Zitat von Gast am 10. Oktober 2023, 05:37 Uhr
Arbeitsrecht: Die Rechtsform SE schränkt Rechte von Arbeitnehmern ein – noch
Marie-Christine Ostermann, Präsidentin des Familienunternehmerverbandes, weist die Vorschläge des Rechtsgutachtens zurück. Foto: Anne Großmann Fotografiedata-portal-copyright=© Bereitgestellt von Handelsblatt
Bei der Rechtsform der Europäischen Aktiengesellschaft gelten deutsche Mitbestimmungsstandards nicht. Ein Rechtsgutachten zeigt, wie die Ampelkoalition das ändern kann.
Was haben der im Dax notierte Immobilienkonzern Vonovia, der Versandhändler Zalando und das familiengeführte Technologieunternehmen Freudenberg gemeinsam? Sie sind als „Europäische Aktiengesellschaft“ (Societas Europaea, SE) organisiert.
Diese Rechtsform hatte die Europäische Union im Jahr 2001 mit dem Ziel eingeführt, Unternehmen grenzüberschreitende Aktivitäten zu erleichtern. Aus Sicht der Gewerkschaften verfolgen Firmen mit der SE aber noch ein anderes Ziel – nämlich die Mitbestimmung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern einzuschränken oder ganz zu verhindern.
Denn eigentlich haben diese in Deutschland das Recht, in Aufsichtsräten großer Aktiengesellschaften oder GmbHs mitzuwirken. In Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten steht Arbeitnehmervertretern ein Drittel der Aufsichtsratsmandate zu. In Unternehmern mit mehr als 2000 Beschäftigten ist es die Hälfte, man spricht dann von paritätischer Mitbestimmung.
Von den 389 aktiven SEs, die im Jahr 2020 mit Sitz in Deutschland registriert waren, hatten nur 21 einen paritätisch besetzten Aufsichtsrat, bei 48 weiteren stellten Beschäftigte ein Drittel der Mandate. 82 der Europäischen Aktiengesellschaften hatten mehr als 2000 Beschäftigte, würden also ohne die spezielle Rechtsform der paritätischen Mitbestimmung unterliegen.
Besonders Familienunternehmen vermeiden Mitbestimmung
Besonders oft geht die Rechtsform SE bei Familienunternehmen zulasten von Arbeitnehmerrechten. Denn nach einer Untersuchung des Instituts für Mitbestimmung und Unternehmensführung (IMU) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung aus dem Jahr 2021 vermieden 44 von 45 Unternehmen in Familienhand, die als Europäische Aktiengesellschaft betrieben wurden und mehr als 2000 Beschäftigte im Inland hatten, die paritätische Mitbestimmung.
SPD, Grüne und FDP wollen den „Einfriereffekten“ bei der Mitbestimmung nicht länger tatenlos zusehen. „Missbräuchliche Umgehung geltenden Mitbestimmungsrechts wollen wir verhindern“, heißt es im Koalitionsvertrag.
Die Bundesregierung will sich dafür einsetzen, „dass die Unternehmensmitbestimmung weiterentwickelt wird, sodass es nicht mehr zur vollständigen Mitbestimmungsvermeidung beim Zuwachs von SE-Gesellschaften kommen kann“.
EU-Gesetzgebung zielt auf eine Stärkung der Arbeitnehmerrechte
In einem Gutachten für das IMU zeigt der Göttinger Rechtswissenschaftler Rüdiger Krause nun Wege auf, wie die Bundesregierung durch nationale Gesetzgebung den „Einfriereffekt“ eindämmen könnte. Neues EU-Recht soll dabei helfen.
Zwar enthalte das deutsche SE-Beteiligungsgesetz auch heute schon Möglichkeiten gegen die Umgehung von Mitbestimmung, schreibt Krause in dem Papier, das dem Handelsblatt vorliegt. Doch diese seien vielfach unwirksam, etwa weil bei Missbrauchsverdacht nachgewiesen werden müsse, dass das Einfrieren von Mitbestimmungsrechten das Motiv für die Gründung einer SE gewesen sei.
Krause schlägt vor, sich an der europäischen SE-Richtlinie zu orientieren. Aus der lasse sich deutlich herauslesen, dass eine SE-Gründung nicht zur Beseitigung oder Einschränkung der nationalen Gepflogenheiten der Arbeitnehmerbeteiligung führen dürfe.
Als Missbrauch werde dabei nicht nur die „Entziehung“, sondern auch die „Vorenthaltung“ von Beteiligungsrechten bezeichnet, also wenn eine SE gegründet wird, um Arbeitnehmer von vornherein aus dem Aufsichtsrat herauszuhalten.
Das Ansinnen des europäischen Gesetzgebers, den Arbeitnehmerschutz zu stärken, zeige sich zudem in der neuen EU-Umwandlungsrichtlinie, die grenzüberschreitende Verschmelzungen von Unternehmen regele, heißt es in dem Gutachten.
Krause sieht deshalb europarechtlichen Spielraum, das spezielle Missbrauchsverbot im deutschen SE-Recht zu konkretisieren. Er schlägt vor, das deutsche Gesetz dahingehend zu ändern, dass eine strategische Nutzung des „Einfrierens“ als Rechtsmissbrauch aufgefasst wird. Dieser soll dann vorliegen, wenn innerhalb von vier Jahren nach SE-Gründung ein Schwellenwert überschritten wird, der für die Mitbestimmung relevant ist.
Familienunternehmer verweisen darauf, dass die Gewerkschaft nicht für Risiken haftet
Im Gesetz sollten zudem Anhaltspunkte definiert werden, wann ein Missbrauch auch nach Ablauf der Vier-Jahres-Frist vermutet werden kann. Dies könnte etwa der Fall sein, wenn sich die Wertschöpfung des Unternehmens im Wesentlichen auf Deutschland beschränkt. Denn eigentlicher Zweck der SE ist es ja, grenzüberschreitende Aktivitäten im EU-Binnenmarkt zu erleichtern.
Aus dem Bundesarbeitsministerium heißt es dazu, man prüfe, wie das deutsche Recht geändert werden könnte. Weiter gehende Regelungen müssten aber vor allem auf EU-Ebene entstehen.
Kritik an dem Gutachten übte die Präsidentin des Verbands „Die Familienunternehmer“, Marie-Christine Ostermann. Es gebe einen Unterschied zwischen sogenannten börsennotierten Unternehmen im Streubesitz und Familienunternehmen mit dauerhaften Eigentümern. Bei den eigentümergeführten Unternehmen spiele die Frage, wer für was haftet, eine große Rolle.
Die deutsche Mitbestimmung unterstütze neben dem firmeneigenen Betriebsrat auch die hauptamtlichen Gewerkschaftsfunktionäre, sagte Ostermann. „Wenn die Gewerkschafter über die Mitbestimmung im Aufsichtsrat über die strategische Ausrichtung eines Unternehmens mitentscheiden, berührt das sofort die Frage, wer denn für die damit verbundenen Risiken haftet.“
Die Haftung liege am Ende immer bei der Eigentümerfamilie und nicht bei einer Gewerkschaft, betonte die Präsidentin des Familienunternehmerverbands.