Im russischen Krieg gegen die Ukraine droht eine neue potenziell gefährliche Eskalation. Kremlchef Wladimir Putin ordnete am vierten Tag der Invasion an, die russischen Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft zu versetzen. Als Grund nannte er „unfreundliche Maßnahmen“ des Westens gegen Russlands Wirtschaft und „aggressive Statements“ westlicher Staats- und Regierungschefs.
Im Norden Kiews habe die russische Armee laut ukrainischen Angaben versucht, eine Pontonbrücke zu bauen, um den Fluss Irpin zu überqueren. Das schrieb der ukrainische Generalstab in der Nacht zu Montag auf Facebook. Ein weiterer Versuch, die Stadt Irpin kurz vor Kiew zu erobern, sei erfolglos gewesen, hieß es weiter. Die Informationen konnten nicht unabhängig geprüft werden. In den Kampfgebieten war die Lage auch am Tag vier der russischen Invasion unübersichtlich.
In den Metropolen Kiew und Charkiw ist es nach einem Bericht des staatlichen Informationsdienstes der Ukraine am frühen Montagmorgen zu mehreren Explosionen gekommen. Das wurde via Telegram mitgeteilt. Zuvor sei es in der Hauptstadt Kiew mehrere Stunden lang ruhig gewesen, hieß es. Die Informationen ließen sich nicht unabhängig prüfen.
Zuvor hieß es, dass von der Krim aus viele Bomber und Jagdflugzeuge Richtung Ukraine gestartet seien. Die Hauptstadt Kiew, die Städte Mykolajiw und Cherson im Süden sowie Charkiw im Osten sollten zu den Zielen gehören, wie die ukrainische Agentur Unian am Montagmorgen schrieb. Demnach seien auch drei Raketen in Richtung Kiew abgefeuert worden sein. Auch diese Angaben ließen sich nicht unabhängig überprüfen. Auch diese Informationen ließen sich nicht unabhängig prüfen.
Wie der staatliche Informationsdienst der Ukraine am Montagmorgen mitteilte, hat eine Rakete ein Wohnhaus in der ukrainischen Großstadt Tschernihiw getroffen. Tschernihiw liegt unweit der Grenze zu Belarus. Dadurch sei ein Feuer ausgebrochen, wie die Behörde auf Telegram schrieb. Die Informationen lassen sich nicht unabhängig prüfen. Angaben zu Verletzten gab es zunächst nicht.
Ebenfalls kursierten Berichte, dass russische Truppen ihre Bewegungen im Nordwesten Kiews in Richtung der Hauptstadt eingestellt hätten. Die ukrainische Armee schlage dort mit Boden- und Lufttruppen zurück, sagte der Berater des Leiters des Büros des ukrainischen Präsidenten, Olexij Arestowitsch, bei einem Briefing am Sonntagabend laut einer Mitteilung.
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Später am Montagmorgen hieß es laut einem Regierungsvertreter der Ukraine, russische Truppenhätten die Stadt Berdjansk im Süden des Landes erobert. Die am Asowschen Meer gelegene Stadt mit mehr als 100.000 Einwohnern sei am Sonntagabend eingenommen worden, sagte Olexij Arestowitsch, Berater des Büros von Präsident Wolodymyr Selenskyj.
Die Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer, die als ein Hauptziel der russischen Kräfte gilt, „hält durch“, erklärte Arestowitsch.
Auch auf das ebenfalls im Süden gelegene Cherson rückten russische Truppen weiter vor. Auch die Agentur Interfax-Ukraine bestätigte, das russische Truppen von der südukrainischen Stadt Cherson Richtung Mykolajiw vorgerückt seien.
Den russischen Streitkräften schlug nach US-Angaben anhaltend heftiger Widerstand der ukrainischen Truppen entgegen. Russland mache bei seinem Vormarsch zwar landesweit Fortschritte, doch gestalte sich die Invasion zäher und langsamer als es der Kreml erwartet habe, hieß es aus amerikanischen Pentagonkreisen. Dies könne sich aber ändern, da die Russen sich anpassen dürften, sagte eine Gewährsperson im US-Verteidigungsministerium.
Laut Arestowitsch sollen sich am Wochende mehr als 100.000 Reservisten der ukrainischen Armee angeschlossen haben.
Belarus vor möglichem Kriegseintritt
Am Morgen sollen an der belarussisch-ukrainischen Grenze Gespräche zwischen der Ukraine und Russland über eine mögliche Friedenslösung beginnen. Zugleich aber wird darüber spekuliert, dass Russlands Partnerland praktisch zeitgleich mit eigenen Soldaten in den Krieg gegen die Ukraine zieht. Fallschirmjäger sollen den Befehl bekommen haben, am Morgen in die Ukraine zu fliegen, schreibt die ukrainischen Agentur Unian. Dabei hatte der belarussische Präsident Lukaschenko nach Angaben des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj noch am Sonntag versichert, nicht in den Krieg eingreifen zu wollen.
