Zitat von Gast am 6. Oktober 2023, 06:01 Uhr
Giorgia Meloni: Die Angst vor Italien ist zurück
Giorgia Meloni und Ursula von der Leyen: Italiens Premierministerin geht zunehmend auf Konfrontationskurs zur EU. Foto: REUTERSdata-portal-copyright=© Bereitgestellt von Wirtschaftswoche
Ohne Europa wäre Italien längst am Ende. Doch Premierministerin Meloni geht zunehmend auf Konfrontationskurs und legt einen völlig unrealistischen Haushaltsentwurf vor. Märkte und Partner sind alarmiert.
Für Italiens Premierministerin Giorgia Meloni ist die Entwicklung des Zinsabstands (Spread) zwischen deutschen und italienischen Staatsanleihen wie eine Fieberkurve, die sie ständig im Auge behält. Denn der Spread zeigt das Vertrauen der Märkte in Italien an. Und darum steht es schlecht. Denn die Spread-Fieberkurve ist in den vergangenen Wochen um mehr als 30 Basispunkte auf 200 Punkte gestiegen.
Das bedeutet: Der italienische Staat, private Kreditnehmer und Unternehmen zahlen etwa zwei Prozentpunkte höhere Zinsen als deutsche Kreditnehmer. Für die jüngst ausgegebenen Bonds muss Rom fast fünf Prozent Zinsen blechen. Es wächst die Furcht, dass die Ratingagenturen die ohnehin niedrigen Bewertungen des Landes in den nächsten Wochen herunterstufen, vielleicht auf Ramschanleihenniveau. Der italienische Patient ist zurück.
Eine Planung, die völlig unrealistisch und viel zu optimistisch ist. Und in Wirklichkeit dürften die Zahlen noch viel schlechter ausfallen. Denn die Regierung Meloni hat Wachstumsraten von einem Prozent in diesem und 1,2 Prozent im kommenden Jahr zugrunde gelegt. EU und OECD erwarten für 2024 allenfalls 0,8 Prozent. Auch die eingeplanten Privatisierungserlöse von 20 Milliarden Euro bis 2026 und Ausgabeneinsparungen von zwei Milliarden Euro sind unseriös.
Von Konsolidierung keine Spur
Denn die Ausgaben wachsen weiter, und Italien verstaatlicht munter Unternehmen. Es kommt hinzu: Die Rezession beim wichtigsten italienischen Handelspartner Deutschland wird sich laut Wirtschafts- und Finanzminister Giancarlo Giorgetti, einem der wenigen fach- und sachkundigen Regierungsvertreter, unweigerlich auch in Italien niederschlagen. Damit aber sinken die Steuereinnahmen. Und die hohen Zinsen lassen den Schuldendienst 2024 auf etwa 89 Milliarden Euro wachsen, knapp vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Kreditnachfrage der Unternehmen und Privathaushalte geht zurück.
Die Sorgen über Italien in der internationalen Finanzwelt, aber auch bei der Europäischen Zentralbank (EZB) und der EU in Brüssel, nehmen zu. Die Nervosität steigt. Es zeigt sich nun, dass die hohen Wachstumsraten Italiens in den Jahren 2021 und 2022 nur ein Strohfeuer waren, das befeuert wurde durch die Hilfen des europäischen Wiederaufbauprogramms sowie umfangreiche Bonuszahlungen. Staatshilfe gab es sogar für den Kauf von Möbeln, Fahrrädern oder für Urlaube, vor allem aber von den Hilfen zur ökologischen Sanierung von Gebäuden. Der Staat übernahm die Kosten etwa für den Einbau neuer Fenster, Dämmungen oder Heizungen vollständig und legte sogar noch etwas drauf. Das nutzten vor allem Gutverdiener.
