Bereits zum zweiten Mal in diesem Jahr hat Russland mit einem Truppenaufmarsch in der Nähe der ukrainischen Grenze Befürchtungen über einen bevorstehenden Grossangriff ausgelöst. Anfänglich, Ende Oktober, wirkten die in Washington ertönenden Warnungen noch vage und wurden in Kiew heruntergespielt. Dort hiess es zunächst, man beobachte keine ungewöhnlichen Truppenbewegungen. Doch dies hat sich in den vergangenen Tagen geändert. Auch die ukrainische Regierung wirkt nun in höchstem Masse alarmiert.
Der Leiter des ukrainischen Militärgeheimdienstes, General Kirilo Budanow, äusserte am Wochenende gegenüber der Militärzeitung «Army Times» die Einschätzung, dass sich Russland auf eine Offensive ab Ende Januar oder Anfang Februar vorbereite. Nach Angaben Budanows hat Russland südlich, östlich und nördlich der Ukraine insgesamt 94 000 Militärangehörige in Position gebracht.
Das sind noch nicht ganz so viele wie im April, als Russland unter dem Deckmantel von unangekündigten Militärübungen ein erstes Mal Ängste vor einer Invasion ausgelöst hatte. Berichte und Videos in sozialen Netzwerken deuten aber darauf hin, dass weitere Truppenbewegungen in Richtung ukrainische Grenze im Gange sind.
Verletzlich von drei Seiten
Budanow geht davon aus, dass ein russischer Angriff aus drei Richtungen gleichzeitig erfolgen würde: von Osten aus Russland, von Norden mit einem Vormarsch über weissrussisches Territorium und von Süden über die besetzte Halbinsel Krim sowie mit Landeoperationen vom Schwarzen Meer her. Moskau verfüge in der Region unter anderem über 1200 Panzer, 330 Militärflugzeuge und 1600 Artilleriewaffen.
Einzig die Marine scheint derzeit mit 75 Schiffen im Schwarzen Meer noch deutlich unter ihrem Maximalbestand vom Frühling, als Moskau Kriegsschiffe von der Nordsee, der Ostsee und dem Kaspischen Meer in die Region beordert hatte. Mit der Übung einer Landeoperation an einer Küste der Krim hatte Russland vor einem Monat jedoch ein ominöses Signal gegeben. Die offensiven Fähigkeiten der Flotte sollen offensichtlich verbessert werden.
Auffallend ist, wie sich die Kontakte zwischen den USA und der Ukraine jüngst in geradezu fieberhafter Weise verstärkt haben. Der Vorsitzende der Vereinten Stabschefs der USA, General Mark Milley, sprach in den letzten Tagen gleich zweimal mit dem ukrainischen Armeechef; Verteidigungsminister Lloyd Austin empfing vergangene Woche im Pentagon seinen eben erst ernannten ukrainischen Amtskollegen Olexi Resnikow, nachdem sich kurz vorher bereits die Aussenminister der beiden Länder getroffen hatten. Für die Regierung in Kiew, die oft Mühe hat, in westlichen Hauptstädten Beachtung für ihre Anliegen zu finden, ist das ein ungewöhnliches Mass an Aufmerksamkeit.
Zahlreiche Reservisten aktiviert
Der Anstoss ging diesmal klar von den Amerikanern aus, die geradezu kampagnenartig eine Serie von vertraulichen Warnungen in der Nato-Zentrale und einer Reihe europäischer Hauptstädte deponierten. Zu den Details ihrer geheimdienstlichen Erkenntnisse hält sich die Administration Biden bedeckt. Durchgesickert ist über die Agentur Bloomberg am Wochenende immerhin die Einschätzung, dass der russische Präsident Putin eine Invasion zu Beginn des nächsten Jahres erwägen könnte. Die Hälfte der dafür benötigten Einheiten seien bereits in Stellung.
Bedeutsam sei, dass Moskau auch mehrere zehntausend Reservisten aktiviert hat – in diesem Ausmass eine Premiere seit dem Ende der Sowjetunion. Diese Information bezieht sich vermutlich auf das im August verkündete neue Programm zum eiligen Aufbau einer Reservistenarmee; allein in Südrussland sollen dafür 38 000 Mann herangezogen werden.
Russland stellt die amerikanischen Warnungen als völlig verfehlt hin; bedrohlich sei vielmehr die westliche Militärzusammenarbeit mit der Ukraine. Angriffsabsichten werden in Moskau selbstverständlich dementiert. Offiziell betonen auch die USA, dass sie über Putins Pläne keine Gewissheit hätten. Aussenminister Antony Blinken sagte am Wochenende, er sei über die Absichten des Kremlchefs nicht im Bilde, aber er kenne die Vergangenheit und Putins Drehbuch: Dieses sehe jeweils vor, eine erfundene Provokation der Ukraine oder anderer Länder als Vorwand zu nehmen, um loszuschlagen.
Aus solchen Worten spricht die Befürchtung, dass sich die Amerikaner böse überraschen lassen könnten – wie 2014, bei der handstreichartigen Besetzung der Krim. Blinken war damals ein hoher Beamter im Weissen Haus, sein Chef Biden Vizepräsident. Dass sich Washington entschlossen hat, im Zweifelsfall lieber zu alarmistisch als zu verschlafen aufzutreten, ist auch aus einem weiteren Grund plausibel: Der chaotische Rückzug aus Afghanistan im August wurde weitherum als Zeichen verstanden, dass die USA keinen Appetit auf Militärengagements mehr haben, ihre Kräfte auf die Herausforderung China konzentrieren und notfalls einen Verbündeten wie die Regierung in Kabul im Stich lassen.
Diesem Eindruck entgegenzuwirken, liegt im amerikanischen Interesse. Sollte der Kreml zum Schluss gekommen sein, dass die Ukraine sich auf ihre westlichen Partner nicht verlassen kann, könnte dies verheerende Konsequenzen haben. Umso klareren Rückhalt versucht die Regierung Biden der Führung in Kiew nun zu geben. Blinken sprach kürzlich von Amerikas eisernem Bekenntnis zur territorialen Integrität der Ukraine, eine Wortwahl, die sonst eher für offizielle Verbündete reserviert ist.
Amerikanische Militärhilfe
Wie viel Eindruck solche Rhetorik in Moskau macht, ist eine offene Frage, aber begleitet wird sie durch handfeste Militärhilfe. Kürzlich trafen 80 Tonnen amerikanische Munition in der Ukraine ein, und zwei seit längerem versprochene Küstenwachschiffe der Island-Klasse werden noch diese Woche im Hafen Odessa erwartet und sollen die schwächelnde ukrainische Marine verstärken.
Laut CNN sind noch viel weitreichendere Lieferungen im Gespräch, darunter von Antipanzerwaffen, Stinger-Flugabwehrraketen und Helikoptern. Im Kongress ist derweil ein neues Sanktionspaket in Vorbereitung, das im Fall einer russischen Militäraktion zum Tragen kommen soll. Es nimmt unter anderem die umstrittene Pipeline Nord Stream 2 ins Visier.
Die amerikanischen Befürchtungen, die in Westeuropa nicht im selben Ausmass geteilt werden, sind vor dem Hintergrund einer vielschichtigen Bedrohungslage zu sehen. Russland steht im Verdacht, seine Erdgaslieferungen als Machtinstrument gegenüber Europa einzusetzen und die von Weissrussland inszenierte Migrationskrise an der polnischen Grenze als willkommenen «hybriden Angriff» auf die EU zu betrachten. Hinzu kommen die Konsternation über Russlands Abbruch der Beziehungen zur Nato und eine gewisse Verunsicherung durch den Abgang von Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel, die Putin besser kennt als jeder andere westliche Regierungschef.
Gleichwohl bleibt die Wahrscheinlichkeit eines russischen Angriffs schwierig einzuschätzen. Beunruhigend ist die Tatsache, dass Moskau Truppen nach Westen verlegt hat, die normalerweise in anderen Landesteilen stationiert sind. Dies betrifft Teile der 41. Armee, die nach einem Manöver im September nicht in ihre Kasernen in Sibirien zurückgekehrt sind, ferner Einheiten der 1. Gardepanzerarmee aus Zentralrussland und der 58. Armee aus dem Nordkaukasus.
Angriffspläne oder nur Säbelrasseln?
Gegen einen unmittelbar bevorstehenden Angriff spricht, dass selbst 100 000 Militärangehörige keine überwältigende Streitmacht darstellen. Die Ukraine hat ihre Armee in den letzten Jahren teilweise modernisiert; Russland müsste sich auf schwere Verluste einstellen. Unklar ist auch, was für Putin ein attraktives Kriegsziel wäre. Die blosse Erweiterung der besetzten Gebiete in der Ostukraine brächte nur einen beschränkten Nutzen, eine völlige Unterwerfung des Landes hingegen wäre vermutlich kein realistisches Unterfangen. Im Truppenaufmarsch dürfte der Kreml allerdings ein taugliches Druckmittel sehen, um die Nato abzuschrecken, den Westen zur Respektierung russischer Interessen zu bewegen und Kiew im Streit um die Donbass-Region einzuschüchtern.