Die Preise für Strom und Gas sind um ein Vielfaches teurer als in den USA und Asien – und der große Kostenschub kommt erst noch. Die deutschen Konzerne fürchten eine Deindustrialisierung.
„Insgesamt gefährden die hohen Energiekosten die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland.“ Foto: dpadata-portal-copyright=© Bereitgestellt von Handelsblatt
Die dramatisch steigenden Preise für Strom und Gas werden zu einem immer größeren Wettbewerbsnachteil für Unternehmen in Deutschland: „Die deutsche Industrie zahlt für Erdgas aktuell einen Marktpreis, der um den Faktor acht höher liegt als der Marktpreis in den USA“, sagt Christof Bauer, Energieexperte der TU Darmstadt.
Bauer bezieht sich mit seinen Berechnungen, die dem Handelsblatt exklusiv vorliegen, auf den aktuellen Großhandelspreis für Lieferungen im Jahr 2023. Dieser Preis liegt aktuell bei 270 Euro pro Megawattstunde.
Rechnet man noch Steuern und Abgaben hinzu, unterscheiden sich die Gaspreise in Deutschland und den USA laut Bauer sogar um den Faktor neun. Allein die Umlagen wie Konzessionsabgaben und Netzentgelte, zu denen im Oktober noch die neue Gasumlage kommt, sind fast so hoch wie der gesamte Gaspreis in den USA. Es würde aufgrund der gestiegenen Gaspreise bereits weniger hergestellt und Produktion verlagert, sagt Bauer.
Die Warnung der Industrie ist auch deshalb brisant, weil der eigentliche Kostenschub erst noch bevorsteht. „Die große Welle bei den Kosten für Strom und Gas wird die energieintensiven Firmen in Deutschland erst im kommenden Jahr richtig erfassen“, sagt Unternehmerin Carletta Heinz, Chefin der fränkischen Heinz-Glas, eines Herstellers von Parfümflakons.
Viele Unternehmen profitieren im Moment noch von alten Lieferverträgen, die sie für einen gewissen Zeitraum vor den derzeit großen Preissprüngen schützen. Doch die laufen nach und nach aus. In den nächsten Monaten und im kommenden Jahr müssen sie sich zu den dann geltenden Konditionen mit Erdgas und Strom eindecken – und die werden nach aktueller Erwartung im Handel mit Zukunftskontrakten an den Energiebörsen kaum niedriger liegen als aktuell.
„Für den Industriestandort sind die hohen Gas- und Stromkosten ein Riesenproblem“
Besonders stark betroffenen sind energieintensive Branchen wie Chemie, Stahl, Papier, Baustoffe, Zement oder Glas. „Für den Industriestandort sind die hohen Gas- und Stromkosten ein Riesenproblem“, sagt Hubertus Bardt, Geschäftsführer des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW).
„Kurzfristig haben wir extreme Preissteigerungen, die es in anderen Regionen nicht gegeben hat. Langfristig ist immer noch ein höheres Preisniveau zu erwarten, wenn wir uns stärker über LNG versorgen“, sagt der IW-Geschäftsführer. Das stelle die Wettbewerbsfähigkeit energieintensiver Unternehmen infrage. „Schon bisher war Deutschland ein teures Energieland, das wird nun noch deutlich schlechter“, sagt er.
Das hohe Energiepreisniveau ist seit vielen Jahren eine Bürde für zahlreiche Branchen in Deutschland. Die Folgen sind seit Langem zu spüren: Unternehmen aus energieintensiven Branchen investieren weniger, als sie abschreiben, sie zehren somit ihre Substanz auf.
Teures Deutschland – Schere bei den Energiepreisen geht immer weiter auseinander
Dieser Trend dürfte sich nun deutlich verstärken. Denn die Schere zwischen Deutschland und anderen europäischen und außereuropäischen Ländern bei den Strom- und Gaspreisen geht immer weiter auseinander.