Die Folgen sind noch jahrelang spürbar. Die damit verbundenen Steuergutschriften kosten den Staat vermutlich insgesamt 140 Milliarden Euro: Der Handlungsspielraum der Regierung ist gegen Null gesunken. Giorgetti vergleicht die Maßnahme scherzhaft mit Gutschriften für den Kauf eines Ferrari: „Wenn wir den Kauf eines solchen Autos zu 110 Prozent unterstützen würden, kauften Millionen von Italiener einen und wir hätten einen Wirtschaftsboom. Die Kosten trüge der Staat.“
Italien droht Europa einmal mehr in den Abgrund zu reißen. Carlo Cottarelli, früherer IWF-Ökonom und heute Professor an der renommierten Università Cattolica in Mailand, ist der Meinung, es wäre besser gewesen, Rom wäre „angesichts der Schulden vorsichtiger bei den Ausgaben gewesen“. Die Financial Times ist in Alarmstimmung und sieht einmal mehr Italiens Glaubwürdigkeit unterminiert. Für den mehrmaligen früheren Finanzminister Giulio Tremonti (unter Berlusconi) besteht das Problem nicht im Spread, „sondern in der Monster-Verschuldung“.
Die Sorgen an den Märkten sind so groß, dass erneut das Gespenst einer technischen und überparteilichen Regierung wie von 2011 bis 2013 unter Mario Monti oder 2021/2022 unter Mario Draghi aufgetaucht ist. Ziel: Vertrauen zurückgewinnen. Meloni nimmt das Thema immerhin so ernst, dass sie sich öffentlich dazu äußert. „Das kommt von den üblichen Verdächtigen. Wer soll da in der Regierung sein? Diejenigen, die verantwortlich sind für die hohen Schulden?“, fragt sie sich.
Ohne die politische Unterstützung der Rechtsparteien, die in Umfragen noch immer obenauf sind, ist eine solche Regierung zumindest vorerst nicht vorstellbar. Aber das kann sich auch ändern, wie 2011, als Silvio Berlusconi angesichts eines Spreads von über 500 Basispunkten dem internationalen Druck weichen musste. In Regierungskreisen ist die Rede von einem internationalen Komplott gegen Italien. Tremonti hält das für Quatsch: „Es gibt keinen Komplott. Es gibt nur hohe Schulden.“
Melonis Beitrag zur Malaise
Meloni mag manche Probleme von ihren Vorgängern geerbt haben. Doch die Premierministerin, die in den ersten Monaten ihrer Amtszeit auf internationales Wohlwollen stieß, weil sie gemäßigter auftrat als erwartet, hat auch selbst zu der Lage beigetragen. Bonuszahlungen wurden verlängert. Und für das zusätzliche Defizit von 14 Milliarden Euro, mit dem im Haushalt für 2024 Steuersenkungen und familienpolitische Maßnahmen finanziert werden sollen, ist halt einfach kein Geld da. Um von innenpolitischen Problemen mit ihrem Regierungspartner Matteo Salvini abzulenken, greift sie ausgerechnet Europa an, etwa den italienischen EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni, der die italienischen Interessen zu wenig vertrete. Dabei hat Gentiloni nicht nur nach Ansicht Cottarellis „viele positive Ergebnisse für Italien erreicht, sowohl bei der Diskussion über den künftigen Stabilitätspakt als auch beim Europäischen Wiederaufbauprogramm“, dessen größter Nutznießer Rom mit insgesamt 191,5 Milliarden Euro ist.
Lesen Sie auch: Melonis Honeymoon ist vorbei
Auch gegen die Zinspolitik der EZB und gegen Deutschland wettert Meloni massiv, vor allem im Hinblick auf die Flüchtlingspolitik. Denn Meloni, die im Wahlkampf 2022 versprochen hat, die Flüchtlingszahlen deutlich zu reduzieren, ist zwar mit einer großen Flüchtlingswelle konfrontiert. Doch der Großteil der Ankommenden will gar nicht in Italien bleiben und reist weiter nach Deutschland, das etwa viermal so viele Asylbewerber aufnimmt wie Italien.
