hingegen beide Elternteile zu gleichen Teilen, rutschen die Familien bei der Belastung ins Spitzenfeld. Dass Familien mit gleich hohem Haushaltseinkommen je nach der Aufteilung der Erwerbsarbeit so unterschiedlich besteuert werden, hält Ifo-Forscher Florian Dorn für problematisch.
„Es gibt klügere Wege zur Entlastung von Ehepaaren und Familien als das Ehegatten-Splitting“, sagt der Ökonom. „Diese Form der Besteuerung setzt negative Arbeitsanreize, die wir uns in Deutschland angesichts der Arbeitskräfteknappheit nicht mehr leisten können.“
Das Ifo-Institut hat im Auftrag der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung mehrere Studien zur Lage der Mittelschicht in Deutschland und in Europa erstellt und in den vergangenen Monaten veröffentlicht. Dabei zeigte sich nicht nur mit Blick auf die Besteuerung, dass die deutsche Mitte enorm unter Druck steht.
Deutsche Mittelschicht unter Druck
So fällt es den Beziehern mittlerer Einkommen in der Bundesrepublik besonders schwer, Vermögen aufzubauen. Das gilt vor allem für das selbst genutztes Wohneigentum. Nirgendwo in der EU ist laut Ifo der Anteil der Mittelschicht, die im Eigenheim wohnt, niedriger als in Deutschland.
„Die hohe Abgabenbelastung erschwert den Vermögensaufbau“, moniert Ifo-Experte Dorn. Zumal etwa der Erwerb von Immobilien für breite Schichten in den vergangenen Jahren zu teuer geworden sei.
null Infografik WELT© Bereitgestellt von WELT
„Wenn in der Mitte der Gesellschaft der Spielraum für den Vermögensaufbau schwinde, stellt sich für viele die Frage, warum man sich dann überhaupt noch mehr anstrengen sollte“, warnt der Ökonom. Auch diese ungute Entwicklung dämpfe Deutschlands Wachstumschancen.
Zur Mittelschicht gehören nach der international üblichen Definition alle Haushalte, deren verfügbares Einkommen zwischen 75 und 200 Prozent des mittleren Einkommens liegt. Für hiesige Singles umfasst dies Einkommen von mindestens 17.500 Euro im Jahr bis maximal 46.600; bei einer vierköpfigen Familie reicht die Spanne von 36.700 Euro bis zu 98.900 Euro Jahreseinkommen.
null Infografik WELT© Bereitgestellt von WELT
2019 zählten in Deutschland 63 Prozent der Bevölkerung zur Mittelschicht – drei Prozentpunkte weniger als noch 2007. Damit schrumpfte die Mitte, die seit Ende der 90er-Jahren zurückging, weiter.
Deutschlands Wirtschaftsschwäche setzt Mittelschicht stark zu
In vielen anderen europäischen Staaten war die Entwicklung, wie die Analyse des Ifo-Instituts zeigt, entgegengesetzt. So zählen in Griechenland, Frankreich, Portugal oder Luxemburg inzwischen größere Teile der Bevölkerung zur Mitte als 2007. Gehörten die Deutschen damals im europäischen Vergleich noch zum oberen Drittel, so liegen sie jetzt beim Umfang ihrer Mittelschicht mit dem 14. Platz nur noch im Mittelfeld.
Die anhaltende Wirtschaftsschwäche in Deutschland setzt der Mittelschicht stark zu. So ist das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) in diesem Jahr nicht größer als 2019, dem letzten Jahr vor der Corona-Pandemie.
„Damit sind wir weltweit das Schlusslicht beim Wachstum“, sagt Ifo-Forscher Dorn. Die hohe Inflation habe besonders die untere Mittelschicht stark getroffen, die sich in ihrem Konsum einschränken müsse. Denn die Löhne würden erst allmählich anziehen.
null Infografik WELT© Bereitgestellt von WELT
Allerdings haben die Ifo-Forscher für die Deutschen auch eine tröstliche Botschaft in petto. Zwar kann die hiesige Mittelschicht beim verfügbaren Einkommen nicht mit der in den EU-Staaten Luxemburg, Dänemark, Finnland, Österreich oder Schweden mithalten. Europas größte Volkswirtschaft kommt hier nach Irland lediglich auf den siebten Platz.
Doch bei der Kaufkraft der Einkommen belegen die Deutschen immerhin den dritten Platz hinter Luxemburg und Österreich. Denn die Preise hierzulande sind in Restaurants oder im Supermarkt oft günstiger als anderswo in Europa. „Das zeigt, wie wichtig ein funktionierender Wettbewerb ist“, betont Ifo-Experte Dorn.