Mitte September soll es so weit sein: Ethereum, nach Bitcoin die bekannteste Blockchain, wagt eine fundamentale Umstellung. Experten vergleichen sie gern mit dem Wechseln des Motors eines Flugzeugs in der Luft. Das klingt riskant, so ist es auch.
In diesem Datenzentrum erzeugten Rechner Ethereum. Mit ;der Umstellung verliert es seinen Daseinszweck. Akos Stiller / Bloomberg© Bereitgestellt von Neue Zürcher Zeitung Deutschland
Doch Ethereum hat viel zu gewinnen. Dieser sogenannte Merge (Englisch für «Verschmelzung») wird den Strombedarf von Ethereum um mehr als 99 Prozent reduzieren. Er löst damit auf einen Schlag das am häufigsten angeprangerte Problem von Kryptowährungen: ihr exorbitanter Energieverbrauch.
Die Umstellung hat noch weitere Vorteile: Sie macht die Zeitspanne, in der Transaktionen genehmigt werden, etwas vorhersehbarer. Und sie dient als Basis für weitere Veränderungen im Ethereum-System, die es leistungsfähiger machen sollen. Meldungen, nach denen die Währung durch den Merge bedeutend schneller wird und die Transaktionskosten geringer, stimmen allerdings nicht.
Warum braucht Ethereum im Moment noch so viel Strom?
Egal, ob wir E-Mails oder Geld verschicken, normalerweise wickeln Dienstleister die Sache auf ihren Servern ab. Auf diese zentrale Stelle verzichten Blockchains. Stattdessen kommunizieren die Nutzer direkt miteinander und wickeln die Dienstleistungen dezentral ab. Sie bestätigen untereinander den korrekten Verlauf einer Transaktion.
Eine Blockchain ist wie ein offenes Kontobuch, von dem alle Teilnehmer eine Kopie besitzen. Wenn eine Transaktion stattfindet, müssen alle Teilnehmer ihre Kopie überarbeiten, damit der Stand immer übereinstimmt. Doch wenn viele Transaktionen zugleich passieren, wie kann man sich sicher sein, welche die richtige Version des Kontobuchs ist?
Um sicherzustellen, dass alle Teilnehmer an der korrekten Blockchain arbeiten, und um Betrug zu vermeiden, braucht es Regeln, sogenannte Konsensmechanismen.
Bei Bitcoin und im Moment auch noch bei Ethereum funktioniert das über den sogenannten Proof of Work. Mit «Work» ist die Rechenleistung gemeint, die nötig ist, um in dieser Form von Blockchain Transaktionen zu bestätigen.
Kurz gefasst: Die Rechenleistung wird bei einer Art Lotterie gebraucht. Wer gewinnt, darf in der Blockchain eine Charge an Überweisungen bestätigen und erhält dafür eine Belohnung auf sein Kryptowährungskonto überwiesen. Um sich an dieser Lotterie zu beteiligen, lässt man seinen Computer eine bestimmte Zahl erraten. Diese Rateaufgabe macht eine grosse Rechenleistung erforderlich, wodurch der Computer viel Strom verbraucht.
Die Teilnehmer an diesem Wettlauf nennt man Miner. Wer von ihnen die richtige Zahl zuerst findet, gewinnt. Er bestätigt die Überweisungen und bekommt eine Entlohnung. Dass man Strom investieren muss, um an dieser Lotterie teilzunehmen, soll Betrug vermeiden. Hier ist die Sache im Detail erklärt. Die Logik dahinter ist jedenfalls: Wer gefälschte Transaktionen bestätigt, müsste so viel Rechenleistung aufwenden, dass die Fälschung mehr kosten würde, als durch den Betrug zu gewinnen wäre.
In der neuen Ethereum-Version funktioniert der Schutz gegen Fälschung anders, nämlich über ein digitales Pfand, den sogenannten Stake. Deshalb heisst diese Form des Konsensmechanismus Proof of Stake.
Wie funktioniert der Proof of Stake?
Grundsätzlich werden beim Proof of Stake die Miner durch Validatoren ersetzt. Es sind dann nicht mehr die hohen Kosten, die vom Betrug abhalten, sondern ein in Kryptowährung hinterlegtes Pfand. Dieses wird blockiert, während man sich als Prüfer von Transaktionen betätigt. Man bekommt es mit Belohnung zurück, aber nur, wenn man sich an die Regeln hält. Bei Betrug verliert man es.
Während der Proof of Work nach sehr simplen Prinzipien funktioniert, braucht es beim Proof of Stake ein kompliziertes Regelwerk, damit die Anreizstruktur auch wirklich funktioniert. Es gibt nicht nur einen Weg, diese Regeln zu gestalten, sondern eine ganze Menge verschiedener Versionen. Bereits jetzt setzen viele kleinere Kryptowährungen auf eine davon.
Schon bei der Gründung von Ethereum im Jahr 2015 fanden die Entwickler, dass Proof of Stake im Grunde die bessere Lösung wäre. Sie befanden damals aber, dass die Sache zu schlecht erforscht sei, um ein gutes Produkt anbieten zu können.
Vitalik Buterin erdachte als Teenager Ethereum. Schon ganz am Anfang plante er den Umstieg auf eine energiesparsame Variante ein. ; Chet Strange / Bloomberg© Bereitgestellt von Neue Zürcher Zeitung Deutschland
Der jetzt endlich konkret terminierte Merge war schon seit Jahren angekündigt. Bereits im November 2020 lancierte Ethereum eine parallele Blockchain namens Beacon-Chain, um an dieser alle möglichen Szenarien zu testen. Mehr als 400 000 Validatoren haben sich daran beteiligt. Besonders wichtig ist, auszuschliessen, dass eine böswillige Mehrheit das Netz übernehmen und manipulieren kann, sowie, dass Fehler bei grossen Teilnehmern die Stabilität des Netzes bedrohen.