Die Angriffe Melonis auf Europa sind auch deshalb unklug, weil Italien von europäischen Hilfen so abhängig ist wie ein Heroinabhängiger von seinen Drogen. Die EZB hat Italien viele Jahre mit Negativzinsen und dem Aufkauf von Staatsanleihen massiv unter die Arme gegriffen. Bankenverbandspräsident Antonio Patuelli wies kürzlich darauf hin, dass die Zinsen ohne den Euro heute viel höher wären und einst bei 19,5 Prozent lagen. Und ohne die Milliarden aus dem europäischen Aufbauprogramm stünde Italien wohl vor dem Offenbarungseid. Dazu kommen Mittel aus anderen europäischen Fonds. Dabei hat die EU stets Nachsicht mit Italien geübt, obwohl das Land die Stabilitätskriterien fast immer gerissen hat und versprochene Reformen etwa des Wettbewerbsrechts (Taxi, Strandbäder) teilweise seit Jahrzehnten nicht umsetzt und Reformen der Justiz und Verwaltung weiter auf sich warten lassen. Doch Rom ist nur zu einem Teil in der Lage, die Mittel aus dem europäischen Aufbauprogramm auszugeben, weil die Verwaltung zu schwerfällig ist und personelle Kapazitäten fehlen – ein Riesenproblem.
Kürzungen? Niente
Die seit Jahren versprochenen Ausgabenkürzungen sind leere Ankündigungen. Und statt zu privatisieren, weitet Meloni den Staatseinfluss aus: Geplant ist, dass sich der Staat am Festnetzgeschäft von Telecom Italia beteiligt und womöglich das seit Jahrzehnten defizitäre Stahlwerk von Taranto, an dem der Staat beteiligt ist, ganz übernimmt. Außerdem erwarb Rom (vor Meloni) mehrheitlich die Autobahngesellschaft Autostrade per l`Italia und die Bank Monte dei Paschi. Die Eingriffsmöglichkeiten bei Unternehmen sind durch sogenannte Golden-Power-Regelungen massiv ausgeweitet worden. „Diese Regierung scheint die Mechanismen der Marktwirtschaft nicht vollständig zu verstehen. Sie verfolgt in mancher Hinsicht eine interventionistische Politik“, meint Cottarelli.
Es kommt hinzu, dass Italien sich als einziges EU-Land weigert, die Reform des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) zu ratifizieren. Statt auf Europa zuzugehen, sucht Meloni den Schulterschluss mit dem ungarischen Autokraten Victor Orban, der polnischen Regierungspartei PiS oder der rechtsradikalen spanischen Vox, während sich Koalitionspartner Salvini demonstrativ mit der französischen Rechtsradikalen Marine Le Pen trifft.
Diese Politik ist etwa nach Ansicht von Lucrezia Reichlin, eine bekannte Ökonomin und Professorin an der London Business School, höchst riskant. „Die Investoren schätzen Spannungen zwischen Italien und Europa gar nicht“, sagt sie. „Man kann nicht Orban unterstützen und gleichzeitig einen gemeinsamen europäischen Haushalt wollen.“
Zwar hat Meloni die Bankenstrafsteuer nach Intervention der EZB weitgehend ausgehöhlt. Aber Rom will von Brüssel noch viel mehr: Der künftige Stabilitätspakt soll „flexibler“ gestaltet werden und „Investitionen“ nicht auf das Defizit angerechnet werden. Nur: Welche Investitionen und in welcher Höhe?
Nach Hochrechnungen des italienischen Wirtschafts- und Finanzministeriums steigen Italiens Schulden ohne Kursänderung aus demografischen Gründen und damit verbundenen höheren Ausgaben für Renten, das Gesundheitswesen und die Pflege bis 2055 auf 180 Prozent. Schon jetzt gibt Rom etwa 16 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Rentenzahlungen aus. Dazu kommen nicht absehbare Kosten, etwa für staatliche Garantien für Unternehmenskredite, die den Staat laut Tremonti im schlimmsten Fall bis zu 300 Milliarden Euro kosten könnten. Cottarelli ist der Auffassung, dass sich „Linke und Rechte in einem Punkt einig sind: Schulden zu senken, hat keine Priorität.“
Solange Europa, das sich einen Konkurs Italiens nicht leisten kann, da mitmacht, kann sich Rom zurücklehnen.