Wie stark sich die Energiepreise schon vor Kriegsausbruch auseinanderentwickeln, zeigt der Zehnjahresvergleich mit Daten der Internationalen Energieagentur (IEA). Danach lag der Industriestrompreis in Deutschland 2010 noch bei etwa zehn Cent je Kilowattstunde und schnellte bis 2021 um gut 50 Prozent auf rund 15 Cent pro Kilowattstunde in die Höhe – ohne Stromsteuer. Damit hat Deutschland Japan als langjährigen Strompreis-Spitzenreiter unter den großen Industrieländern abgelöst.
Zwar stiegen auch in den anderen Regionen wie etwa den USA die Industriestrompreise in den vergangenen zehn Jahren um einen zweistelligen Wert. Aber das Niveau ist vergleichsweise niedrig geblieben. 2010 zahlten Unternehmen in den USA umgerechnet gut fünf Cent pro Kilowattstunde, 2021 waren es gut sechseinhalb Cent.
Ähnliche Dimensionen zeigen sich beim Gaspreis nach Vergleichsdaten, die von der Weltbank erhoben wurden. Danach lag der Preis pro Megawattstunde in Europa Ende 2020 noch bei 20 Euro, das waren dreimal mehr als der damalige Vergleichspreis in den USA, aber weniger als der in Japan. Ab Mitte 2021 schnellten die Gaspreise in Europa viel steiler in die Höhe als in den USA und Japan.
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„Unsere Werke fliegen raus, während Putin Profit macht“: Teures Gas gefährdet Dünger-Produktion und LogistikFür das hohe Energiepreisniveau gibt es verschiedene Gründe. Beim Strom ist der Erzeugungsmix einer davon. Aktuell treiben die hohen Gaspreise die Stromkosten. Gaskraftwerke werden in Spitzenzeiten zwar zuletzt angeworfen, weil sie die teuerste Stromerzeugungsvariante darstellen. Sie setzen aber den Preis für die gesamte Stromerzeugung.
Mit anderen Worten: Auch der Strom aus Kohlekraftwerken oder Windrädern wird an der Strombörse zu dem Preis abgerechnet, den die teuren Gaskraftwerke für ihren Strom ansetzen. Hohe Gaspreise ziehen das Strompreisniveau also automatisch nach oben.
Hinzu kommen in Deutschland besonders hohe Steuern, Abgaben und Umlagen auf Strom. Zwar kommen gerade energieintensive Branchen in den Genuss von Befreiungen und Reduktionen; diese Vergünstigungen sind aber in jedem Einzelfall hart umkämpft und müssen Jahr für Jahr neu erstritten werden. Und selbst dann, wenn sie greifen, ist das Strompreisniveau oft noch höher als in vielen anderen Ländern.
Beim Gas wiederum hat Deutschland zwar jahrelang von günstigem Pipelinegas aus Russland profitiert, doch im Laufe der Jahre hat dieser Vorteil an Bedeutung verloren, weil insbesondere die USA vom Nettoimporteur zum Nettoexporteur von Erdgas geworden sind. Die US-Erdgaspreise sind daher besonders niedrig. Für energieintensive Branchen sind die USA daher zu einem sehr attraktiven Standort geworden.
Industrie fordert Kompensation für die neue Gasumlage
Gerade beim Erdgas wird die Lage durch die neue Gasbeschaffungsumlage zusätzlich erschwert. Es sei „schwer verständlich, warum für die Privatverbraucher durch die Absenkung der Mehrwertsteuer diese Umlage durch Mittel aus dem Bundeshaushalt vollständig kompensiert wird, während Industrieunternehmen allenfalls in einzelnen extremen Härtefällen eine Unterstützung erhalten“, kritisiert Christoph Bauer. „Konsequent wäre insofern eine Neutralisierung der Umlage ebenfalls aus Staatsmitteln für die Industrie“, sagt Bauer.
Hinzu kommt, dass sich die Umlage nicht nur auf den Gaspreis, sondern auch auf den Strompreis auswirkt. Denn höhere Brennstoffkosten für die preissetzenden Gaskraftwerke werden das Strompreisniveau in die Höhe treiben.