Um zur Flugzeugmotor-Metapher zurückzukehren: Die Beacon-Chain wäre der neue Motor des Flugzeuges, den man schon mittransportiert und testet, während das Flugzeug noch mit dem alten Proof-of-Work-Motor fliegt. Der Merge ist der Moment, in dem das Flugzeug, also das gesamte Ethereum-System, an den neuen Motor angeschlossen wird. Dann ersetzt die Beacon-Chain die bisherige Ethereum-Blockchain.
Ich besitze Ether – was muss ich jetzt tun?
Nichts. Wer in seiner Krypto-Brieftasche Ether-Anlagen hat oder in Ethereum-basierte digitale Kunstwerke investiert hat, braucht nicht aktiv zu werden. Um die Umstellung kümmern sich die Anbieter der Software-Anwendungen, die auf Ethereum basieren. Diese haben bereits angekündigt, sich am Wechsel zu beteiligen.
Es wurde kein Zeitpunkt der Umstellung festgelegt, sondern eine ungefähre Zahl an Proof-of-Work-Blöcken, die noch generiert werden sollen. Die allermeisten Anwendungen, die Ethereum für Nutzer zugänglich machen, stellen sich dann automatisch auf die neue Blockchain um.
Was bedeutet der Merge für die Miner?
Ohne Proof of Work braucht es keine Ethereum-Miner mehr. Jene, die darauf gesetzt haben, damit Geld zu verdienen, haben einiges zu verlieren. Sie können auch nicht ohne weiteres auf Bitcoin-Mining umsteigen, denn dafür braucht es andere Hardware. Ethereum-Miner nutzen Grafikkarten. Auch der Umstieg zum Validator ist nicht trivial. Das Validieren ist ein ganz anderes Geschäft: Statt um niedrige Strompreise und schnelle Rechner geht es darum, Software erfolgreich zu managen.
So könnte es passieren, dass Miner einfach weiter Proof-of-Work-Ethereum generieren. Das kann ihnen keiner verbieten. Daraus entsteht das Risiko einer Spaltung, eines sogenannten Fork.
Wann droht ein Fork?
Die wichtigsten Nutzer von Ethereum, etwa grosse Firmen und Stablecoins, haben bereits angekündigt, den Wechsel auf Proof of Stake zu vollziehen. Das heisst, sie werden ab dem Merge in ihrem Code auf die neue Blockchain verweisen.
Doch gleich wie Bitcoin ist Ethereum keine zentral organisierte Institution, sondern ein dezentrales Netzwerk. Es gibt keine Instanz, die die alte Ethereum-Blockchain einfach abschalten könnte. Solange Miner neue Blöcke generieren, läuft sie weiter.
Wenn beide Blockchains weiterbetrieben werden, dann spricht man von einem Fork. In der Flugzeugmetapher würde der Fork bedeuten, dass sich das Flugzeug plötzlich verdoppelt und eine Version mit dem alten Motor weiterfliegt und eine andere mit dem neuen. Wer Ether besitzt, besitzt den Betrag dann zwei Mal: in der neuen und in der alten Version.
Was bedeutet ein Fork für die Nutzer?
Dass die Währung in zwei Versionen vorhanden ist, macht die Besitzer nicht doppelt so reich. Sollte es einen Fork geben, werden sich neue Wechselkurse bilden, einen für die neue, einen für die alte Version. Wären wir in einem Markt mit perfekten Informationen, müssten diese beiden Kurse in der Summe den Wert ergeben, den man jetzt für Ether bezahlt. Wie der Markt tatsächlich reagieren wird, ist unklar, Präzedenzfälle gibt es keine.
Der Wirtschaftsprofessor und Krypto-Experte Fabian Schär erwartet keinen substanziellen Fork: «Stand heute deutet alles darauf hin, dass sich bei Ethereum die Proof-of-Stake-Version klar durchsetzen wird. Der Merge hat eine breite Unterstützung bei Nutzern, Entwicklern und Unternehmen.» Es könne aber durchaus vorübergehende Unsicherheiten geben und Alternativversionen in der Form von Forks könnten entstehen, sagt Schär.
Er rät Nutzern, vorsichtig zu sein. «Es handelt sich um eine erhebliche Umstellung an einem laufenden System», so Schär. Insofern sei es ratsam, abzuwarten, bis Klarheit bestehe.
Auch von voreiligen Transaktionen mit abgespalteten Assets rät er ab. «Ein einfacher Fehler kann dazu führen, dass durch eine vermeintlich harmlose Transaktion auf einer geforkten Blockchain sämtliche Versionen des Assets auf allen anderen Blockchain-Versionen ebenfalls transferiert werden und dadurch verlorengehen.»
Wird Bitcoin nachziehen?
Ein erfolgreicher Wechsel bei Ethereum wäre ein Argument für jene, die eine Umstellung von Bitcoin zu Proof of Stake befürworten. Trotzdem ist es unwahrscheinlich, dass sich Bitcoin vom Proof of Work verabschiedet. Ethereum ist als Produkt viel flexibler, von Anfang an wurden Dinge verbessert und neuen Umständen angepasst. Für Bitcoin ist hingegen gerade die Stabilität zentral. Seine oft anarchistisch-libertär angehauchten Fans sehen die Währung als Goldersatz und schätzen die einfachen, klaren Regeln. Eine Umstellung wie bei Ethereum ist also unwahrscheinlich.