Pentagon: Erbitteter Widerstand der Ukraine
Aus Pentagonkreisen verlautete, neben dem erbitterten ukrainischen Widerstand bremsten Treibstoffengpässe und andere logistische Hürden den russischen Vormarsch. Auch die ukrainische Luftabwehr sei intakt, wenn auch geschwächt. Ein hoher Beamter im Verteidigungsministerium in Washington betonte, dass sich die Lage wieder ändern könne. „Das ist der vierte Tag. Die Russen werden lernen und sich anpassen.“
Ein Vertreter des US-Verteidigungsministeriums sagte, die USA hätten keinen Grund an Putins Anordnung zu zweifeln. Es sei jedoch unklar, wie sie umgesetzt werde. Putins Schritt sei „unnötig, da Russland nie vom Westen oder von der Nato und ganz sicher nicht von der Ukraine bedroht wurde“, betonte der Pentagon-Vertreter. Putins Anordnung drohe zudem die Lage zu eskalieren, weil damit „Mächte in Gang gesetzt werden“, die die Lage im Falle einer Fehleinschätzung „sehr, sehr viel gefährlicher“ machen könnten. Russland verfügt über die größte Atom-Streitmacht der Welt.
Dem Vertreter des Pentagon zufolge könnte Putin zu der Maßnahme gegriffen haben, da die ukrainischen Streitkräfte mithilfe westlicher Waffen den Vormarsch der russischen Truppen weiter behindern. Nach Informationen des US-Verteidigungsministeriums hätten die russischen Truppen die selbstgesteckten Ziele bislang nicht erreicht, was auch an logistischen Problemen liege. „Besonders akut ist dies bei ihrem Vorstoß auf Charkiw“, sagte der Beamte.
Abgesehen von einigen mutmaßlichen Erkundungseinheiten, die in Kiew eindrangen und sich dort Feuergefechte mit den Verteidigern lieferten, bleib die russische Hauptstreitmacht rund 30 Kilometer nördlich der Hauptstadt stehen. „Sie haben nicht erreicht, was sie unserer Meinung nach am vierten Tag erreichen wollten. In vielen Fällen sind sie also hinter dem Zeitplan zurückgeblieben“, sagte der Beamte weiter.
Er wisse jedoch nicht, ob es sich um „Fehler in der Planung“ oder „Versagen in der Ausführung“ handele. Dennoch bekräftigte der Beamte, dass sich das russische Militär anpassen werde und immer noch ein Drittel der 150.000 Mann starken Invasionstruppe an der Grenze warte. „Das ist eine Menge an Kampfkraft“, sagte der Beamte.
Der Beamte sagte, dass die russischen Streitkräfte anscheinend eine Belagerung von Städten planen, die sie nicht schnell erobern konnten, insbesondere von Tschernihiw nordöstlich von Kiew. Damit eine Belagerung erfolgreich sein kann, „wird im Grunde genommen die zivile Infrastruktur angegriffen und die Zivilbevölkerung geschädigt“, sagte der Beamte weiter. „Das ist beunruhigend.“ Der US-Ministeriumsvertreter bezeichnete die mutmaßlichen Pläne als „die Anfänge eines schlechten taktischen Ansatzes der Russen.“
Die Lage in Kiew
Die ukrainische Hauptstadt Kiew steht nach den den Worten ihres Bürgermeisters Vitali Klitschko am Rande einer humanitären Katastrophe. „Wir haben jetzt noch Strom und Wasser und Heizung in unseren Häusern“, sagte er am Sonntag in einem Interview mit der Nachrichtenagentur AP. „Aber die Infrastruktur ist zerstört, um Lebensmittel und Medikamente auszuliefern.“ Klitschko appellierte zugleich an die Welt, die Ukraine geschlossen zu unterstützen. „Wir sind stark.“
Auf die Frage, ob geplant werde, die Zivilbevölkerung zu evakuieren, hielt Klitschko einige Sekunden inne. Dann sagte er: „Wir können das nicht machen, weil alle Wege blockiert sind. Wir sind jetzt umzingelt.“ Diese Angaben konnte die Nachrichtenagentur AP nicht unabhängig bestätigen, zumal am Sonntag eine strikte Ausgangssperre galt.