Der dramatische Anstieg der Energiekosten in Deutschland beschleunigt Prozesse, die sich in den vergangenen Jahren eher schleichend vollzogen haben: Investitionen werden zurückgehalten, die Produktion runtergefahren.
So verzeichnete die deutsche Aluminiumindustrie im zweiten Quartal einen Produktionsrückgang um 23 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Die Branche, die zu den größten Stromverbrauchern des Landes zählt, blickt pessimistisch in die Zukunft.
„Wenn wir nicht zeitnah eine Lösung in der Energiekrise finden, wird es bald keine Aluminiumhütten mehr in Deutschland geben. Sie sind akut bedroht“, sagt Hinrich Mählmann, Präsident des Branchenverbands Aluminium Deutschland. Erst am Mittwoch kündigte der Hersteller Speira an, die Produktion seiner Hütte im nordrhein-westfälischen Neuss auf die Hälfte der Gesamtkapazität zu drosseln.
Für die deutsche Chemie als eine der energieintensivsten Industrien überhaupt sind die hohen Energiepreise schon seit Jahren eine Herausforderung. Doch konnten die Firmen das dank ideenreicher Steuerung und staatlicher Entlastung bislang wegstecken.
Jetzt ist die Lage deutlich dramatischer. „Die Belastungen haben sich derart vervielfacht, dass kurz- und mittelfristig selbst die stärksten Schultern versagen werden“, sagt Wolfgang Große Entrup, Hauptgeschäftsführer des Verbands der Chemischen Industrie (VCI). „Keine Idee der Welt schafft es noch, die aktuellen Wettbewerbsnachteile bei den Energiekosten zu kompensieren.“ Der Schritt von einer „weltweit führenden Industrie- und Exportnation hin zum Industriemuseum ist kurz und muss unter allen Umständen vermieden werden“, warnt er.
Die großen Chemieunternehmen können mit der Belastung noch umgehen, weil sie international mit großen Standorten in den USA und Asien stabiler aufgestellt sind als etwa ein aus Deutschland heraus exportierender Mittelständler. Aber die teure Energie hinterlässt auch bei Konzernen wie dem Kunststoffhersteller Covestro tiefe Spuren.
Covestro-Chef fürchtet Schwächung der Industrie
Für das laufende Jahr 2022 rechnet Covestro mit globalen Energiekosten von bis zu 2,2 Milliarden Euro. Das ist mehr als drei Mal so viel wie im Jahr 2020. Die Gasumlage kommt noch hinzu und wird die Kosten um einen niedrigen bis mittleren dreistelligen Millionen-Euro-Betrag erhöhen. Jetzt spart der Leverkusener Konzern Gas, wo er kann.
Auswirkungen auf die Investitionsplanung hat die teure Energie bei Covestro noch nicht – das gilt zumindest für dieses Jahr. CEO Markus Steilemann fürchtet bei anhaltend hohen Preisen eine strukturelle Schwächung nicht nur der heimischen Chemie. „Insgesamt gefährden die hohen Energiekosten die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland“, sagt er.
Viele mittelständische Firmen können bei den herrschenden Energiekosten nur überleben, wenn sie schon längst Produktionen im Ausland aufgebaut haben. Eine Entwicklung, die wegen der teuren Energiebasis noch beschleunigt werden könnte.
Der fränkische Glashersteller Heinz-Glas etwa lässt seine Flakons für Parfümhersteller schon seit einigen Jahren in Südamerika und Indien fertigen. Am Heimatstandort im oberfränkischen Kleintettau ist die Produktion hingegen wegen der teuren Energie kaum noch wirtschaftlich zu betreiben. 2019 lagen die Kosten für Strom und Gas bei dem Glashersteller noch bei elf Millionen Euro.
In diesem Jahr wird der Mittelständler 30 Millionen Euro für Energie ausgeben. Im nächsten dürften es noch mal deutlich mehr werden, befürchtet Unternehmerin Carletta Heinz. Die Chefin will das Unternehmen am Traditionsstandort in Franken erhalten, dort, wo es vor 400 Jahren gegründet wurde. Doch ihr ist klar: „Ohne Unterstützung der Politik wird uns das nicht gelingen.“