"Heute wird der härteste Tag"
Die Attacke kommt nicht unerwartet: Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko hat für die Nacht eine Ausgangssperre verhängt. Die Stadtverwaltung rief die Bürger auf, sich in Sicherheit zu bringen. Die U-Bahn-Stationen der Stadt mit etwa 2,8 Millionen Einwohnern dienten als Schutzräume. Von drei Uhr nachts an sei mit Luftangriffen zu rechnen. Eine Stunde später heulen die Sirenen, dann hallen wieder schwere Explosionen durch die ukrainische Hauptstadt, steigen Feuerbälle in den Himmel. Die zweite massive Angriffswelle der russischen Armee mit Raketen, Marschflugkörpern und offenbar auch Kampfjets rollt.
Von "schrecklichen Raketenangriffen auf Kiew" schreibt Außenminister Dmytro Kuleba am frühen Freitagmorgen auf Twitter. "Das letzte Mal, dass unsere Hauptstadt so etwas erlebt hat, war 1941, als sie von Nazi-Deutschland angegriffen wurde." Laut einem Berater des ukrainischen Innenministers haben die ukrainische Streitkräfte ein feindliches Flugzeug über Kiew abgeschossen - auch davon gab es Videoaufnahmen. Es sei in ein Wohnhaus gestürzt und habe dieses in Brand gesetzt. Unklar bleibt zunächst, ob es sich um ein Kampfjet handelt oder eine Drohne.
Nach Angaben des US-Militärs umfasste die erste Angriffswelle der russischen Armee in der Nacht zum Donnerstag mehr als 100 ballistische Raketen kurzer und mittlerer Reichweiten sowie Marschflugkörper und von Kriegsschiffen im Schwarzen Meer abgefeuerte Raketen. Zudem hätten sich etwa 75 Kampfjets und Bomber an Luftangriffen auf die Ukraine beteiligt. Verlässlich Daten über die Angriffe am Freitag lagen zunächst nicht vor.
Das russische Militär fokussiert sich auf die Hauptstadt
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskj kündigt an, ungeachtet der Angriffe und der persönlichen Bedrohung für ihn in Kiew zu bleiben. "Der Feind hat mich zur Zielscheibe Nummer eins erklärt", sagt er in einer Videobotschaft. "Meine Familie ist das Ziel Nummer zwei. Sie wollen die Ukraine politisch zerstören, indem sie das Staatsoberhaupt zerstören." Tatsächlich fokussiert sich das russische Militär augenscheinlich darauf, Kiew einzukreisen. Die Truppen könnten dann versuchen, die Kontrolle über Regierungsinstitutionen zu übernehmen. Präsident Wladimir Putin hatte in seiner Kriegerklärung zu erkennen gegeben, dass er "das Regime in Kiew", wie er sich ausdrückte, stürzen wolle.
Russische Panzerverbände stießen von Belarus aus an beiden Ufern des Dnepr entlang nach Süden auf Kiew vor. Sie waren am Donnerstagnachmittag in die der Sperrzone um das 1986 havarierte Kernkraftwerk Tschernobyl eingerückt, das direkt an der Grenze zur Belarus liegt und nur etwa 80 Kilometer Luftlinie nördlich der Stadtgrenze von Kiew. Die US-Regierung zeigte sich besorgt. Mitarbeiter dort seien Opfer einer "Geiselnahme", sagte die Sprecherin des Weißen Hauses, Jen Psaki, am späten Donnerstagabend in Washington.
"Diese unrechtmäßige und gefährliche Geiselnahme, die routinemäßige Arbeiten zum Erhalt und zur Sicherheit der Atommüll-Einrichtungen aussetzen könnte, ist unglaublich alarmierend und sehr besorgniserregend", sagte Psaki. Auch der Generaldirektor der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) in Wien, Rafael Grossi, zeigte sich in einer Erklärung besorgt. Experten wiesen aber darauf hin, dass eine Freisetzung von Strahlung in größerem Umfang nur zu Erwarten wäre, wenn die Sarkophage über dem havarierten Reaktor zerstört würden. Das wäre nur bei einem gezielten Bombardement wahrscheinlich.
Offenbar sind die russischen Truppen auf dieser Angriffsachse auch schon weiter vorgestoßen. Nach Angaben des ukrainischen Generalstabs gab es heftige Gefechte im Gebiet von Iwankiw, das etwa 40 Kilometer südlich von Tschernobyl liegt und etwa 50 Kilometer nordwestlich der ukrainischen Hauptstadt. Dort hätten sich Fallschirmjäger einer "überwältigenden" Anzahl russischer Truppen entgegengestellt, die mit gepanzerten Fahrzeugen vorrückten. Eine Brücke sei zerstört worden, um ihren weiteren Vormarsch zu stoppen. Die Ukraine rechnet im Laufe dieses Freitags mit Panzerangriffen auf Kiew. "Heute wird der härteste Tag", sagt Anton Heraschtschenko, ein Berater des ukrainischen Innenministers.
Russland ist es noch nicht gelungen, die ukrainische Luftwaffe unschädlich zu machen
Auch um den strategisch wichtigen Flugplatz Hostomel am nordwestlichen Stadtrand von Kiew werde werde gekämpft, teilte der ukrainische Generalstab weiter mit. Ukrainische Truppen hielten dort Stand. Russland hatte am Donnerstag versucht, den Flughafen in einer Luftlandeoperation einzunehmen. Ein Kamerateam des US-Nachrichtensenders CNN hatte dort russische Soldaten gefilmt. Allerdings konnten die ukrainischen Streitkräfte durch die anhaltenden Gefechte offenbar verhindern, dass Russland den Flughafen sichert und größere Verbände in direkte Nähe der Hauptstadt verlegen kann.
Auch ist es Russland, anders als vom Verteidigungsministerium in Moskau gemeldet, bislang offenkundig nicht gelungen, die ukrainische Luftwaffe und die Luftabwehr komplett unschädlich zu machen. Darauf deuten etwa auch Luftangriffe auf den Flughafen der Stadt Riwne im Westen der Ukraine hin. Im Süden von der Krim rückten russische Truppen Dutzende Kilometer vor und kontrollieren vermutlich die Region um Cherson. Im Norden wurden aus dem Gebiet Sumy schwere Kämpfe gemeldet. Insgesamt leisteten die ukrainischen Truppen erheblichen Widerstand.
Präsident Selenskij gab am Donnerstagabend bekannt, es seien 137 ukrainische Soldaten getötet worden. Er ordnete die Generalmobilmachung an. Sie gilt zunächst für 90 Tage und sieht die Einberufung von Wehrpflichtigen und Reservisten vor. Nach Daten des International Institute for Strategic Studies kann die Ukraine etwa 900.000 Reservisten mobilisieren, die in den vergangenen fünf Jahren Wehrdienst geleistet haben.
Unklar ist allerdings, ob die Armee in der Lage ist, sie auszurüsten und im Land zu verlegen. Die Ukraine ist knapp doppelt so groß wie Deutschland, zu Lufttransport in größerem Umfang dürfte die Streitkräfte nicht mehr in der Lage sein. Waffenlieferung, wie sie die Regierung weiter fordert, seien auf dem Landweg aber weiter möglich, sagte der ukrainische Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk.