Ukrainische Soldaten demontieren eine Kanone aus einem erbeuteten russischen gepanzerten Mannschaftswagen in der Nähe der Stadt Izium in der Region Charkiw, Ukraine© Reuters/STRINGER
- von Tom Balmforth
Kiew (Reuters) - Den ukrainischen Streitkräften ist der größte Durchbruch an der Südfront seit Kriegsbeginn gelungen.
Die Truppen rückten am Montag an der Frontlinie im Gebiet des Flusses Dnipro in der Region Cherson vor. Tausenden russischen Soldaten drohten von den Nachschublinien abgeschnitten zu werden. Die Regierung in Kiew äußerte sich zunächst nur verhalten zum Kriegsgeschehen. Aber russische Quellen berichteten, wie ukrainische Panzerverbände entlang des Flussverlaufs Richtung Süden vorstießen. Ein Berater des Kiewer Innenministeriums, Anton Geraschtschenko, veröffentlichte ein Video, auf dem ukrainische Soldaten ihre Nationalflagge in der Ortschaft Solota Balka hissten. Das Gebiet liegt zwischen den Städten Cherson und Saporischschja, deren Regionen Russlands Präsident Wladimir Putin am Freitag für annektiert erklärt hat.
Rob Lee von der US-Denkfabrik Foreign Policy Research Institute zitierte russische Blogger, die berichteten, dass ihre Truppen sich bis nach Dutschany etwa 40 Kilometer weiter südlich am Ufer des Dnipro zurückgezogen hätten. "Wenn so viele russische Kanäle Alarm schlagen, heißt das gewöhnlich, dass sie in Schwierigkeiten sind", schrieb Lee auf Twitter. Sollten die ukrainischen Streitkräfte weitere Fortschritte am Ufer des Flusses machen, könnten Tausende russische Soldaten in der Falle sitzen. Der Dnipro ist stellenweise sehr breit, und die Ukraine hat die meisten Brücken zerstört.
Bis zum Montagnachmittag bestätigte das ukrainische Verteidigungsministerium lediglich die Einnahme einer Ortschaft rund 20 Kilometer von der bisherigen Frontlinie entfernt. Serhij Chlan vom Regionalrat Cherson listete weitere Ortschaften auf, die von ukrainischen Truppen eingenommen worden seien, darunter auch Soloto Balka. "Das bedeutet, dass unsere Streitkräfte mit Stärke am Ufer des Dnipro vorankommen, immer näher an Beryslaw heran", sagte Geraschtschenko vom Innenministerium in Kiew. "Offiziell gibt es solche Informationen bislang nicht, aber die panisch werdenden (russischen) Seiten in Sozialen Medien (...) bestätigen diese Fotos absolut."
"NICHT AUF LYMAN BEGRENZT"
Die Meldungen aus dem Süden kommen nur einen Tag nach der vollständigen Befreiung der Stadt Lyman im Osten der Ukraine. "Die Geschichte der Befreiung von Lyman in der Donezk-Region ist zur populärsten in den Medien geworden", sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in einer Video-Botschaft. "Aber die Erfolge unserer Soldaten sind nicht auf Lyman begrenzt." Auch Selenskyj berichtete von Vorstößen seiner Truppen im Gebiet von Cherson. Mit der Einnahme von Lyman könnten die ukrainischen Verbände im Osten weiter tief in russisch besetztes Gebiet vorrücken, wie Viktor Kewljuk vom ukrainischen Forschungsinstitut Zentrum für Verteidigungsstrategie ausführte.
Das Vorrücken im Süden folgt dem gleichen Muster, das der ukrainische Generalstab schon im Osten verfolgt hat: Ziel waren immer zunächst die russischen Nachschublinien, was die Invasoren daraufhin zwang, Gebiete aufzugeben und den Rückzug anzutreten. Lyman wurde von den russischen Truppen nur Stunden später geräumt, nachdem Putin die Annexion der vier besetzten ukrainischen Gebiete Donezk, Luhans, Saporischschja und Cherson verkündet hatte. Die Regionen sind aber nicht komplett in russischer Hand, und die jüngsten Geländegewinne verbuchte die Ukraine vor allem in Donezk und Cherson. Dies setzt Putin unter Zugzwang, weil der damit gedroht hat, russisches Territorium mit allen Mitteln zu verteidigen.
"Für eine gewisse Zeit werden die Dinge nicht einfacher für uns", räumte Wladimir Solowjow ein, einer der prominentesten russischen Fernseh-Moderatoren. "Wir sollten jetzt keine guten Nachrichten erwarten." Ramsan Kadyrow, Präsident der russischen Republik Tschetschenien forderte, den russischen Kommandeur in der Ostukraine zu entehren und an die Front zu schicken. Kadyrow, Putin-Freund und selbst Kommandeur einer Einheit, plädierte zudem dafür, dass Russland nun Nuklearwaffen einsetzen solle. Kreml-Sprecher Dmitry Peskow kommentierte die Einlassungen Kadyrows schmallippig: "Das ist ein sehr emotionaler Moment."