Klitschko selbst distanzierte sich später von der Einschätzung der Lage. In seinem Telegram-Kanal schrieb er: „Am Abend verbreiteten russische Internetpublikationen unter Berufung auf mich, dass Kiew angeblich umzingelt und die Evakuierung von Menschen unmöglich sei(...) Glaubt nicht Lügen! Vertraut nur Informationen von offiziellen Quellen.“
Im Interview der AP sagte Klitschko auch, er habe eben mit Präsident Wolodymyr Selenskij gesprochen. „Alle fühlen sich nicht so gut.“ Städtische Angestellte seien in einem Schockzustand, „aber nicht niedergeschlagen. Wir zeigen unseren Charakter, unser Wissen, unsere Werte.“ In dem Gespräch bestätigte Klitschko zudem, dass bisher neun Zivilpersonen in Kiew getötet worden seien, darunter ein Kind.
Er sei stolz auf die Haltung der Bürgerinnen und Bürger, sorge sich aber, wie lange sie durchhalten können. In den letzten Tagen hätten sich viele, die ihr Land verteidigen wollten, Männer und Frauen, Waffen an den dafür eingerichteten Verteilstationen abgeholt. Es gibt allerdings auch Bedenken gegen die Bewaffnung von nervösen Menschen mit wenig militärischer Erfahrung angesichts Warnungen vor russischen Saboteuren, die als Polizisten oder Journalisten verkleidet sein könnten.
„Um ehrlich zu sein, wir haben nicht hundertprozentige Kontrolle“, sagte Klitschko. „Wir bauen die territoriale Verteidigung in kurzer Zeit auf – aber das sind patriotische Leute.“ Die Hauptsache sei nun, das Land zu verteidigen.
Klitschko hat ein nächtliches Ausgehverbot in der Stadt mit 2,8 Millionen Einwohnern verhängt, das von Samstag bis Montag 08.00 Uhr Ortszeit verlängert wurde. Der Bürgermeister warnte, jede in den Sperrstunden angetroffene Person ohne Genehmigung werde als Saboteur betrachtet. „Wir jagen diese Leute, und es wird sehr viel einfacher sein, wenn niemand auf der Straße ist“, erklärte er. Sechs russische Saboteure seien in der Nacht zum Sonntag getötet worden.
Google schaltet Infos über Verkehrsdichte aus
Google kündigte an, zum Schutz der ukrainischen Bevölkerung vorübergehend einige Funktionen auszuschalten, die Live-Informationen über die Verkehrsbedingungen und die Verkehrsdichte verschiedener Orte liefern.
Nach Beratungen mit mehreren Organisationen, darunter auch regionalen Behörden, habe man sich für die Maßnahme zum Schutz der ukrainischen Bevölkerung entschieden.
Über Google Maps werden Staus abgebildet, die während des Krieges zur Überwachung russischer und ukrainischer Truppenbewegungen, sowie Fluchtrouten dienen könnten.
Die neusten Zahlen zum Krieg in der Ukraine
Die Verluste der russischen Armee steigen nach ukrainischen Angaben weiter. Seit Beginn des Krieges mit der Ukraine soll die russische Seite einen „Verlust“ von etwa 4500 Soldaten zu verzeichnen haben, wie der ukrainische Generalstab am Sonntagabend auf Facebook erklärte. Außerdem seien Hubschrauber, Panzer und weitere militärische Fahrzeuge zerstört worden. Die Angaben ließen sich nicht von unabhängiger Seite überprüfen.Russland räumte eigene Opfer beim Krieg gegen die Ukraine ein, ohne jedoch Zahlen zu nennen.
Auf der ukrainische Seite sind nach ukrainischen Angaben zufolge 352 ukrainische Zivilisten getötet worden. Unter den Toten seien 14 Kinder, teilte das Innenministerium am Sonntag mit. Demnach wurden bislang 1684 Menschen verletzt, darunter 116 Kinder. Zu Toten und Verwundeten unter den ukrainischen Truppen gab es keine Angaben.
Russland hat erklärt, dass seine Truppen lediglich ukrainische Militäranlagen ins Visier nähmen. Die ukrainische Zivilbevölkerung sei nicht in Gefahr. Zahlen zu Verlusten unter seinen Streitkräften hat Russland bisher nicht genannt. Am Sonntag räumte das russische Verteidigungsministerium aber erstmals ein, dass Soldaten getötet und verwundet worden seien.
Seit Beginn der Kämpfe sind nach UN-Angaben fast 370.000 Menschen aus der Ukraine geflohen. Bis Sonntag hätten die Behörden der Nachbarländer insgesamt mehr als 368.000 Geflüchtete gemeldet, erklärte das UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR). Ein Großteil der Flüchtlinge, fast 200.000 Menschen, hat nach Angaben aus Warschau die Grenze nach Polen überquert.